Impfpflicht?

Die Frage der Impfpflicht ist in vielen Ländern umstritten. Was sagen Sozialist*innen zu dieser sehr heiklen Frage?
Sonja Grusch, Sprecherin der International Socialist Alternative (ISA) in Österreich und geimpft

Große Proteste haben Frankreich und sein Präsidenten Macron erschüttert, der eine Impfpflicht zumindest für Gesundheits- und Pflegepersonal, Feuerwehrleute und eine Reihe anderer Berufsgruppen einführen will. Berichte, wonach landesweit am 7. August ca. 200.000 Menschen an Demonstrationen teilnahmen und 17.000 davon in Paris, zeigen, dass das Thema nicht nur die üblichen Anhänger*innen von kruden Verschwörungstheorien oder Rechtsextreme beunruhigt. Medizinisches Personal, Gewerkschafter*innen und Gelbwesten nahmen aktiv an den Demonstrationen teil. Die Frage der Impfpflicht wird in vielen Ländern debattiert. Was sagen Sozialist*innen zu dieser sehr heiklen Frage?

Wir verteidigen das Recht aller endlich eine Impfung zu bekommen

Wir müssen mit dem Offensichtlichen beginnen: Die große Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten wartet verzweifelt darauf, geimpft zu werden. Nicht einmal in den reichsten Ländern können alle Menschen, die sich impfen lassen wollen, die Impfung erhalten, ganz zu schweigen von den Millionen oder besser gesagt Milliarden Menschen in der neokolonialen Welt. In Brasilien ist weniger als jedeR Fünfte geimpft, in Indien weniger als jedeR Zehnte - beides Länder mit einer dramatischen Sterblichkeitsrate.

Während also die Frage der Impfpflicht von vielen Regierungen, vor allem in den imperialistischen Ländern, als Schlüsselaufgabe im Kampf gegen die Pandemie präsentiert wird, wird der weitaus wichtigeren Frage, wie für alle, die ihn brauchen und wollen Impfstoffe produziert und weltweit verteilt werden können, nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn es nicht gelingt, weltweit eine hohe Durchimpfungsrate zu gewährleisten, erhöht sich das Risiko einer Mutation des Virus, was wiederum dazu führen könnte, dass Covid in den Ländern mit höherem Einkommen resistenter gegen die vorhandenen Impfstoffe wird.

Skepsis weil ein Fehler nach dem anderen gemacht wurde

Wir stehen klar gegen die falschen Behauptungen der extremen Rechten und anderer Strömungen, die wissenschaftliche Beweise ignorieren und behaupten, Impfstoffe seien nicht wirksam. Zumindest in den Industrieländern sind mindestens 14 potenziell tödliche Krankheiten, darunter Polio und Pocken, dank der Impfung nahezu ausgerottet worden.

Gleichzeitig verstehen wir, warum die Skepsis bzw. Zögern und Zweifel an der Impfung in vielen Ländern bereits ein beträchtliches Ausmaß erreicht haben und sich mit berechtigtem Ärger und Misstrauen gegenüber dem herrschenden Establishment und den großen Unternehmen im Allgemeinen vermischen.

Die Politiker*innen haben im letzten Jahr die Notwendigkeit sicherer Arbeitsbedingungen ignoriert, vor allem im unterbesetzten und unterfinanzierten Gesundheitssektor, und jetzt sind es dieselben Politiker*innen, die auf die Impfung drängen. Die völlige Öffnung in Boris Johnsons Großbritannien, die sogar als "Tag der Freiheit" inszeniert wird, ist nur die andere Seite der Medaille der Pläne für eine Impfpflicht in Macrons Frankreich. In Russland, wo die Impfquote sehr niedrig ist, wurden die Unternehmen angewiesen, dafür zu sorgen, dass 80 % der Beschäftigten geimpft sind oder aufgrund einer Infektion Antikörper haben. Denselben Unternehmen wurde das Recht eingeräumt, Beschäftigte die sich weigern, ohne Bezahlung zu kündigen. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz brachte diese Haltung auf den Punkt, als er im Juli erklärte, dass Corona aufgrund des Impfstoffes nun zu einer privaten Angelegenheit geworden sei.

Auf diese Weise versuchen die kapitalistischen Politiker*innen, die Schuld vom strukturellen Versagen ihres Systems bei der Bekämpfung der Pandemie abzulenken, indem sie die Frage zu einer rein individuellen Angelegenheit machen.

In diesem Zusammenhang werden Zwangsimpfungen wahrscheinlich eine erhebliche Gegenreaktion hervorrufen, die das Ziel einer hohen Impfquote noch schwieriger macht.

