Die IV. Internationale nach 1938

Ali Kropf

Als Leo Trotzki am 20. August 1940 von einem Agenten Stalins ermordet wird, ist die IV. Internationale gerade einmal zwei Jahre alt und schon voll in die Kämpfe und Wirren des Zweiten imperialistischen Weltkriegs verwickelt. So ist Trotzki auch nicht das erste Opfer Stalins in den Reihen der IV. Internationale. Eine große Anzahl von RevolutionärInnen und Mitgliedern der "Linken Opposition" werden in den 20er und 30er Jahren von Stalins Geheimpolizei ermordet. Unter ihnen auch Leo Sedow, Trotzkis Sohn, der im Februar 1938 unter mysteriösen Umständen verstirbt und so die Gründung der neuen "Weltpartei des Proletariats" nicht mehr miterleben darf....

Die Internationale und der Weltkrieg

Noch nicht einmal ein Jahr ist vergangen seit der Gründung, als sich eine der Hauptanalysen der neuen Internationale, die des bevorstehenden Weltkrieges, bereits bestätigt hat. Aber mit dem Ausbruch des Krieges sehen sich nun die Kader der neuen Internationale auch einer verschärften Situation gegenübergestellt. In den meisten Staaten ist das gleich zu setzen mit einer Zunahme der staatlichen Repression auf die aufgrund der nur einjährigen Aufbauzeit vielfach nur schwachen nationalen und internationalen Strukturen.
Durch den Vormarsch des deutschen Faschismus, der bald weite Teile Europas kontrolliert, werden immer mehr GenossInnen der neuen Internationale in die Illegalität gedrängt, die Großteils von den Stalinisten beherrscht wird. Es ergibt sich eine Situation der „doppelten“ Verfolgung: Einerseits durch die staatliche bzw. faschistische Repression und anderseits durch die noch immer andauernde und ausufernde TrotzkistInnenhetze der Stalinisten. Nicht selten werden TrotzkistInnen im Untergrund von Stalinisten denunziert und den Faschisten somit ans Messer geliefert.
In den USA formiert sich Anfang der 40er Jahre unter der regen Beteiligung der kommunistischen Partei eine breite „Volksfront“ gegen den deutschen Faschismus. Damit wird der Grundstein für die bis heute andauernde Legende der für die Freiheit und Demokratie kämpfenden USA, im und nach dem Zweiten Weltkrieg, gelegt.
Die SWP, die US-amerikanische Sektion der Internationale, stellt sich in ihrer Arbeit dieser Entwicklung und Regierungspropaganda entgegen und wird wegen ihrer politischen Haltung schließlich auch staatlich verfolgt. Am 27. Oktober 1941 beginnt ein Prozeß in Minneapolis, in dem 28 Mitglieder der SWP angeklagt werden, eine Verschwörung zum gewaltsamen Sturz der Regierung angezettelt und zur Befehlsverweigerung in der Armee aufgerufen zu haben. In Folge werden 18 GenossInnen, unter ihnen auch James P. Cannon, zu bis zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
In Frankreich geben die GenossInnen trotz hoher Verluste durch Verhaftungen und Hinrichtungen, ab August 1940 73 Ausgaben ihrer Zeitung „La Verité“ mit je rund 15.000 Stück Auflage heraus. In Deutschland erscheint die Zeitung „Arbeiter und Soldat“ unter der Regie von Paul Widelin (bis dieser 1944 hingerichtet wird), in Belgien erscheint sowohl eine französische Zeitung, („Lenins Stimme“) mit einer Auflage von 10.000 Stück, wie eine in flämischer Sprache, „Der Klassenkampf“, mit 7.000 Stück. Schließlich wird 1943 das „Europäische Sekretariat“ der IV. Internationale gegründet und im darauffolgenden Jahr im noch von den Deutschen besetzten Frankreich eine sechstägige europäische Konferenz abgehalten. Am Ende wird ein Dokument über die kommenden Auseinandersetzungen nach dem Weltkrieg verabschiedet: „Das Proletariat muß jedes Bündnis mit seiner eigenen Bourgeoisie ablehnen, aber es darf dem Kampf der Massen gegen die Unterdrückung durch den deutschen Imperialismus nicht gleichgültig gegenüberstehen. (...) Man muß im Gegenteil alles daran setzen, die Keimformen der Arbeitermacht (Milizen, Komitees usw.) zu entwickeln und gleichzeitig einen energischen Kampf gegen alle Formen des Nationalismus führen.“
Dabei darf natürlich die Arbeit der GenossInnen in Indien, Ceylon (heutiges Sri Lanka), Vietnam, Palästina, Uruguay und Ägypten nicht vergessen werden, die den Krieg mit einem Kampf gegen die direkte Kolonialherrschaft und für eine sozialistische Revolution verbanden. Von der britischen Regierung 1944 vor ein Kolonialgericht gezerrt, benutzen zwei führende Genossen aus Ceylon, Pereira und Gunawardene, die so erworbene Öffentlichkeit, um eine Erklärung gegen den Imperialismus abzugeben. Darin heißt es u.a.: „Das Recht der Briten, unser Volk zu beherrschen, ist nicht mehr wert, als das Recht der Nazis, über die Völker von Dänemark und Norwegen zu bestimmen, oder das Recht der japanischen Imperialisten, Formosa und Java zu beherrschen. Keinen Deut mehr!“

