Di 01.12.1998
„Das neue kapitalistische Rußland hat in nur sieben Jahren das erreicht, was der Sowjetunion in 70 Jahren nicht gelang - nämlich das gesamte kapitalistische System in Gefahr zu bringen", so der zynische Kommentar eines britischen Journalisten. Wenn auch der Kapitalismus noch nicht fällt, so schwankt er doch: Nachdem Anfang der 90er Jahre mit dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa der internationale Sieg des Kapitalismus gefeiert worden war, zeigt die jetzige Situation in Rußland deutlich, daß es nicht gelungen ist, auch nur irgendeine Überlegenheit der Marktwirtschaft zu demonstrieren - im Gegenteil.
Totale Krise
Die Krise in Rußland, ist eine auf allen Ebenen: Es gibt mit der Abwertung des Rubels eine Währungskrise, mit dem Zusammenbruch der Börse eine Finanzkrise und mit dem Fehlen von Krediten und Darlehen eine Krise des Kapitalmarktes. Damit nicht genug gibt es eine tödlich ernste Krise in der Realwirtschaft gekoppelt mit Inflation die die Ersparnisse der Mittelklasse zunichte macht. Das alles führt zu einer politischen Krise - weder Staat noch Regierung verfügen in den Augen der Massen noch über Autorität.
Mafiakapitalismus
Die Restauration des Kapitalismus in Rußland ist ein Desaster für die Menschen, v.a. die ArbeiterInnen und BäuerInnen. 40 % der Industrie und damit 100.000e Arbeitsplätze wurden zwischen 1990 und 1998 vernichtet. Das Bruttonationalprodukt ist für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion um 50 % abgefallen.
Hat man einen Job, so bekommt man oft monate- oder sogar jahrelang keinen Lohn ausbezahlt. Ein Viertel aller RussInnen hat nicht mehr als 300 Schilling monatlich zur Verfügung. Offiziell leben mehr als 50 % unter der Armutsgrenze! Sogar im privilegierten Großraum Moskau (80 % aller Auslandsinvestitionen gingen in die Hauptstadt) müssen 80 % aller Lebensmittel und drei Viertel aller Medikamente importiert werden. Allein hier wurden seit der August-Krise 150.000 Menschen entlassen. In einem Fernseh-Interview beschrieb ein Pensionist die ihm offenstehenden Möglichkeiten mit den Worten „nach Hause gehen und mich aufhängen..." Vorausgesetzt, man erreicht das Pensionsalter überhaupt: Die Lebenserwartung eines durchschnittlichen männlichen Russen ist auf 58 Jahre gefallen, in einigen Regionen sogar auf 43!
Die Restauration des Kapitalismus in Rußland ist auf niedrigstem Niveau stehengeblieben. Es ist ein Gangster- und Mafiakapitalismus, indem es einige wenige geschafft haben, die ehemaligen Staatsbetriebe in ihre Hände zu bekommen und die wichtigsten Wirtschaftsbereiche zu kontrollieren, ohne einen Rubel Steuer zu bezahlen.
Ein großer Teil der Gelder des Internationalen Währungsfonds (IWF) verschwanden sofort auf irgendwelchen dubiosen Konten. Einziger noch boomender Wirtschaftssektor ist jener der privaten Sicherheitsdienste. Es regiert ausufernde Korruption. Einflußssphären werden mit Waffengewalt „abgesteckt". Wurden 1992 „nur“ 10 % des Binnenhandels in Naturalien abgeglichen, so sind es heute bereits 50-70 %. Es konnten sich so „Lokalfürsten" etablieren, denen die Bevölkerung für eine minimale Grundversorgung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Ein Auftragsmord ist billig zu haben. Zynische Witze, wie der folgende, beschreiben die Situation oft besser als lange Analysen: „Zwei Auftragskiller stehen in einem Hausflur und warten auf ihr Opfer. Aber es kommt und kommt nicht. Sagt der eine Killer - schon besorgt - zum anderen: ‘Furchtbar, wie unsicher unsere Stadt ist - es wird ihm doch nichts passiert sein...“
Wirtschaftskrise
Ausgelöst vom weltweiten Fall der Rohstoffpreise - über 70 % der Investitionen gingen von 1991-95 in den Rohstoff-Sektor - und von der Asienkrise kam es im August/ September dieses Jahres zu einem Absturz des Rubels. Er verlor 66 % seines Wertes. Damit „gelang“ dem Rubel das, was zuvor schon der indonesischen Währung „gelungen“ war. Mit nur einem Unterschied: Brauchte die indonesische Währung ein Jahr für diesen Wertverfall, so schaffte ihn der Rubel innerhalb von drei (!) Wochen.
Der Zusammenbruch des Rubels bedeutet zum Beispiel für einen Pensionisten in Kaliningrad, der gerade noch 1440,- Schilling monatlich zur Verfügung hatte, daß er jetzt noch über 500,- verfügt. Betroffen von der jetzigen Krise sind auch jene, die es nach der Wende geschafft hatten, in einem westlichen Unternehmen unterzukommen und drei bis vier Mal mehr verdienten als ein/e durchschnittliche/r ArbeiterIn. Auf eine offene Stelle kommen bereits dutzende AnwärterInnen.