Profite vor Gesundheit

Vom ersten Tag der Pandemie an versuchten die Regierungen, Schließungen zu verhindern oder deren Umfang einzuschränken, damit die Wirtschaft so weit wie möglich normal funktionieren konnte. Es stimmt zwar, dass im Dienstleistungssektor viele kleine Unternehmen schließen mussten, aber Großunternehmen, viele Büros und die Industrie haben ihre Produktion aufrechterhalten. Eine britische Studie hat gezeigt, dass das Risiko, an Covid zu sterben, für Beschäftigte in der Industrie mehr als viermal so hoch war wie für die übrige Bevölkerung.

Im Laufe des Jahres haben sie es versäumt, kleinere Klassen, eine angemessene Belüftung oder mehr Personal für Bildung und Gesundheit zu organisieren. Sie haben ältere Menschen in privat geführten Pflegeheimen ohne das entsprechende Personal oder die entsprechende Ausstattung sterben lassen. Und diese Serie von Fehlern geht weiter. In vielen Ländern sind sie nicht einmal in der Lage, kostenlose und leicht zugängliche Massentests zu organisieren. In anderen Ländern, in denen es kostenlose Tests gibt, gibt es Vorschläge, diese abzuschaffen, mit dem Argument, dass sich jeder impfen lassen sollte - ein mehr als unverantwortlicher Ansatz angesichts der Tatsache, dass sich einige nicht impfen lassen können oder wollen und dass selbst geimpfte Menschen das Virus verbreiten können!

Nach all diesen und vielen anderen Fehlern und insbesondere aufgrund ihrer Unfähigkeit, einen koordinierten, umfassenden globalen Plan zur Bekämpfung von Covid zu erarbeiten und umzusetzen, erklären die Regierungen nun die Pflichtimpfung als Lösung ihres Problems. Sie verstärken ihre Propaganda und versuchen uns einzureden, dass sie uns zu unserer eigenen Sicherheit impfen lassen wollen, damit wir eine Chance haben, zum "normalen" Leben zurückzukehren. Natürlich fahren wir alle gerne in den Urlaub, besuchen Bars, Kinos oder Partys. Aber das ist nur ein Nebeneffekt im Kalkül der herrschenden Klassen. Ihnen geht es darum, den normalen Produktionsprozess wiederherzustellen, und was noch schlimmer ist, dies so zu tun, dass die nationalen Interessen angesichts der wachsenden internationalen Konkurrenz gestärkt werden.

Gesundheit ist keine individuelle Verantwortung

Im Gegensatz zu Sebastian Kurz und Konsorten sind wir der Meinung, dass jeder Mensch ein Recht auf Gesundheit hat und es in der Verantwortung der Gesellschaft liegt, für eine angemessene Gesundheitsversorgung zu sorgen. Dies kann, insbesondere unter den Bedingungen einer Pandemie, nicht einfach in die Verantwortung des Einzelnen delegiert werden, sondern erfordert ein engagiertes Konzept für die öffentliche Gesundheit mit der Bereitstellung der notwendigen Ressourcen für die Kommunikation über sowie die Prävention und Behandlung des Virus bei der niemand benachteiligt wird und es braucht angesichts des globalen Charakters von Covid eine internationale Zusammenarbeit.

Stattdessen setzen die Regierungen ihren heuchlerischen, geldgierigen Ansatz fort, indem sie das Gesundheitspersonal unter Druck setzen, sich impfen zu lassen, und sie als unverantwortlich darstellen, wenn sie sich weigern. Es sind dieselben Leute, die vor einem Jahr den "Held*innen" applaudierten, aber immer noch nicht bereit sind, Schutzausrüstung, Sicherheit und Löhne für das Personal ausreichend zu finanzieren.

Der Mangel an seriöser Information, an Präventionsmaßnahmen, einschließlich der Bereitstellung von ausreichender Schutzausrüstung, sowie an Impfstoffen ist eine Folge der Funktionsweise des Kapitalismus, oder besser gesagt, er funktioniert nicht richtig. In den letzten Jahrzehnten wurden wichtige Bereiche wie das Gesundheits- und das Bildungswesen zunehmend privatisiert, so dass ihnen die Mittel fehlen und sie überlastet sind.

