Do 08.04.2010
In der Türkei gibt es ein großes Comeback der Gewerkschafts -und ArbeiterInnenbewegung. Davon hört man bei uns sehr wenig. Von der "Qualitätszeitung" bis zum Privatfernsehen, alle bürgerlichen Medien zeichnen lieber das Bild von der Türkei als rückständige Gesellschaft mit reaktionären ungebildeten Massen. Dieses Bild ist falsch.Tatsächlich könnten viele Kämpfe in der Türkei Vorbild für die österreichische ArbeiterInnenbewegung sein. MigrantInnen aus der Türkei sind heute ein wichtiger Bestandteil der österreichischen ArbeiterInnenklasse. Vor allem TürkInnen und KurdInnen mit linkem Background spielen in manchen Betrieben eine wichtige politische Rolle. Umso bedauerlicher ist es, dass sie in der Gewerkschaftsbewegung komplett unterrepräsentiert sind. In einer neuen linken ArbeiterInnenpartei werden MigrantInnen eine wichtige Rolle spielen. Neben der Erfahrung aus sozialen Bewegungen in Österreich werden die aktuellen Kämpfe in der Türkei ein zentraler Ansatzpunkt sein. Umso wichtiger ist es, aus den Kämpfen in der Türkei zu lernen.
Der Streik der TabakarbeiterInnen des ehemaligen staatlichen Tabakmonopols "TEKEL", ist nur der vorläufige Höhepunkt eines Aufschwungs der sozialen und politischen Kämpfe. Die gewerkschaftliche Tätigkeit nimmt zu. Vor allem in jenen Branchen, die vor dem Einbruch der Wirtschaftskrise stark boomten; etwa bei den Schiffswerften. In der Stadt Tuzla am Marmarameer gab es nach zahlreichen Arbeitsunfällen (2008 waren es 28 , 2009 dann 12) Demonstrationen und Streiks gegen die Leiharbeit und die schlechten Arbeitsbedingungen. Mehrmals wurden die Aktionen mit brutaler Polizeigewalt beendet. Der örtliche Gewerkschaftssekretär Cem Dinc landete zweimal im Gefängnis. Aber nicht nur bei den Werften gärt es. Bei einer kleinen Firma in der Computerbranche streikte die Belegschaft von 2008 auf 2009 über ein Jahr. Berühmt wurde auch Emine Arslan, eine Textil-arbeiterin der Firma Desa aus Istanbul. Sie versuchte gemeinsam mit der Textilgewerkschaft "Demi Is" die drei großen Textilfabriken von Desa zu organisieren. Desa produziert unter anderem die Damenhandtaschen für Prada (eine Pradatasche kostet ca. das Jahreseinkommen einer türkischen Arbeiterin, welche die Tasche näht). Als Emine Arslan ein Gewerkschaftstreffen organisierte, wurde sie entlassen. Sie demonstrierte ab dann jeden Tag vor dem Fabrikstor, bis sie ihren Prozess gegen die Entlassung vor dem Arbeits- und Sozialgericht gewann.
Häufig gibt es Proteste von den von Privatisierungsfolgen betroffenen Belegschaften. Sie gehen bis zu Streiks und Besetzungen, wie bei der Papierfabrik SEKA in Izmit. Die ArbeiterInnen dort konnten durch die Besetzung ihres Betriebes die Privatisierung und die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze verhindern.
Der 1. Mai 2009 steht inzwischen symbolisch für das Wiedererwachen der türkischen ArbeiterInnenbewegung. 2008 wurde die Demonstration am historischen Taksimplatz in Istanbul noch mit Polizeigewalt unterbunden. 2009 konnten GewerkschafterInnen zum ersten Mal seit 32 Jahren den 1. Mai wieder am Taksimplatz feiern.
Im Herbst 2009 fand ein Streiktag im Öffentlichen Dienst gegen gewerkschaftsfeindliche Gesetze aus Zeiten des letzten Militärputschs 1980 statt - auch das ein wichtiges Signal.