Beginn eines Desasters

Bereits noch während des Zweiten Weltkriegs zeigen sich erste große Spannungen innerhalb der Internationale. Eine Gruppe emigrierter deutscher GenossInnen fordert in ihren Schriften eine Verschiebung der Gewichtung weg vom Sozialismus hin zur Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit der europäischen Staaten. Sie vertreten die These, daß durch den Faschismus das Rad der Zeit ins Mittelalter zurückgedreht wurde und man somit auch dort wieder ansetzen müsse. Daher wäre der erste logische Schritt, den Kampf für die nationale Unabhängigkeit wieder zu führen. „Und das durch den Rückschritt bereitgestellte unerläßliche Mittel zur Lösung der Weltkrise des Kapitalismus und Sozialismus - ein Mittel, nach dem die Revolutionäre nur die Hand ausstrecken müssen,  heißt: nationale Freiheit.“ Diese politische „Tendenz“ hält sich noch bis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Internationale, die schließlich Unterstützung durch die US-Führungsgenossen Felix Morrow und Albert Goldman erhält. Aber mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der Entstehung der Ostblockstaaten und schließlich dem Beginn des Korea-Krieges bahnen sich bereits größere Auseinandersetzungen an.

„Revolutionärer Stalinismus“?

Nach längerer Orientierungslosigkeit  analysiert die Führung der Internationale schließlich 1949 die Existenz neuer bürokratischer ArbeiterInnenstaaten, nachdem man vor allem an die jugoslawische und chinesische Frage zu „optimistisch“ - Tito und Mao wurden unter anderem auch zu „unbewußten Trotzkisten“ hochstilisiert - herangegangen ist. Von dieser Tatsache ausgehend gelangt in Folge eine Gruppe von führenden Mitgliedern der Internationale, Michel „Pablo“ Raptis und Ernest „Germain“ Mandel, zu der folgenschweren Einschätzung der „revolutionären Rolle des Stalinismus“. „Beeindruckt“ von der Entstehung der neuen - bürokratisch deformierten - ArbeiterInnenstaaten, sieht diese Gruppe im Stalinismus nun eine Art „Geburtshelfer des Sozialismus“.
Dazu schreibt Pablo im Internationalen Informationsbulletin der SWP im Dezember 1949 Folgendes: „...werden wir es dennoch in der gesamten historischen Periode des Übergangs vom Kaptialismus zum Sozialismus, die Jahrhunderte andauern kann, mit einer weitaus gewundeneren und komplizierteren Entwicklung der Revolution zu tun haben, als unsere Lehrer annahmen - nicht mit normalen Arbeiterstaaten, sondern mit Arbeiterstaaten, die von Natur aus deformiert sind.“ Diese These wirft die ganze bisherige Einschätzung bezüglich des Stalinismus über den Haufen und verursacht einen Aufschrei in der gesamten Internationale.
Die Auseinandersetzungen und die entstehende Krise innerhalb der IV. Internationale breitet sich aber mit dem Ausbruch des Korea-Krieges und den damit verbundenen Analysen weiter aus. Die Pablo-Mandel Gruppe sieht in diesem Konflikt den Beginn eines neuen Weltkrieges zwischen den USA und der Sowjetunion.
Unter der fixen Vorstellung eines neuerlichen Weltkriegs wird eine Analyse verabschiedet, die unter dem Begriff „Kriegsrevolution“ einigermaßen bekannt wird: Der durch den Korea-Krieg ausgelöste neue Weltkrieg soll dieser Theorie zufolge direkt in einen weltweiten Bürgerkrieg führen, in dessen Verlauf die Moskauer Bürokratie gezwungen wäre, soziale Revolutionen zu unterstützen - daher das Schlagwort „Kriegsrevolution“. Aber auch diese Theorie steht in Widerspruch zu den bisherigen Standpunkten der Internationale, die davon ausgehen, daß die „Weltrevolution“ nur das Werk des „Weltproletariats“ sein kann und nicht durch einen Stellvertreterkrieg zwischen dem US-Imperialismus und der stalinistischen Sowjetunion getragen wird.
Ein negativer Höhepunkt dieser schon skurril anmutenden Linie, ist ein Artikel von Ernest Mandel vom April 1951: „Es ist nicht ausgeschlossen, daß die weitgehende Verwüstung durch einen langen Dritten Weltkrieg in weiten Teilen der Welt zu einem enormen Zusammenbruch der Produktionsanlagen führen wird, der anfängliche bürokratische Deformierungen neuer siegreicher Revolutionen begünstigen werde. (...) Unser Vertrauen auf den Sieg der amerikanischen Revolution, die der sozialistischen Welt selbst nach einem vernichtenden Krieg zu gewaltigen Produktionskapazitäten verhelfen würde, versetzt uns in die Lage, zuversichtlich der Perspektive einer proletarischen Demokratie nach dem Dritten Weltkrieg entgegen zu blicken.“
Schließlich wird aus diesen neuen Thesen der Schluß gezogen, daß in der kurzen Zeit bis zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs die Internationale nicht aufgebaut werden könne. Daher sollen laut Pablo die Kader der IV. Internationale den bereits bestehenden - sozialdemokratischen - Massenorganisationen beitreten, um am Ende des Dritten Weltkrieges im „weltweiten Bürgerkrieg“ Stellung zu beziehen.