Während z.B. die Stadt New York 1947 eine riesige Kampagne zur Massenimpfung gegen Pocken organisieren konnte (obwohl sie einige Mängel aufwies) fehlt der Stadt heute sogar die Infrastruktur, um überhaupt zuverlässige Informationen zu verbreiten, geschweige denn das Impfprogramm selbst rechtzeitig durchzuführen. Wo sind heute die öffentlichen Informationskampagnen, die in mehreren Sprachen angeboten werden, um seriöse und leicht verständliche Informationen über das Virus, den Schutz und die Impfung zu geben? Das wäre die Aufgabe eines öffentlichen Gesundheitswesens, zu dem auch Betriebsärzt*innen, Gesundheits- und Sicherheitsausschüsse, Betriebsräte und natürlich die Gewerkschaften selbst gehören. Doch in vielen Ländern wurde dies, abgesehen von den Pressekonferenzen der Regierung, weitgehend den privaten Medien überlassen, darunter so gefährliche Quellen wie Fox News und andere, die Fehlinformationen und Lügen verbreiten.

Die Untätigkeit vieler Gewerkschaftsführungen, die meinten, sich angesichts der Krise einer "nationalen Einheit" unterordnen zu müssen, hat in dieser Situation auch nicht geholfen. Sie halfen mit, die Wirtschaft in Gang zu halten, anstatt für mehr Sicherheit zu kämpfen, notfalls auch mit der Aussetzung der Produktion bei vollem Lohn. Auch das hat zu einer skeptischen Haltung gegenüber Impfungen beigetragen.

Gleichzeitig besteht kein Vertrauen in die Pharmaindustrie - riesige Unternehmen, die mehrfach bewiesen haben, dass sie bereit sind, für ihren Profit buchstäblich über Leichen zu gehen. Dieses Misstrauen beruht auf der Tatsache, dass diese Unternehmen privatwirtschaftlich und gewinnorientiert sind. Die Lösung besteht darin, die Forschung, Herstellung und Verteilung von Medikamenten und Impfstoffen nicht durch private Unternehmen, sondern durch öffentliche und demokratisch kontrollierte Einrichtungen zu organisieren und zu kontrollieren. Das Argument, dass es der private Profit ist, der die Innovation vorantreibt, hat sich als falsch erwiesen, nachdem einer der ersten Impfstoffe von AstraZeneca produziert wurde, der an der Universität Oxford entwickelt wurde. Es gibt viele weitere Beispiele. Unser aller Sicherheit wäre weit besser geschützt und das Vertrauen der Öffentlichkeit in Impfstoffe wäre viel größer, wenn sie für den öffentlichen Bedarf und nicht für den privaten Profit hergestellt würden. Der gesamte Pharmasektor sollte sofort in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle überführt werden. 

Die herrschende Klasse nutzt jede Gelegenheit für ihre Zwecke

Doch als ob die Misserfolge des vergangenen Jahres noch nicht genug wären, wollen Politiker*innen wie Macron die Frage der Impfpflicht auch dazu nutzen, die Rechte der Beschäftigten durch die Hintertür anzugreifen, unter anderem durch Lohnkürzungen und sogar die Aussetzung von Verträgen für ungeimpfte Beschäftigte.

Im Laufe der Jahre haben die französischen Regierungen immer wieder versucht, den Kündigungsschutz zu beschneiden. Einige Versuche waren erfolgreich, viele wurden abgewehrt. Während wir also das Recht auf kostenlose und leicht zugängliche Impfungen für alle fordern, sehen wir auch, wie die herrschende Klasse die Stimmung zugunsten von Impfungen nutzen will, um ihre eigene Agenda voranzutreiben. Die größte französische Gewerkschaft CGT sowie Teile der Gewerkschaft Force Ouvriere unterstützen zwar die Impfung, sind aber gegen eine Impfpflicht und gegen den Einsatz repressiver Maßnahmen, insbesondere am Arbeitsplatz gegen nicht geimpfte Beschäftigte. Sie lehnen zu Recht alle Versuche ab, Beschäftigte zur Überwachung anderer Arbeiter*innen zu zwingen, indem sie kontrollieren, ob diese getestet bzw geimpft sind und sie lehnen alle Versuche der Unternehmen ab sich Zugang zu den Gesundheitsdaten ihrer Beschäftigten zu verschaffen. Die Arbeiter*innen wissen, dass die Firmen diese Informationen benutzen werden, um kranke Beschäftigte zu entlassen, und dass sie die Gesetze für eine Impfpflicht nutzen werden, um jene Beschäftigten, die sie anders nicht loswerden, kündigen zu können.

