Fr 01.12.2000
In dicken Bücher und unzähligen Artikeln diverser Zeitschriften wird seit Jahren das Ende des "Proletariats" herbeigeschrieben. Die neuen Produktionsformen und der technische Fortschritt sollen die ArbeiterInnen immer weiter durch Maschinen ersetzten. So entstanden und entstehen Visionen, wie z.B. der menschenleeren Fabrik.
Der tatsächliche Hintergedanke ist aber: Gibt es kein Proletariat mehr, braucht es auch keinen Sozialismus und keine störende ArbeiterInnenbewegung. Denn die Theorie des Sozialismus und Kommunismus fußt auf dem Proletariat als jene Kraft, die eine gerechtere - klassenlose - Gesellschaft erkämpfen kann.
Zum Begriff
In seiner "Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945" bezeichnet Willy Krula (bereits verstorbener Theoretiker des ÖGB und SPÖ) den "Proletarier" als den "industriellen Lohnarbeiter im kapitalistischen System". Er schreibt: "Der sich wandelnde Lohnhandwerker wurde Proletarier und blieb Analphabet; ausgebeutet in der Fabrik und rechtlos im Staat."
Im Wesentlichen ist das die allgemeine Definition, die mit Marx und seinen AnhängerInnen verbunden wird, die aber als längst veraltet gilt. Auch Lenin hat häufig diese Definition von Proletariat verwendet. Tatsächlich ist es nicht so einfach. Hätte sich die marxistische Bewegung lediglich auf die IndustriearbeiterInnenschaft orientiert, wären Begriffsbildungen wie Industrieproletariat, städtisches und ländliches Proletariat etc. völlig obsolet bis absurd.
Der Begriff stammt aus dem lateinischen Wort für Kind, Nachkommen - proles. Der Proletarius war im alten Rom der (gemeine, niedrige) Bürger der untersten Klasse und von Steuern und Heeresdienst ausgenommen, weil er im Unterschied zur restlichen freien Bevölkerung völlig vermögenslos war. Der preußische Staatsphilosoph Friedrich Hegel griff diesen Begriff auf und Karl Marx gab ihm in seinen ökonomischen Studien eine exakte wissenschaftliche Definition.
Vom Proletarier, dem lohnabhängigen und werktätigen Individuum (völlig gleich, ob HandelsangestellteR, ChemikerIn, BäckerIn oder Hausfrau), unterschied er das Proletariat. Das Proletariat ist nicht einfach die Gesamtheit aller Lohnabhängigen, also das, was wir als ArbeiterInnenklasse bezeichnen. Dazu wieder Krula:
"Als die Proletarier sich dessen bewusst wurden, dass sie alle in der gleichen Lage waren (unabhängig von ihrer unterschiedlichen Herkunft und Ausbildung, unabhängig davon, ob der eine ein bißchen mehr, der andere ein bißchen weniger verdient, ob der eine arbeitslos ist, der andere nicht), wurden sie zum Proletariat."
Es gibt also eine Gemeinsamkeit, die uns alle zu dem macht, was wir sind, zu Mitgliedern der ArbeiterInnenklasse, zu Proletarierinnen und Proletariern.
Gemeinsam statt einsam
Die meisten von uns kennen die Situation: Wir fühlen uns ungerechtfertigt behandelt - von der Lehrerin, vom Chef, vom Ehemann oder Freund -, fühlen uns aber allein gelassen und zu schwach, um dagegen anzukämpfen. Die Kapitalisten haben ihre Vereinigungen - und: sie haben die Staatsgewalt in ihren Händen oder zumindest auf ihrer Seite.
Geht es um Kündigungen, Gewalt in der Familie oder Repressalien gegen SchülerInnen sind die Herrschenden einig, wofür sie stehen. Die kapitalistische EU, die Koalition zwischen FPÖ und ÖVP, der Internationale Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO), NATO und G7/G8 etc. zeigen "herrschende" Einigkeit. Konkurrenzkampf und Kriege zeigen ungewollte Widersprüche in dieser Einheit.
