ABC des Marxismus: die nationale Frage

Andrea Gasperlmair

Die nationale Frage ist eine der wichtigsten Fragen mit der sich Sozialist*innen beschäftigen müssen. Sie kann unterschiedlich aussehen: Vom Befreiungskampf gegen den israelischen Siedler*innenkolonialismus in Palästina, über die neokoloniale wirtschaftliche Abhängigkeit wie z.B im Kongo, bis hin zu Minderheitenrechten wie für die Kärntner Slowen*innen. Wie kann das Recht auf nationale Selbstbestimmung für alle garantiert werden? Wie können unterdrückte Nationen, wie wir es heute mit Palästina, Kurdistan, Tibet, Kosovo, Ukraine uvm. sehen, mit einem revolutionären Programm zur Befreiung kommen und welche Rolle spielt diese Befreiung im Kampf der gesamten Arbeiter*innenklasse?

Maßgebende Schriften wurden zu dieser Frage schon im Zuge des 1. Weltkrieges verfasst, wie zum Beispiel „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ von Wladimir Lenin.

Zudem unterscheidet sich der Nationalismus von unterdrückten Völkern grundsätzlich von dem rechtsextremen Nationalismus in den westlichen Staaten. Während in den imperialistischen Nationen der Nationalismus immer als Rechtfertigung für ihre Unterdrückung genutzt wurde, haben marginalisierte, unterdrückte oder kolonialisierte Nationen ihre kulturelle Identität und politisches Selbstbestimmungsrecht gegen imperialistische Mächte mit historischem Widerstand verteidigt.

Befreiung oder „Frieden“?

Nationale Unterdrückung ist meistens mit kriegerischer imperialistischer Expansion verbunden. Wenn im Zuge eines Krieges von den Herrschenden über ein Bestreben nach Frieden oder Friedensabkommen gesprochen wird, ist damit das Niederlegen der Waffen gemeint. Doch bringt das wirklich Frieden? Und für wen eigentlich? Natürlich ist ein Waffenstillstand die dringendste erste Forderung. Doch unterdrückte Nationen leiden auch ohne aktiven Krieg unter systematischer Ausbeutung und Armut, Vertreibung, Polizeigewalt und Überwachung. Ein Zurückkehren zum “Status Quo“, ein Stopp des aktiven Mordens, ist das absolute Minimum an Menschlichkeit. Wer wirklichen Frieden will, muss für echte Befreiung kämpfen, also für das Recht aller Völker auf vollständige nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Eine solche Forderung ist keineswegs utopisch, oder „nach der Revolution“ relevant, auch wenn es klar ist, dass die Welt im System des Imperialismus immer in Unterdrücker und Unterdrückte geteilt ist. Im Gegenteil, die sozialistische Revolution ist etwas Fortlaufendes und wird sich gerade in den Befreiungskämpfen und internationalen Solidarität der Arbeiter*innenklasse über Jahre oder Jahrzehnte entfalten. Wie wir mit der Palästina-Solidaritätsbewegung sehen, kommen jetzt schon Millionen Menschen zu Schlußfolgerungen über die Rolle des Westens, Imperialismus und Unterdrückung!

Die Aufgaben von Sozialist*innen

Die Arbeiter*innenklasse in den unterdrückenden Ländern darf sich nicht mit leeren pazifistischen Versprechen eines "friedlichen Kapitalismus" der reformistischen Politiker*innen zufriedengeben. Revolutionär*innen müssen die Frage nach den Grenzen eines Staates aufwerfen, die auf nationaler Unterdrückung und Gewalt beruhen. Sie müssen konsequent gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterdrückten Nationen innerhalb der Grenzen eines bestimmten Staates kämpfen. Genau das bedeutet der Kampf für das Selbstbestimmungsrecht. 

Die Aufgabe von Revolutionär*innen in den unterdrückten Nationen ist es, für die politische und organisatorische Einheit zwischen den Arbeiter*innen der unterdrückten Nation und den Arbeiter*innen der unterdrückenden Nation zu kämpfen und diese aufrechtzuerhalten. Eine solche Einheit ist notwendig für eine unabhängige proletarische Selbstorganisierung und internationale Klassensolidarität. Doch diese Einheit kann, wie zuvor beschrieben, nur unter der Bedingung geschehen: Eine konsequente Ablehnung von nationaler Unterdrückung unter Arbeiter*innen der unterdrückenden Nation.

Der nationale Befreiungskampf gegen eine imperialistische Macht kann unter Umständen von einer anderen Großmacht für ihre ebenfalls imperialistischen Interessen ausgenutzt werden. Dabei müssen Revolutionär*innen klar machen, dass in keine einzige imperialistische Großmacht Vertrauen geschenkt werden darf, auch wenn diese sich vermeintlich als große Verbündete inszeniert (aber z.B. im eigenen Land selbst nationale Minderheiten unterdrückt). Für eine echte und endgültige Befreiung kann nur die internationale Arbeiter*innenklasse kämpfen.

 

 

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