Die Inflation betrug im August/ September 150 % und eine Besserung für 1999 ist, vor allem wenn IWF-Mittel ausbleiben, nicht abzusehen. Bis Ende 1998 ist allein die (geplante) Schuldenrückzahlung mindestens doppelt so hoch wie die 25 Mrd $ Steuereinnahmen.
Verstärkt wird die jetzige Krise durch einen gesteigerten Kapitalabfluß in „sichere Märkte“: Der Chef der Zentralbank sagt, daß seit August 5 Milliarden Dollar aus Rußland geflossen sind. In den ersten elf Monaten 1998 ging der Außenhandel um 17 % zurück. Im Moment fließen pro in Rußland investiertem Dollar $ 15 wieder ab. Dazu kommt noch die Flucht innländischen Kapitals in Staatsanleihen, die vom Staat mit hohen Zinsen zurückbezahlt werden müssen - was angesichts fast völlig fehlender Steuereinnahmen schier unmöglich ist.
Ausländische Investoren haben durch die August-Krise schätzungsweise 100 Mrd $ verloren, was als größter jemals dagewesener Verlust von privaten Kreditoren gesehen werden kann. Vergleichsweise sind diese Verluste sechsmal höher als jene durch die Mexiko-Krise 1990. Und diese hat fast zum Zusammenbruch des US-Bankensystems geführt. Angesichts dessen sind die Versuche bürgerlicher Kommentatoren, die Krise als eine nur auf Rußland beschränkte abzutun, in den Bereich der Propaganda zu verweisen.
Und auch wenn das Volumen der russischen Börse vergleichsweise mickrig ist - die Wichtigkeit Rußlands für die Weltwirtschaft kann man zum Beispiel an seinen Ressourcen sehen: Rußland ist der weltgrößte Lieferant von Erdgas, Aluminium, Nickel und Platin und einer der größten von Erdöl, Gold und Diamanten. Und wenn auch z.B. nur 2 % der deutschen Exporte nach Rußland gehen, so ist die westeuropäische Wirtschaft natürlich durch ihre Verflechtungen mit Osteuropa - vor allem aber auch durch die Kredite westlicher Banken an Rußland - von der Rußland-Krise betroffen.
Politische Instabilität
Die Regierung Primakow trat an unter der Prämisse, schleunigst einen Krisen-Bewältigungsplan auszuarbeiten. Doch die Bekanntmachung des - vor allem vom IWF permanent eingeforderten Plans - wird ständig verschoben: Neuester Termin Frühjahr 1999. Innerhalb des Machtzentrums gibt es darüber einen Richtungsstreit: Die „Radikalreformer“ um Gaidar&Co., die mit für die Krise verantwortlich gemacht werden, geraten im Moment ins Hintertreffen. Auch als Reaktion auf den öffentlichen Unmut ist nun mit Jewgenij Primakow jemand an der Regierungsspitze, der verstärkt für einen „sanften“ Weg steht: Nämlich über mehr Staatsintervention die schlimmsten Auswirkungen der Krise abzumildern. Woher das Geld dafür kommen soll, ist ungewiß. Sogar Boris Jelzin war durch die August-Krise gezwungen, die Renationalisierung von 8 Banken (darunter drei der größten) zu veranlassen. Doch jene bürgerlichen Kommentatoren, die rund um den Clinton-Besuch im Herbst eine „Rückkehr zur Kommando-Wirtschaft“ witterten, stiften in erster Linie Verwirrung: Kein politisches Lager - auch nicht Sjuganows KPRF - will eine Wiedereinführung der Planwirtschaft. Es geht einzig und allein darum, ein bißchen mehr zu intervenieren und die Industrie mit staatlichen Mitteln zu erneuern, um sie dann privaten Unternehmern wieder zu geben. Am kapitalistischen Charakter des Staates ändert sich durch diese Maßnahmen nichts.
Hungerwinter
Die Situation spitzt sich für die russischen Bevölkerung durch die besonders schlechte Versorgungslage und den Winter weiter zu: Es gab die schlechteste Ernte seit 1945 (und trotzdem wurde noch im Oktober Getreide exportiert). Bereits im November gab es dutzende Kältetote. Ende November starb ein Lehrer, der sich wegen Nichtbezahlung des Lohns im Hungerstreik befand. Im Osten Rußlands gibt es bei minus 15°C nur 4 Stunden Strom pro Tag. In der durchschnittlichen sibirischen Wohnung hat es trotz Heizens nur 7 bis 8 °C. Das einzige, was im Überfluß vorhanden ist und „wärmt“, ist der Vodka...
Die Wahlen in St. Petersburg werden als Testwahlen gewertet. Ihnen zuvorgegangen war die Ermordung der populären Politikerin Galina Starowoitona. Diese ehemalige Beraterin Jelzins und Freundin der Radikalreformer Gaidar und Tschubais wurde von vielen als integere Alternative zur herrschenden Korruption gesehen. Doch auch ihre Demokratische Partei steht voll im Zeichen der kapitalistischen Restauration. Und bietet somit keine Antworten auf die brennenden sozialen Fragen. Eine echte Alternative kann nur eine Partei sein, die die sofortige Auszahlung der Lohn- und Pensionsrückstände fordert, eine Partei, die dafür eintritt, daß Löhne und Pensionen via Index an die Inflation angeglichen werden und daß Banken und Industrie vergesellschaftet werden, um dem herrschenden Chaos durch eine demokratische Planung der Wirtschaft entgegen zu wirken: mit einem Wort - eine ArbeiterInnenpartei.