Immer schon hatten Menschen gewisse Interessenverbände; Vereinigungen, um ihre Interessen gegenüber einer anderen Gruppe durchzusetzen. Die ArbeiterInnen in den Fabriken und den großen Manufakturen mussten sich solche erst erkämpfen. Gewerkschaften waren nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Und auch heute, wo die Gewerkschaften nicht mehr kämpfen und die sozialdemokratischen Parteien vollkommen zur Kapitalistenklasse übergewechselt sind, kämpfen wir für eine gemeinsame Partei und eine Gewerkschaft, die diese Bezeichnung auch verdient.
Und das macht uns zum Proletariat. Der kleine Bauer am Land, der kleine Ladenbesitzer haben nicht primär das gemeinsame Ziel einer radikalen Verkürzung ihrer Arbeitszeit bei vollem Lohn, einer flächendeckenden Lohnerhöhung oder eines Mindestlohnes. Sie sind in erster Linie am Erhalt ihres Unternehmens interessiert und bemerken nicht, dass sie gemeinsame Interessen mit der Billaangestellten, dem LKW-Fahrer oder der Mechanikerin haben.
Die ArbeiterInnenklasse hingegen - oder ArbeiterInnen und Angestellte bzw. "ArbeitnehmerInnen", wie es heute heißt - wird in einen Arbeitsverbund gestellt, in dem alle gleichgeschaltet sind und keine Fabrik, Maschine, Technologie etc. besitzen, also vermögenslos sind, während dem Kreißler sein Betrieb selbst gehört.
Marx bezeichnete dieses Zusammenwachsen der Arbeit als ihre Vergesellschaftung, in der das brutale Abhängigkeitsverhältnis zwischen ArbeiterIn und Kapitalist - von Marx Bourgeois genannt - immer offener zu Tage tritt. Dazu schreibt Lenin gegen Ende seines Buches "Was sind die Volksfreunde": "Dem Arbeiter kann schon nicht mehr verborgen bleiben, dass ihn das Kapital unterdrückt und dass es die Klasse der Bourgeoisie ist, gegen die der Kampf geführt werden muß. Dieser sein Kampf nun, der auf die Behebung der unmittelbaren wirtschaftlichen Nöte, auf die Verbesserung seiner materiellen Lage gerichtet ist, verlangt von den Arbeitern unabweisbar, dass sie sich organisieren, er wird unvermeidlich zu einem Kampf nicht gegen Personen, sondern gegen eine Klasse, gegen diejenige Klasse, die nicht bloß in den Fabriken und Werken, sondern überall die Werktätigen unterdrückt und unterjocht."
Heute werden wir alle von den Kapitalisten bekämpft. Blauschwarz zeigt den Trend deutlich: Diejenigen, die nicht nur Geld haben, sondern auch riesige Unternehmen, Banken und Fabriken, denen ganze Landstriche in Österreich gehören, ziehen uns aus bis zum letzten Hemd. Nebenbei werden alle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte in Frage gestellt. Es wird vom Sparen geredet und gleichzeitig schwelgen Unternehmer, Politker etc. vom Wirtschaftsaufschwung und einem angeblichen Rekordtief der Arbeitslosigkeit - was für ein Hohn!
Neue Beschäftigungsverhältnisse
Noch schwerer haben es Beschäftigte in nicht traditionellen Bereichen und ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen. Auch wenn die Sozialpartnerschaft im Großen seitens der Herrschenden aufgekündigt wurde, haben die mittleren Gewerkschaftsfunktionäre in den Betrieben (v.a. in den großen) auch weiterhin einen starken Einfluss. Hier ist es immer noch möglich, (vorübergehend) gewisse Errungenschaften für die Beschäftigten im Tausch gegen z.B. weitere Flexibilisierungsabkommen oder Stellenabbau zu erreichen.
In einem Call-Center oder einem Copy-Shop beispielsweise gibt es aber meist keine gewerkschaftliche oder sonstige Vertretung. Aber genau jene Beschäftigungsverhältnisse erleben in den letzten Jahren eine extreme Zunahme. Geringfügig Beschäftigungsverhältnisse oder "Arbeit auf Abruf" führen neben anderen zu einer größeren Individualisierung am Arbeitsplatz. Bis heute ist es den Gewerkschaften noch nicht gelungen gerade diese Menschen verstärkt in ihre Strukturen zu integrieren bzw. sie in ihren Kämpfen und Auseinandersetzungen zu unterstützen.
