Mo 14.06.2010
Nachbar in Not: Kein anderes Land in Zentraleuropa wurde mehr von der Krise gebeutelt als Ungarn. Geschickt gelang es den Rechtsparteien FIDESZ und JOBBIK schon länger die Proteststimmung rechts zu besetzen und nun die Wahlen fulminant zu gewinnen. Beide setzen auf Ähnliches: Man repräsentiere die „echten“ UngarInnen, die „Anderen“ stehen für die inneren „Fremdkörper“ und äußeren Feinde des Landes. Gemeint sind damit - v.a. vermeintliche - KommunistInnen (besonders die bisher regierende und kollabierte Sozialdemokratie), urbane Liberale (eine eher kleine Gruppe), Roma und Sinti (die von Armut und Arbeitslosigkeit extrem betroffen sind), sowie JüdInnen (also Nachkommen von Überlebenden des Holocaust in Ungarn), welche nun angeblich für den Ausverkauf des Landes verantwortlich seien.
Vor allem die mehr (JOBBIK) oder weniger (FIDESZ) offene Hetze gegen die letzten beiden Gruppen ist beklemmend. Hier wird an die Hetze angeknüpft, die Ungarn in der Zwischenkriegszeit prägte. Nicht zu Unrecht vergleichen KommentatorInnen Orban mit Berlusconi UND dem Diktator Miklas Horthy (1920-1944), der eng mit dem NS-Regime kooperierte, sowie JOBBIK und die schwarzen Uniformen ihrer „Ungarischen Garde“ mit den faschistischen Pfeilkreuzlern, die in den letzten Kriegsmonaten tausende JüdInnen brutal ermordeten. Warum konnten diese Parteien siegen und welche Perspektiven gibt es?
Lebt man mit 450 Euro im Monat “über seine Verhältnisse”?
Ende der 1980er-Jahre wurde Ungarn zum ersten „Reformstaat“. Rekorde bei den ausländischen Investitionen (aber in Folge auch Abflüssen/Gewinnen) ließen den Übergang zum Kapitalismus im hellen Licht voller Schaufenster erscheinen. Privater Konsum wurde mit Fremdwährungskrediten von (u.a. österreichischen) Banken finanziert – lange Zeit ein gutes Geschäft. Das staatliche Pensionssystem und der öffentliche Dienst federten die durch die Privatisierung sinkende Beschäftigung zunächst ab. In anderen Bereichen wurde der Sozialstaat in den letzten 20 Jahren so gut wie abgeschafft. Doch die „verlängerte Werkbank“ des Westens bekam immer mehr Konkurrenz durch die noch billigeren Arbeitskräfte in anderen Staaten. Das System geriet aus den Fugen. Westliche JournalistInnen wurden nicht müde, die ab diesem Zeitpunkt verabsäumten „Reformen“ und damit auf über 80% steigenden Staatsschulden zu beklagen. In dieser fragilen Situation schlug die Wirtschaftskrise wie eine Bombe ein: Bereits 2008 bekam Ungarn von EU und Weltbank eine Finanzspritze von 20 Mrd. Euro, um den Staatsbankrott abzuwenden. Plus dem Auftrag an die sozialdemokratisch geführte Regierung, bei den Ausgaben drastisch zu kürzen. Die Arbeitslosigkeit stieg von 7,5 % vor der Krise auf aktuell 11,4 % (Höchststand seit 16 Jahren). In Folge der Krise wurden die Löhne im öffentlichen Dienst stark gekürzt, der Reallohn sank im Vergleich zu 2008 um 8,3 %, auf einen Durchschnitt von knapp 450 Euro. Durch Inflation und Sinken des Bruttoinlandsprodukts verlor der Forint an Wert und die Zinsen stiegen extrem, oft über 20%. Viele können sich die Zinsen nicht mehr leisten, auch die Lebenshaltungskosten sind in den letzten drei Jahren gestiegen. Die Menschen verlieren ihre Häuser und Wohnungen an die Banken. Doch noch immer lautet die Botschaft der internationalen und europäischen Institutionen, aber auch die der Regierungen: „Ihr lebt auch mit durchschnittlich 450 Euro im Monat über eure Verhältnisse.“
Ungarn heute: Gefahren und Chancen
Das Worst-Case-Szenario: Anfang 2010 gab es 25% mehr Arbeitslose und 30% mehr Firmenpleiten in Ungarn als vor einem Jahr. Die ökonomische und soziale Krise verschärft sich. Die FIDESZ-Regierung setzt im Kern die neoliberale Politik der abgetretenen Regierung fort und zieht Ungarn weiter in den alten Korruptionssumpf. Exakt das war Orbans Politik, als er 1998-2002 an der Macht war. Gleichzeitig versucht FIDESZ, Unmut durch Nationalismus und Antisemitismus zu kanalisieren. Profitieren kann davon JOBBIK, die sich als einzige Opposition präsentiert. Der wachsende Protest auf der Straße wird neuerlich rechts besetzt, diesmal allerdings ausschließlich von JOBBIK und der „Garde“, die durch Anschläge und Märsche auf Roma-Siedlungen die Stimmung anheizt.
Doch dieses Horrorszenario ist – wie schon die bisherige Entwicklung – nicht alternativlos. Der Einzug einer neuen Partei – der Grünen – ins Parlament zeigt, dass es durchaus Menschen gibt, die nicht länger zwischen neoliberaler Sozialdemokratie, FIDESZ und Faschisten wählen wollen. In den letzten Monaten kam auch es zu mehreren Streiks, aber auch zu antifaschistischen Demonstrationen. Die kommende, wahrscheinlich schnelle, „Entzauberung“ der FIDESZ bietet auch Chancen für Linke und Gewerkschaften, Profil zu zeigen und zu gewinnen. Was fehlt, ist eine Partei, die sowohl entschlossen ist, der 2.000-3.000 Personen zählenden „Garde“ entgegenzutreten, als auch eine echte Systemalternative zu jener kapitalistischen Entwicklung anzubieten, die Ungarn in die Sackgasse geführt hat.