Fr 01.05.1998
Die politische Situation im Nachkriegsösterreich war durch das „Wirtschaftswunder“ und ein konservatives gesellschaftspolitisches Klima geprägt. Das Märchen von Österreich als erstem Opfer des deutschen Faschismus war eine unumstrittene Lebenslüge der Republik. In den Familien herrschten streng patriachale Strukturen, das Schulsystem war ein elitäres und die Universitäten waren durch konservative und rechtsextreme Burschenschaften beherrscht. Die Arbeitsbedingungen an den völlig veralteten Hochschulen wurden durch einen Boom an Studierenden regelrecht unerträglich.
Ab Anfang der 60er Jahre kam es zu einer Linksentwicklung unter den Jugendlichen: Gewerkschaftsjugend und Sozialistische Jugendorganisationen erhielten Zulauf, 53 Prozent der Jugendlichen ordneten sich tendenziell der SPÖ zu. Die Nachkriegskoalition zwischen ÖVP und SPÖ zerbrach 1966, die SPÖ mußte in die Opposition - viele erwarteten und erhofften sich dadurch eine Wendung der Sozialdemokraten zum Besseren.
Linksentwicklung unter Jugendlichen
Die Jugendorganisationen der Sozialdemokratie waren bis Mitte der 60er in den linken „VSM“ (Verband sozialistischer Mittelschüdler) und den eher rechten „VSStÖ“ - „Verband sozialistischer Studenten“ - gespalten. Ab 1966 - nach erbitterten internen Kämpfen wurde auch der VSStÖ „links“ - und so später mit dem VSM zum wichtigsten Faktor in der österreichischen 68er Bewegung. Die „FÖJ“ (Freie österreichische Jugend), 1945 als „überparteiliche“ KPÖ-Jugendorganisation gegründet, zählte 1967 dennoch mehr als 2000 Mitglieder, der KP-StudentInnenverband VDS (Verband Demokratischer StudentInnen) nur noch 35 Aktivisten. Die Geschichte der österreichischen 68er Bewegung ist zu einem guten Teil, die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen der SPÖ-Bürokratie und den SPÖ-Jugendorgansiationen VSM und VSSTÖ. Die beiden Jugendorganisationen verstanden sich als linke Opposition in der Gesamtpartei. Die entscheidende Niederlage wurde dieser „SPÖ-Linke“ allerdings bereits 1967versetzt, als der als „Parteirechter“ geltende Bruno Kreisky in einer Kampfabstimmung Partei-Vorsitzender wurde.
Antifaschistischer Kampf
Militante Auseindersetzungen mit rechten Schlägern - vor allem vom Ring freiheitlicher Studenten (RFS) - ziehen sich durch die gesamte „68er-Bewegung“. Als Höhepunkt kann der Kampf gegen den rechtsextremen und antisemitischen Ge-schichtsprofessor (und ehemaligem NSDAP-Mitglied) Taras „von“ Borodajkewicz gesehen werden. Eine Demonstration gegen Borodajkewicz am 31. März 1965 wurde von hunderten bewaffneten, rechtsextremen Gegendemonstranten angegriffen. Dabei wurde der Kommunist Ernst Kirchweger von dem polizeibekannten Neonazi Günter Kümel so schwer verletzt, daß er zwei Tage später starb. Borodajkewicz wurde über ein Jahr später - mit Bezügen - pensioniert, Kümel mußte für zehn (!) Monate ins Gefängins. An Ernst Kirchwegers Begräbnis nahmen 18.000 Menschen teil.
Vietnam-Bewegung und betriebliche Kämpfe
Vor allem der imperialistische Krieg der Vereinigten Staaten gegen Vietnam war ein zentraler Anknüpfungspunkt an internationale Bewegungen. Seit 1963 kam es zu regelmäßigen Demonstrationen. Der traditionelle Fackelzug der sozialistischen Jugendorganisationen am Vorabend des 1. Mai, wurde 1967 zum Amerika Haus umgeleitet. Am SPÖ-Maiaufmarsch folgten dann Auseinandersetzungen um USA kritische Transparente. Vor allem die Teilnahme und Zusammenarbeit mit den kommunistischen Jugendorganisationen wurde immer und immer wieder zum Vorwand genommen, um die Parteijugend zu disziplinieren. Der Unmut in VSM und VSSTÖ über die Führung der SPÖ wuchs. Am Nachmittag des 1.Mai 1968 kam es auf einem „Blasmusikfest“ der Wiener SPÖ zu schweren Auseinandersetzungen: Gegen VSSTÖl-Mitglieder die über die Beschäftigungssituation in Wien diskutieren wollten, ließ die Parteiführung brutale Polizeigewalt einsetzen.