Vor allem Studierende, junge Mütter und andere Teile der so genannten frischen Schichten treten vermehrt in derartige Arbeitsverhältnisse ein und machen dort auch ihre ersten Erfahrungen. Eine der Tatsachen, mit denen die mittlerweile zahlreichen Theorien vom Verschwinden des Proletariats begründet werden. Ein weiterer Bereich, dessen steigende Bedeutung in der derzeitigen Situation als Argument herangezogen wird, ist der Dienstleistungssektor, gemeinsam mit den modernen Fachberufen.
Studierende vs. ArbeiterInnen
Der Fehler in diesen Theorien, wie sie heute von KPÖ, Grünen und SPÖ vertreten werden, liegt im engen Begriff von der Proletarierin oder vom Proletarier als städtischer/m IndustriearbeiterIn. Zu behaupten, eine einigermaßen gutgestellte Chemikerin wäre nicht Teil der ArbeiterInnenklasse, heißt nur, dem Versuch der Spaltung durch die Unternehmer zu unterliegen bzw. nachzugeben.
Der Marxismus begreift die ArbeiterInnenklasse als die von den Produktionsmitteln ausgeschlossene Klasse. Das Vermögen einer Person hängt nicht von ihrem Einkommen ab, sondern vom privaten Besitz an Fabriken, Land und Werkzeugen, etwas, was die postmodernen IdeologInnen der Gegenwart scheinbar schon vergessen haben.
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Faschismus und 2. Weltkrieg konnten viele Reformen erkämpft werden. Das führte zu einem sozialen Aufstieg gewisser Bereiche der ArbeiterInnenklasse und zu Illusionen in den Kapitalismus. Als dann in den 60er und Anfang 70er Jahre Proteste hauptsächlich von Studierenden getragen wurden, wandten sich Teile der "linken Intelligenz" vom Proletariat ab. Die ArbeiterInnenklasse spielte zwar in all diesen Bewegung eine entscheidende Rolle, wurde aber nicht mehr als die vorwärtstreibende Kraft begriffen und z.B. der "revolutionären Spontanität" der Studierenden untergeordnet.
Der Zusammenbruch des Stalinismus
Anfang der 90er Jahre herrschte auf Grund des Zusammenbruchs des Stalinismus in Osteuropa und der UdSSR eine Verwirrung und Konzeptlosigkeit auf der Linken. Die Marginalisierung der Linken in diesen sozialen Bewegungen und die Verbürgerlichung der traditionellen Massenparteien der ArbeiterInnen führte zu einer Stärkung reaktionärer Konzepte, wie jenem der Zivilgesellschaft.
Die Zivilgesellschaft als Ausweg?
Die Zivilgesellschaft ist ein Kind des Neoliberalismus. Der/die Einzelne wird zur EinzelkämpferIn abseits der traditionellen Organisationsformen. Es ist kein Zufall, dass in Wirtschaft und Politik mit fast denselben Begriffen hantiert wird. Denn nicht nur die Worte, sondern auch das Ziel und der Weg dorthin sind einander sehr ähnlich. Der schon “ausgelutschte” Slogan vom “schlanken Staat” ist nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik zuhause.
So wird von zivilgesellschaftlicher Seite dem Verdruss bzw. Misstrauen einer zunehmenden Schicht von ArbeitnehmerInnen gegenüber den Gewerkschaften mit losen Zusammenschlüssen, die meist über einen Themenbereich nicht hinausgehen, geantwortet. Von großen Veränderungen sprechen auch die linken Fürsprecher der Zivilgesellschaft nicht mehr.