Tekel Streik als Wendepunkt
Nach der Privatisierung bei Tekel versprach Premierminister Erdogan die Weiterbeschäftigung der (defacto staatsangestellten) TekelarbeiterInnen in verschiedenen Teilen des öffentlichen Dienstes. Aber statt das Versprechen einzuhalten, sollten die ArbeiterInnen sich dafür entscheiden, unter den Bedingungen eines neuen Gesetztes "C4" zu arbeiten. "C4" bedeutet Arbeitseinsatz in verschiedenen (meist kommunalen) Betrieben mit rund zwei Drittel des alten Tekellohns. Und das für nur zehn Monate im Jahr. Die ArbeiterInnen würden fast die Hälfte weniger verdienen und eine Reihe an sozialen Rechten (etwa eine Abfertigung) verlieren. Daraufhin entbrannte ein langer Arbeitskampf, der unter anderem die Errichtung einer großen Zeltstadt für 77 Tage in der Innenstadt von Anakra bedeutete. Die Zeltstadt versorgte täglich tausende Menschen und war bestens organisiert. Beeindruckend war vor allem der Zusammenhalt von KurdInnen, TürkInnen LarsInnen und TscherkesInnen, sowie religiösen und nichtreligösen ArbeiterInnen. Alle Spaltungen der türkischen ArbeiterInnenklasse wurden während des Arbeitskampfes überwunden. Es gab eine enorme politische Weiterentwicklung. Viele ArbeiterInnen waren vor dem Streik AKP-AnhängerInnen. Die Enttäuschung über die AKP und die Gewerkschaften förderte die Suche nach einer linken politischen Alternative. Außerdem nutzten die ArbeiterInnen in den Zelten die Zeit für Debatten, Aussprachen mit linken Gruppen und zum Lesen. Der Kampf geht immer noch weiter. Schon bald könnten die KollegInnen von Tekel Verstärkung von anderen Teilen der ArbeiterInnenklasse erhalten.
Wirtschaftskrise und Privatisierungswahn
Der Kampf der Tekel-Beschäftigten findet vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftkrise einerseits und einer intensiven Privatisierungswelle in der Türkei in den letzten Jahren andererseits statt.
Zwischen 1985 und 2008 wurden in der Türkei Staatsunternehmen für rund 30 Milliarden Dollar verkauft. 22 Milliarden Dollar der Privatisierungserlöse stammen aus der Zeit seit 2003, wurden also unter der AKP Regierung durchgeführt, die dazu sagte "Wir machen mit vollem Tempo weiter!". Eines der größten Privatisierungsprojekte der letzten Jahre war Tekel. Bis zum Jahr 2003 war Tekel der staatliche Alkohol- und Tabakmonopolist. Nach der Auflösung von Tekel, wurden Stück für Stück zunächst der Alkoholbereich und später große Teile der Tabakindustrie verkauft (an British American Tobacco). Die 12.000 ArbeiterInnen, die jetzt entlassen werden sollten, sind die letzten Staatsbediensteten von einstmals 50.000, die bei Tekel beschäftigt waren.
Nächste größere Privatisierungsprojekte der Regierung betreffen die Zuckerindustrie und die Wasserversorgung. Beim 5. "Weltwasserforum" im März 2009 in Istanbul wurden die Grundsteine für die Privatisierung von Quellen, Flüssen, Seen, Staudämmen und der gesamten Wasserversorgung gelegt. Für die Jahre 2010 und 2011 sind 10 Milliarden türkische Lira aus Privatisierungsgewinnen in den Haushaltsplanungen der Regierung vorgesehen.
Hinzu kommt die wirtschaftliche Situation. Obwohl die AKP-Regierung im Herbst 2008 noch behauptete, die Türkei werde nicht von der Weltwirtschaftskrise betroffen sein, war sie 2009 eines der am stärksten betroffenen Länder überhaupt. Schon im letzten Quartal 2008 rutschte die Türkei erstmals nach 27 Quartalen positiven Wachstums in den Minusbereich (-6,2 %). Im 1. Quartal 2009 dann sank das BIP um 14,3 %, so tief wie seit 1945 nicht mehr. Vor allem die Industrieproduktion ist betroffen. Im Januar 2009 lag die Arbeitslosigkeit bei einem Rekordwert von offiziell 15,5 %. Laut DISK (ein linker Gewerkschaftsverband) lag die wirkliche Arbeitslosigkeit jedoch bei 26 %, wobei nur 5% der Arbeitslosen Geld aus der Arbeitslosenversicherung bezogen. Die Regierung rechnet mit weiteren Massenentlassungen und hat Sparmaßnahmen angekündigt, um das 2009 gestiegene Haushaltsdefizit abzubauen.