Der große Krach 1953

Der 3. Weltkongreß der Internationale tagt im September 1951. Er nimmt diese Thesen (und im besonderen die Hinorientierung auf die Perspektive eines Dritten Weltkrieges) an und spitzt so die ohnedies bereits offenen Spannungen noch weiter zu. Innerhalb der Internationale haben sich im Laufe des Aufkommens der strittigen Thesen Pablos und Mandels mehr oder weniger feste Fraktionen gebildet. Auf der einen Seite stehen Pablo und Mandel, die das Internationale Sekretariat vertreten und auf der anderen der US-Amerikaner Cannon, der Franzose Lambert und der Brite Healy.
Der Konflikt wird aber nicht nur auf der Bühne der Internationale ausgetragen, sondern findet auch verstärkten Widerhall innerhalb der einzelnen Sektionen, wo sich ebenfalls Fraktionen bilden. Die Polarisierung nimmt in den folgenden Monaten immer weiter zu und schließlich wird die Auseinandersetzung über die Thesen Pablos und Mandels zum einzigen bestimmenden Thema und lähmt die Internationale vollends. In dieser Situation erscheint der „Offene Brief an alle Trotzkisten der Welt“ von James P. Cannon, in dem er sich offen gegen die Politik Pablos wendet und sich und die SWP außerhalb der Internationale stellt. Dazu aus dem Schlußteil des „Offenen Briefes“: „Wir fassen zusammen: Der Graben zwischen Pablos Revisionismus und dem orthodoxen Trotzkismus ist so tief, daß weder ein politischer noch ein organisatorischer Kompromiß möglich ist. (...) Sie sind entschlossen, alle orthodoxen Trotzkisten aus der IV. Internationale zu vertreiben oder ihnen einen Maulkorb umzuhängen und Handschellen anzulegen. (...) Wenn wir den Sektionen der IV. Internationale von unserer Position aus, die erzwungenermaßen außerhalb der Mitgliedschaft liegt, einen Rat geben dürfen, so meinen wir, daß es Zeit ist, zu handeln - entschlossen zu handeln. Es ist Zeit, daß die orthodox-trotzkistische Mehrheit der IV. Internationale ihren Willen gegen Pablos Machtanmaßung durchsetzt.“
Im Sommer 1953 erklärt die Pro-Pablo Fraktion der SWP unter der Leitung Bert Cochrans den politischen Boykott der US-Führung, da sich diese gegen die Thesen der Internationale - also Pablo und Mandel - stellt. Der Boykott äußert sich unter anderem in einer Weigerung, Zeitungen zu verkaufen oder Geld zu sammeln. Daraufhin werden sie Anfang November auf einer Sitzung des Nationalkomitees aus der SWP ausgeschlossen. Kurz darauf am 23. November 1953 gründet sich das „Internationale Komitee der IV. Internationale“ - die internationale Vereinigung der „orthodoxen“ TrotzkistInnen; damit ist der organisatorische Bruch endgültig vollzogen. Doch die Krise der IV. Internationale ist deswegen noch lange nicht „bereinigt“. Als Reaktion auf die Abspaltung und den Aufruf zur Absetzung der Internationalen Führung veranstaltet diese unter der Leitung Pablos und Mandels im Frühjahr 1954 den 4. Weltkongreß, in dem sie sich organisatorisch wie auch politisch bestätigen läßt.
Die 1953 eingegangen Koalitionen - auf der einen Seite das Internationale Komitee unter Cannon, Lambert und Healy und auf der anderen das Internationale Sekretariat unter Pablo und Mandel -  zerfallen in Folge. 1963 schließt sich die SWP wieder dem Internationalen Sekretariat an und bildet so das Vereinigte Sekretariat und auch die Wege Lamberts und Healys trennen sich genauso wie die Mandels und Pablos. Übrig bleibt bis heute ein Scherbenhaufen in sich völlig zerstrittener, bis ins Sektierertum verfallener Fraktionen und Gruppierungen einer Internationale, die angetreten war, die neue Weltpartei des Proletariats zu werden.