Die gleiche Gefahr besteht bei den verschiedenen Maßnahmen, die unter dem Vorwand des "Gesundheitsschutzes" zur Kontrolle der Bewegungsfreiheit eingesetzt werden. Die herrschende Klasse hat Corona nicht erfunden, um restriktivere Maßnahmen und Kontrollen einzuführen. Aber sie nutzt jede Gelegenheit, die das Virus bietet, insbesondere in der gegenwärtigen tiefen sozialen, wirtschaftlichen und klimatischen Krise. Sie weiß, dass sie jedes Mittel brauchen wird, um die wachsende Opposition gegen ihre Herrschaft zu bekämpfen. Autoritäre Regime wie in China und Russland setzen bereits Gesichtserkennungssysteme ein, die zur Bekämpfung von Covid eingeführt wurden, um politische Gegner*innen zu identifizieren und zu verhaften, während das Regime in Myanmar die Covid-Krise als Waffe einsetzt, um Gegner*innen des Militärregimes anzugreifen.

Die Impfung muss zwar allen Arbeiter*innen angeboten werden, aber sie darf nicht der Information, Organisierung und Kontrolle durch Unternehmen und ihren Handlanger*innen überlassen werden, sondern das muss von demokratisch gewählten Gremien der Arbeiter*innenklasse selbst erledigt werden.

Kontrolle durch die Arbeiter*innen, nicht durch die Firmen!

Die andere Seite dieser Debatte ist natürlich das Recht der Patient*innen, in einem sicheren Umfeld behandelt zu werden, und von Kolleg*innen, in einem sicheren Umfeld zu arbeiten. Es gibt Beschäftigte, auch im Gesundheitswesen, die entweder nicht geimpft werden wollen oder aus anderen Gründen nicht geimpft werden können. Hier sollten Test obligatorisch sein und die Arbeitsaufgaben neu organisiert werden, damit ein sicheres Umfeld aufrechterhalten werden kann - all das muss von demokratisch gewählten Komitees für die gesundheitliche Sicherheit verwaltet und kontrolliert werden.

Jene arroganten rechtsextremen und bürgerlichen Politiker*innen, die sich gegen die Impfung aussprechen, spiegeln nicht die Sorgen normaler arbeitender Menschen wider. Ihre Haltung gegenüber Kindern basiert beispielsweise auf der Vorstellung, dass Kinder ein Besitz sind, wobei die Eltern volle "Eigentumsrechte" haben - während wir die Rechte der Kinder und ihre Gesundheit als Teil der Gesellschaft verteidigen.

Die herrschenden Eliten haben immer schon die Rechte und die körperliche Autonomie von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse und insbesondere von einigen der am stärksten ausgegrenzten und unterdrückten Sektoren der Arbeiter*innenklasse und der Armen verletzt, zum Beispiel durch Zwangssterilisation. Und genau das nährt eine verständliche Skepsis und muss berücksichtigt werden. Gleichzeitig verstehen wir den Druck derjenigen, die aus Sorge um ihre eigene Sicherheit und die ihrer Angehörigen die Idee der Impfpflicht unterstützen.

Dieser unterschiedliche und widersprüchliche Druck kann nur in entsprechender Weise bewältigt werden, wenn wir verstehen, dass der Staat in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht nur die Interessen der herrschenden Klasse vertritt, sondern letztlich dazu da ist, die Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass Impf- und Testprogramme nicht in den Händen der kapitalistischen Klasse liegen dürfen, sondern von demokratisch gewählten Organen der Arbeiter*innenklasse beschlossen, verwaltet und kontrolliert werden sollten.

Wir sind davon überzeugt, und es gibt viele Beispiele, die unsere Ansicht untermauern, dass die ganz normalen Arbeiter*innen mehr als in der Lage dazu sind, echte Alternativen zu verstehen und zu organisieren. Demokratisch gewählte Komitees aus Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse und Expert*innen könnten nicht nur Pläne für Massentests und die Gewährleistung der Sicherheit, die Bereitstellung von Personal und Ressourcen für den Gesundheitssektor ausarbeiten, sondern auch Informationen frei von unwissenschaftlichen Vorurteilen und Profitinteressen zur Verfügung stellen und verbreiten.

Wenn die Beschäftigten selbst und auf demokratische Weise über die Sicherheit am Arbeitsplatz entscheiden und diese organisieren würden, einschließlich umfassender Diskussionen in Betriebsversammlungen und im Rahmen des allgemeinen Gesundheitswesens, dann gäbe es viel mehr Vertrauen in die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus. Die Menschen hätten nicht das Gefühl, dass sie als Versuchskaninchen benutzt werden, um die Profite von Big Pharma zu steigern, wenn der Sektor unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter*innen verstaatlicht würde. Und, was am wichtigsten ist, das Vertrauen in die Einführung von Impfstoffen wäre größer, da sichere Impfstoffe hergestellt und gerecht verteilt würden.