*Anmerkung: Dieser Teil des wurde einem Artikel von Neli Tügel (SAV-Berlin) aus der aktuellen Ausgabe von sozialismus.info entnommen
Für eine linke Alternative zu Kemalismus und AKP
Der türkischen ArbeiterInnenklasse fehlt insgesamt eine politische Vertretung - auch das hat der Tekelstreik (erneut) gezeigt. Das bedeutete, dass das Vakuum auf der Linken in kurzer Zeit extrem groß werden wird. Die türkische Linke kämpft mit mehreren Problemen. Es gab auch in der Geschichte nie eine ArbeiterInnenmassenpartei in der die ArbeiterInnenklasse Erfahrungen sammeln hätte können, wie man sich selbstständig organisiert. Bei uns erfüllte diese Funktion z.B. lange Zeit die Sozialdemokratie. Lange definierte sich ein Teil des Kemalismus als soetwas Ähnliches wie eine soziale ArbeiterInnenpartei. Da aber derartige legale Strömungen immer an der längeren oder kürzeren Leine des Militärs hingen, war die türkische Linke stets in legale und illegale Flügel geteilt. Auch beim letzteren, "radikalen" Flügel existieren einige Besonderheiten. Teile der türkischen Gesellschaft sind stark landwirtschaftlich geprägt. Das führte in den 70ern unter radikaleren Teilen zu einer massiven Unterstützung des Maoismus und der Orientierung an China. Auch durch den Militärputsch 1980 - der lange Zeit die legale Aktion fast unmöglich machte - hat sich diese Tendenz verstärkt. Viele traditionelle KP AnhängerInnen wandten sich maoistischen Guerilliabewegungen zu. Die traditionelle radikale Linke zerfiel in unzählige Splittergruppen. Politische Schlussfolgerungen aus der Niederlage gegen das Militär und dem Zusammenbruch des Stalinismus - im Sinne einer genauen Analyse - werden hier bis heute kaum gezogen. So führen nicht wenige den Zusammenbruch des Stalinismus lediglich auf den "Verrat" Gorbatschows zurück. Ein anderer Teil (etwa die ÖDP) orientiert sich an der Europäischen Linken und tritt vorsichtig reformistisch und für eine "vereinte Linke" auf. In der Praxis unterscheiden sich Gruppen wie die ÖDP wenig von den Grünen in Europa. Kaum eine linke Bewegung ist in der Lage, den aufflammenden sozialen Kämpfen eine politische Perspektive zu geben. Im Tekelstreik gab es unzählige Gruppen die mit praktischer (und erwünschter) Hilfe und viel ultralinker Rethorik vor Ort waren. Viele versuchten, AnhängerInnen zu gewinnen. Vorschläge, wie der Tekelstreik zu einem erfolgreichen Ende gebracht hätte werden können, gab es kaum.
Es wird darauf ankommen aus den neuen sozialen Kämpfen eine linke sozialistische Alternative zur Erdogan Regierung aufzubauen. Die soziale Lage und die Vielzahl an Kämpfen zeigt, dass die Zeit dafür überreif ist. Diese sozialistische Linke sollte in Betrieben, Unis, Arbeitsämtern und Wohngebieten demokratisch von unten nach oben aufgebaut sein. Sie muss tagtägliche Probleme aufgreifen, aber auch die Lehren aus der Geschichte ziehen. Solche Komitees und Gruppen hätten die Aufgabe, den Kampf von unten zu organisieren. Sie bräuchten eine antikapitalistische Perspektive und müßten die türkische ArbeiterInnenklasse über nationale bzw. nationalistische Grenzen hin vereinigen.