Südkorea: drohender Generalstreik beendet Kriegsrecht nach wenigen Stunden

von Serge Jordan (Projekt für eine revolutionäre marxistische Internationale)

Dramatische Ereignisse haben Südkorea in den vergangenen 24 Stunden erschüttert und das Land in eine schwere politische Krise gestürzt. Der rechtsgerichtete Präsident Yoon Suk Yeol verhängte am späten Dienstag das Kriegsrecht, beschuldigte Oppositionsparteien pro-nordkoreanischer Sympathien und versprach, „staatsfeindliche Elemente“ zu beseitigen. Doch dieses verzweifelte autoritäre Manöver schlug spektakulär fehl, als eine Welle der Opposition und der Aufruf zu einem unbefristeten Generalstreik durch die größte Gewerkschaft des Landes ihn dazu zwangen, die Anordnung über Nacht zurückzunehmen.

Yoon, der sein Amt 2022 antrat, sah sich großen Hindernissen bei der Durchsetzung seiner konservativen Agenda gegenüber. Das von der Opposition kontrollierte Parlament, kombiniert mit wachsender gesellschaftlicher Unzufriedenheit, hat seine Ambitionen zunichtegemacht. Seine Partei der Volksmacht (People Power Party) steckt in einer Sackgasse mit der liberalen Oppositionspartei Demokratische Partei (Democratic Party), da beide über den Budgetplan für das nächste Jahr streiten. Seine Zustimmungswerte fielen laut der neuesten Gallup-Umfrage auf fatale 19 %.

Die öffentliche Unzufriedenheit wächst aufgrund einer schwächelnden Wirtschaft, steigender Lebensmittelpreise und Angriffen auf demokratische Rechte. Zudem streiken seit Monaten Tausende Ärzt*innen gegen Regierungspläne, die Zugangsbeschränkungen an medizinischen Fakultäten zu erweitern. Gleichzeitig sah sich Yoon einer Reihe von Skandalen gegenüber und ignorierte arrogant Forderungen nach unabhängigen Ermittlungen zu Korruptionsvorwürfen gegen seine eigene Ehefrau. Dies schürte öffentliche Empörung, die Anfang dieses Jahres so groß wurde, dass eine Petition zu seiner Amtsenthebung die Website des Parlaments vorübergehend lahmlegte.

In diesem Kontext versuchte Yoon, das Kriegsrecht zu verhängen – ein unverhohlener Versuch seine Machtposition zu retten, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und die Opposition zu zerschlagen. Laut der Anordnung wurden alle politischen Aktivitäten verboten, Proteste untersagt und die Medien einer Zensur unterworfen. Der Kommandant des Kriegsrechts, Park An-su, gab folgende Erklärung ab:

„Alle politischen Aktivitäten sind in Südkorea nach der Verhängung des Kriegsrechts am Dienstag verboten, und alle Medien unterliegen der Überwachung durch die Regierung. Alle politischen Aktivitäten, einschließlich derjenigen der National-versammlung, lokaler Räte, politischer Parteien und politischer Vereinigungen sowie Versammlungen und Demonstrationen, sind strikt untersagt. Alle Medien und Publikationen unterliegen der Kontrolle des Kriegsrechtskommandos.“

Die arbeiter*innenfeindliche Natur dieses Schritts wurde weiter deutlich, als das Militär anordnete, dass streikende Ärzt*innen innerhalb von 48 Stunden wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren müssen. In einer grotesken Orwell'schen Verdreh-ung rechtfertigte Yoon diese autoritäre Maßnahme mit der Behauptung, sie diene dazu, die „verfassungsmäßige demokratische Ordnung zu schützen“ und die „Kontinuität eines liberalen Südkoreas zu gewährleisten“. Seine Rhetorik unterstrich nur die schamlose Heuchelei eines Präsidenten, der entschlossen war, genau die demokratischen Prinzipien zu zerstören, die er angeblich verteidigen wollte.

Da nicht sicher war, wohin der Wind wehen würde, wählte das Weiße Haus strategische Zweideutigkeit und erklärte lediglich, dass man die Situation in Südkorea „genau beobachte“. Als wichtiger Verbündeter der USA und zentraler Akteur zur Eindämmung des Einflusses von China und Nordkorea ist die Stabilität Südkoreas für Washington von entscheidender Bedeutung. Über 28.000 US-Soldaten sind dort dauerhaft stationiert, was den strategischen Wert des Landes unterstreicht. Doch die ausweichende Reaktion der US-Regierung, nach einer Phase enger geopolitischer Zusammenarbeit mit Yoon und einer angeblich „gemeinsamen Vision wertebasierter Diplomatie“, entlarvt erneut die hohle Fassade des US-Imperialismus und dessen Anspruch, im globalen Machtkampf gegen China die Demokratie, Menschenrechte und „Rechtsstaatlichkeit“ zu repräsentieren.

Die Erklärung des Kriegsrechts schlägt spektakulär fehl

Präsident Yoon Suk Yeols Versuch, das Kriegsrecht durchzusetzen, scheiterte in atemberaubender Geschwindigkeit und offenbarte die Fragilität seiner Herrschaft. Dieser Schritt erwies sich als katastrophale Fehleinschätzung, da ihm die dafür notwendige Basis fehlte. Diktatorische Maßnahmen berühren in Südkorea einen empfindlichen Nerv im kollektiven Gedächtnis. Das Land litt 18 Jahre unter der Militärdiktatur von Park Chung-hee.