Der eigentliche Grundgedanke dahinter ist, die Gesellschaft als eine Summe freier BürgerInnen zu sehen. Damit sollen soziale Unterschiede kaschiert werden. In Wirklichkeit aber ist die Zivilgesellschaft nichts anderes als ein maßgeblicher Teil des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft. Mitbestimmung und Selbstverwaltung statt revolutionärer und unabhängiger Selbstorganisierung, Endinstitutionalisierung (Individuen statt Staat), direkte Demokratie und Partizipation sind nur einige ihrer Kampfbegriffe. So soll z.B. die Illusion in eine direktere Demokratie geschürt werden, in der der/die Einzelne scheinbar mehr Möglichkeiten bekommt auf konkretete Sachverhalte Einfluss zu nehmen.
In der Praxis sieht das dann so aus: Um Armtut zu bekämpfen, kann ich nur sehr wenig Einfluss auf den Wohlfahrtsstaat nehmen und bewegen. Also organisiere ich mich z.B. in der Nachbarschaftshilfe und greife einem betroffenem Nachbarn unter die Arme.
Das Ziel ist es, den Staat aus seiner Verantwortung zu ziehen, oder besser, sich der Kontrolle des Staates zu entziehen, und gleichzeitig die Kosten für soziale Dienste und Wohlfahrt auf ein Minimum zu senken und auf die einzelnen BürgerInnen abzuwälzen. Was erreicht werden soll, ist eine noch effizientere Umverteilung nicht von reich zu arm sondern innerhalb der Beschäftigten - als eine Aufteilung der Armut.
“Nächstenliebe” statt Klassenkampf!
Freiwilligendienste und unbezahlte Hausarbeit werden wieder zur Tugend. So genannte Nichtregierungs- oder nichtprofitablen Organisationen (NGO/NPO) - die in Wirklichkeit zum engen staatlichen und halbstaatlichen Bereich zählen - übernehmen dabei karitative Dienste und Entlasten somit (vordergründig!) den Staat. Billiges Personal statt teure Bürokraten lautet hier die Devise. Finanziert wird das Ganze von staatlichen Subventionen und durch die Großzügigkeit von reichen Wohltätern (oder Sponsoren). Wer sich das nicht leisten kann, wird durch gesellschaftlichen Druck dazu gezwungen, selbst Hand anzulegen und ehrenamtlich in diversen Initiativen mitzuarbeiten.
Das Konzept der Zivilgesellschaft wird nicht nur von irgendwelchen postmodernen AkademikerInnen vertreten. AktivistInnen in der Protestbewegung gegen diese Regierung sehen die Zivilgesellschaft mittlerweile als reale Option, meist aus Konzept- und Alternativlosigkeit. Sie verkennen die zentrale Rolle der werktätigen Bevölkerung, ihrer kollektiven Aktion, die Rolle von Gewerkschaften und einer unabhängigen Partei der ArbeiterInnen und Jugendlichen. Solange die eigenständige Organisierung von Frauen, Studierenden, radikalen Umwelt- bzw. TierschutzaktivistInnen über der Klassenorganisation des Proletariats in einer gemeinsamen Partei steht, werden wir nicht mehr zustandebringen als Donnerstagsdemos, kleine vereinzelte Kampagnen etc.
Als Resultat bleibt eine marginalisierte Linke ohne Basis in der ArbeiterInnenklasse. Die Debatte um die Existenz des Proletariats ist also keine rein Akademische. Auch wenn viele Menschen das Gleiche wollen, eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg, Umweltverschmutzung etc., so bleibt die Frage des Weges offen.
Nicht durch eine Zivilgesellschaft oder Appelle an Politiker und Unternehmer wird diese Welt verändert, sondern nur durch die Organisierung der Betroffenen und dem gemeinsamen Kampf. Dieser findet nicht in irgendwelchen Initiativen statt, sondern im realen Leben - am Arbeitsplatz, in der Schule, auf der Uni oder auch im Kampf um eine existenzsichernde, sinnstieftende Beschäftigung. Und dazu brauchen wir heute, wie gestern eine revolutionäre Partei, die einerseits die verschiedenen Kämpfe für Reformen in sich vereint, aber auf der anderen Seite den Kampf zur Überwindung dieser Gesellschaft hin zu einer Sozialistischen führt und leitet.