Mi 01.11.2000
Jener Teil der öffentlichen “Meinungsbildung”, der sich in TV und “Qualitätszeitungen” abspielt, ist geprägt von einer “Pseudo-Realität”. Und dieser steht eine “reale Realität” gegenüber. Pseudo-Realität ist z.B. Taxi Orange: Hunderttausende fiebern mit der Pseudo-WG mit und solidarisieren sich mit unterschiedlichen Menschen, die versuchen, sich selbst möglichst gut zu inszenieren. Was angesichts der permanenten Beobachtung durch Kameras nur menschlich ist.
Über Probleme wie Einsamkeit oder Angst, keinen Partner und keine Freunde zu finden, oder über die Ängste (“Bin ich schön genug?, Werde ich einmal einen guten Job haben?”) werden schon längst keine guten Jugendsendungen mehr gemacht!
Politiker, die Zugang zu den Massenmedien haben, sprechen so oft es geht vom “kleinen Mann”. Aber die arbeitenden Menschen, die den Reichtum schaffen, sind längst aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Wenn über sie gesprochen wird, dann über “Kostenfaktoren” und “Rationalisierungspotentiale”.
Dieses “dauernd in den Medien erwähnen aber nie wirklich darüber reden” trifft insbesondere Arme, ImmigrantInnen und prekär Beschäftigte. Die von den Medien erzeugte “Pseudo-Realität” hat zwei wesentliche Merkmale:
- Es kommen Wissenschafter- und KünstlerInnen zu Wort, sie sollen aber möglichst wenig Partei für die Betroffenen ergreifen. Bis auf wenige Ausnahmen gelingt diese Strategie leider.
- Diese WissenschafterInnen sollen über Probleme reden, die Betroffen selbst aber kaum.
Beobachtet man/frau die Auseinandersetzung über das Thema “prekäre Beschäftigung”, so trifft dies voll zu. Das Herzerfrischende an Hofers Buch ist, dass diese Herrschaftsstrategie gewollt oder ungewollt durchbrochen wird. Wie schaut es mit dem Einkommen eines Taxi-Fahrers aus? Wer zahlt den “Kutscherhof” im Nobelbezirk? Von “Taxi Orange” werden wir das nie erfahren. Nach der Lektüre von “Arbeit ohne Schutz” kann man/frau sich ausrechnen, dass ein “Kutscherhof” nicht mit dem Einkommen der Pseudo-Taxler bestritten werden kann.
Konrad Hofer lässt Betroffene zu Wort kommen. Ein großer Teil sind Erfahrungsberichte von Hofer, der längere Zeit als Taxler und Zettelverteiler gearbeitet hat. Damit ergreift das Buch – gewollt oder ungewollt – Partei für diese Menschen.
Teil der ArbeiterInnenklasse
Allein durch den Titel “Arbeit ohne Schutz” ist endlich einmal nicht von “prekärer Beschäftigung” die Rede. Manche in der Linken befassen sich mit der Frage, welche Rolle atypisch Beschäftige in der ArbeiterInnenbewegung spielen könnten. Ihnen sei folgendes Zitat einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin eines von einem Ministerium ausgegliederten Instituts ans Herz gelegt: “Oft arbeite ich mehr als 40 Stunden die Woche, fahre wie gesagt nach Brüssel und bin auch sonst im Büro voll integriert, aber die Entlohnung ist viel zu niedrig. Ich komme mir oft wahnsinnig ohnmächtig vor. Ich muss diese unbefriedigende Arbeitssituation einfach hinnehmen. Ich darf mich nicht im Freundeskreis beklagen, um ja keinen Rausschmiß zu riskieren. Meine Zukunft ist ungewiss. Die Ungerechtigkeit möchte ich laut hinausschreien, aber ich darf es aus Vernunftgründen nicht, weil ich sonst selbst diese Arbeit verliere. Ich bin eine ‚freie Mitarbeiterin‘, heißt es. Ich fühle mich aber nicht frei, sondern im Gegenteil ohnmächtig, abhängig und eingesperrt, unmündig und wehrlos”. Das Zitat beweist, dass Betroffene durchaus etwas über ihre Situation zu sagen haben. Ihnen den nötigen Raum in der öffentlichen Debatte zu erkämpfen, wird letztlich unsere Aufgabe sein!