Nach Parks Ermordung im Jahr 1979 entstand eine neue Militärdiktatur unter Chun Doo-hwan – einem Mann, über den Präsident Yoon vor drei Jahren lobende Bemerkungen machte und erklärte, der General habe „in der Politik gut gearbeitet“ - abgesehen von seinem Putsch und der brutalen Niederschlagung von Protesten. Das berüchtigtste Ereignis unter Chuns Herrschaft war der Gwangju-Aufstand im Mai 1980, bei dem das Militär pro-demokratische Proteste brutal niederschlugen und Hunderte, wenn nicht Tausende Zivilist*innen massakrierten. 1987 mobilisierte die Juni-Demokratiebewegung Millionen im ganzen Land und beendete schließlich die Militärherrschaft. Für viele Südkoreaner*innen, insbesondere Ältere, sind die Erinnerungen an die autoritäre Herrschaft und den hart erkämpften Kampf um demokratische Rechte noch lebendig. Die weitverbreitete Angst, dass autoritäre Maßnahmen eine Rückkehr in diese dunklen Zeiten signalisieren könnten, bedeutet, dass jede Einschränkung der Freiheiten – wie Yoons Kriegsrecht – Alarmglocken auslöst.

Die Gegenreaktion kam sofort und war überwältigend: Innerhalb weniger Stunden nach Yoons Ankündigung versammelten sich 190 der 300 Parlamentsmitglieder zu einer Notsitzung und verabschiedeten einen Beschluss zur Aufhebung des Kriegsrechts. Die Abstimmung war einstimmig und schloss sogar 18 Mitglieder von Yoons eigener „Partei der Volksmacht“ ein.

Vor dem Parlament versammelten sich Tausende und skandierten Slogans wie „Hebt das Kriegsrecht auf, schützt die Demokratie“ und „Klagt Präsident Yoon an“, während Polizei und Armee die Eingänge des Gebäudes blockierten. Han Dong-hoon, der Vorsitzende der Regierungspartei selbst, schwor öffentlich, sich der Verhängung des Kriegsrechts zu widersetzen, und erklärte, er werde „an der Seite des Volkes“ stehen.

Der Wendepunkt kam, als der koreanische Gewerkschaftsbund (KCTU), der 1,2 Millionen Arbeitnehmer*innen vertritt, einen unbefristeten Generalstreik ankündigte, bis das Kriegsrecht aufgehoben ist und das Regime von Yoon Suk Yeol zurücktritt. Das Schreckgespenst einer gelähmten Wirtschaft, von Massenprotesten und einer sich ausbreitenden Opposition innerhalb seiner eigenen Partei zwang Yoon zum Einlenken. Am frühen Mittwochmorgen verkündete er die Aufhebung des Kriegsrechts und wies die vor der National-versammlung stationierten Truppen an, in ihre Kasernen zurückzukehren. Die Ankündigung wurde mit Jubel vor dem Parlament aufgenommen.

Die Amtszeit von Yoon ist nur noch eine Frage der Zeit. In einem Leitartikel der konservativen Zeitung Joongang Ilbo hieß es heute Morgen: „Die bisher undenkbare Diskussion über ein Amtsenthebungserfahren gegen den Präsidenten ist nun unvermeidlich geworden.“ Die Opposition hat den Präsidenten zum Rücktritt und zur Anklage wegen Hochverrats aufgefordert und ein Amtsenthebungs-verfahren für den Fall eingeleitet, dass er nicht freiwillig zurücktritt. Innerhalb seiner eigenen Partei haben sich die Brüche vertieft; der Partei-vorsitzende entschuldigte sich in der Öffentlichkeit, forderte die Entlassung des Verteidigungsministers und drägte auf den Rücktritt des gesamten Kabinetts. Es sind Berichte aufgetaucht, wonach Yoons hochrangige Mitarbeiter, darunter sein Stabschef und sein nationaler Sicherheitsberater, ihren Rücktritt angeboten haben, was den Zerfall seiner politischen Basis unterstreicht.

Während dieser Artikel geschrieben wurde, ist die südkoreanische Bevölkerung in noch größerer Zahl wieder zurück auf die Straße und weigert sich, aufzugeben, bis Yoon Suk Yeol weg ist. Einer*m Reporter*in von The Guardians in Seoul zufolge ist „ein schnelles Amtsenthebungsverfahren in aller Munde“. Die KCTU hat unterdessen geschworen, den Generalstreik fortzusetzen, bis der Präsident ganz zurücktritt. Die unglückliche Verhängung des Kriegsrechts durch Yoon hat nicht nur das wahrscheinliche Ende seiner Präsidentschaft beschleunigt, sondern scheint auch die kollektive Macht der südkoreanischen Arbeiter*innenklasse neu entflammt zu haben. Die durch diesen Kampf erzeugte Dynamik stellt eine seltene Gelegenheit dar, die ergriffen werden muss, um eine breitere Massenbewegung aufzubauen - nicht nur für das Ende von Yoons Herrschaft, sondern um die tief sitzenden Missstände und Forderungen der südkoreanischen Arbeiter*innen und Jugend anzugehen, einschließlich höherer Löhne, einer Abkehr von der arbeiter*innenfeindlichen Politik und entschlossener Maßnahmen gegen die Epidemie geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt, die sich unter Yoons Regierung verfestigt hat. 

Yoons Versuch, hart durchzugreifen, wurde zwar vereitelt, doch dient er als Warnung: Solange der Kapitalismus fortbesteht sind demokratische Rechte niemals garantiert - ganz zu schweigen von einer echten Demokratie, in der der von der Gesellschaft geschaffene Reichtum nicht mehr von den Konzerneliten monopolisiert und ihr System von der Staatsmacht und ihren politischen Stripenzieher*innen geschützt wird.