Der entscheidende Schwachpunkt der 68er war sicherlich, daß es in keiner Weise gelang sich mit der ArbeiterInnenbewegung zu verbinden. 1965 sollte die ehemalige Waggon- und spätere Flugzeugfabrik Raxwerk in Wiener Neustadt mit Billigung des ÖGB privatisiert werden. Doch die Beschäftigten stimmten mit 398 zu 17 Stimmen gegen die Privatisierung und führten einen Sitzstreik durch. VSStÖ und VSM stellten sich öffentlich auf die Seite der ArbeiterInnen. Weitergehende Aktionen scheiterten aber nicht zuletzt an „Kommunikationsproblemen“. Später gab der VSSTÖ - in völliger Unkenntnis der tatsächlichen Situation - bei einem Werk der Elin sogar einen (erfolglosen) Streikaufruf heraus. Die Reaktion der SPÖ-Führung gegenüber VSSTÖ und VSM war monoton: Subventionssperren, Schiedsgerichte, ... Ein großer Teil des VSSTÖ schrieb die SPÖ zunehmend ab und trennte sich in den folgenden Monaten von ihren Organsationen.
Der Wiener Aktionismus
Ein weiterer Bereich der sich formierenden Widerstandsbewegung war der Bereich der Künstler. Der Wiener Aktionismus war eine der radikalsten künstlerischen Strömungen und provozierte mit aufsehenerregenden Aktionen. Diese wurden vom Staatsapparat mit einer wahren Prozeßlawine „geahndet“. Als Höhepunkt wurde Hermann Nitsch sogar des Mordes (!) verdächtigt! Neue Ausdrucksformen, wie zum Beispiel „Go-In´s“ in bürgerliche Veranstaltungen, brachten den immer breiter werdenden Widerstand gegen Kirche, heuchlerische Sexualmoral, reaktionäres Spießbürgertum und nichtvorhandene Mitsprache zum Ausdruck. Kommunen als alternative Lebensformen wurden gegründet, Diskussionsgruppen schossen wie Pilze aus dem Boden und die Kronen-Zeitung spuckte Gift und Galle.
Warum wurde Österreich nicht Frankreich?
Die Impulse, die zur Radikalisierung der StudentInnenbewegung führten, kamen im Mai 1968 überwiegend aus dem Ausland. In Paris entwickelte sich gerade eine revolutionäre Situation - in Wien streikte geradenoch das „Lycée francais de Vienne“ (Französische Schule) aus Solidarität.
In Deutschland wurden nicht nur Universitäten besetzt, der SDS (Sozialistischer deutscher Studentenverband) organisierte gemeinsam mit der IG-Metall Massendemonstrationen, die sich gegen die Notstandsgesetze richteten. In Wien konnte die Bewegung jedoch niemals auch nur annähernd eine derartige Intensität erreichen. Österreich befand sich im wirtschaftlichen Aufschwung, die SPÖ-Führung verfügte über einen konkurrenzlos hohen Einfluß in der ArbeiterInnenklasse und hielt an der Sozialpartnerschaft fest. Da deshalb Proteste der ArbeiterInnenbewegung weitgehend ausblieben, konnten - sofern sie dazu bereit gewesen wären - die StudentInnen kaum an eine Bewegung anknüpfen, die über universitäre Belange hinausging. Es zeigte sich gerade am Beispiel 1968 deutlich, daß ohne die Aktion der ArbeiterInnenklasse - und ohne Organisation, die diese Aktion leitet und koordiniert - keinerlei radikale Umgestaltung der Gesellschaft möglich ist.
Rolle der KPÖ
Eine zusätzlich negative Rolle spielte die einzige existierende linke Opposition - die KPÖ. In ihr hatte der „Reformflügel“ die Führung übernommen und weckte damit vor allem durch die Ereignisse des Prager Frühlings in der damaligen Tschechoslowakei große Hoffnungen in einen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“. In Prag walzten jedoch wenig später Panzer diese Hoffnung wieder nieder - in der KPÖ gewannen moskauhörige Betonköpfe die Oberhand. Die KPÖ verlor darauf hin jeglichen bundespolitischen Einfluß.
Ernüchterung und Folgen
Nach dem Abflauen der Bewegungen im Ausland kam es auch in Österreich zu Erschöpfungserscheinungen. Der Stimmenanteil der Linken bei den Universitäts-Wahlen 1969 war mit 12,2 Prozent für den VSStÖ und 1% für den KP-nahen Verband demokratischer Studenten gleich geblieben.
Gesellschaftspolitisch folgte jedoch eine Phase der Ernüchterung - viele linke AktivistInnen zogen sich ins Privatleben zurück. Trotzdem: Es kam Anfang der 70er - wie in ganz Europa - zu einer Linksentwicklung, die sich vor allem durch die Regierungsübernahme sozialdemokratischer Parteien ausdrückte. Nicht nur viele soziale und politische Reformen, sondern auch spätere außerparlamentarische Bewegungen, konnten in einem geänderten Klima entstehen, welches die „68er“ sicherlich mit aufbereitet haben. Gerade heute ist es wichtig, an den Widerstandsgeist von 1968 anzuknüpfen, ohne jedoch die Fehler von damals zu wiederholen.