Schlußfolgerungen

45 Jahre Krise der IV. Internationale sind eine Krise der internationalen ArbeiterInnenbewegung.
Von vielen Seiten wird nun seit Jahrzehnten versucht, die IV. Internationale und die Bewegungen um sie herum einzig und alleine an der Person Trotzkis fest zu machen. Hinter dieser eher harmlos erscheinenden Argumentation verbergen sich aber zwei konkrete Absichten.
Die eine manifestiert sich in der „Theorie“, daß es sich beim Kampf der Linken Opposition gegen die Stalinisierung der Sowjetunion lediglich um einen Machtkampf in Rußland gehandelt habe. Die IV. Internationale wäre in diesem Sinne ein machtpolitisches Instrument Trotzkis gegen Stalin gewesen. Somit entsteht dann die einfache Formel: Stalinismus= Kommunismus=Trotzkismus. Die IV. Internationale hätte also demnach ihre historische Mission mit dem Tod der beiden Hauptkontrahenten - Trotzki und Stalin -, spätestens aber seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, erfüllt.
Die zweite These läuft darauf hinaus, daß mit dem Tod Trotzkis der IV. Internationale das politische Korrektiv abhanden gekommen sei. Die in den 40er Jahren auftretenden politischen Differenzen, die letztlich 1953 zum großen Bruch führen, sind so nur der konsequente Ausdruck dieser Einschätzung. Aus der Reduzierung der Politik, Analysen und Einschätzungen der IV. Internationale allein auf die Person Trotzkis leitet sich schließlich wieder eine einfache Formel ab: Kein Trotzki - keine Internationale! Nun ist die Frage „Wie weiter nach Trotzkis Tod?“ keine neue und ist seit seiner Ermordung Bestandteil vieler Diskussionen in und rund um die IV. Internationale.
Der Vorsitzende der US-amerikanischen Sektion, James P. Cannon, gibt in einem Referat vom Mai 1946 folgende Antwort auf diese Fragestellung: „Seit Trotzkis Tod treffen wir in unserer Partei - und nicht nur dort - immer wieder auf die Auffassung, daß die einzige Rettung für die IV. Internationale irgendein neuer Messias wäre. Mit anderen Worten: Die kollektive Arbeit, in der Fehler korrigiert und richtige Antworten gefunden werden, das strenge Festhalten an dem Programm, die Zusammenarbeit zwischen den Parteimitgliedern, die Wahl einer tüchtigen Parteiführung und die Zusammenarbeit der Parteiführer in einem internationalen Zentrum reichen nicht aus. Wir brauchen jemanden, der über all dem steht und als Individuum die Bewegung führt. Das ist der Messias-Komplex. (...) Aber hinter dieser Aussage ‘Cannon nimmt nicht Trotzkis Stelle ein’  versteckt sich das Gefühl, irgend jemand müsse doch Trotzki ersetzen. Wir sagten, die Internationale müsse auf internationaler Ebene an Trotzkis Stelle treten, denn Trotzkis fallen nicht vom Himmel.“
So verschieden beide oben umrissenen Argumentationslinien auch erscheinen mögen, so liegt doch beiden Thesen eine Gemeinsamkeit zu Grunde: Beide versuchen Erklärungen zu finden, warum und wieso die Ideen und Ziele der IV. Internationale ihre „Daseinsberechtigung“ verloren haben und lassen dabei den wichtigsten Aspekt für RevolutionärInnen, die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen ArbeiterInnen-Internationale, der an seiner Aktualität bis heute nichts eingebüßt hat, völlig außer Acht.