Di 15.01.2002
In der "Zwentendorfer Erklärung" vom 22.7.2001 reiht die FPÖ ihre Vorbehalte zur EU-Osterweiterung nach folgenden Prioritäten: Erstens der "Massenansturm von Arbeitsuchenden", zweitens die AVNOJ-Beschlüsse oder die Benes-Dekrete und drittens die Atomkraftwerke der Beitrittswerber. Hinter dem Spiel mit der Atomangst und den Veto-Drohungen gegen Tschechien stecken also offensichtlich auch andere Motive. Sie heißen Rassimus und Revanchismus.
Tschechen als Feindbild, das hat in Österreich Tradition. "Die Behm", wurden je nach Lust und Laune, als "Volk von Dienern, Musikanten, Dieben und Schlitzohren" bezeichnet. Oder von Verrätern, die den Zerfall der Monarchie verschuldet hätten. Tschechen als Feindbild heute: Ein grenznahes Atomkraftwerk, das in der Gefährlichkeitsskala hinter 30 anderen AKWs darunter sechs deutschen liegt. Ein tschechischer "Massenansturm - der nicht stattfindet (im Gegensatz zum regelmäßigen "Massenansturm" österreichischer Einkaufstouristen). Und schließlich das heute wichtigste Thema des antitschechischen Chauvinismus: die Benesdekrete. Die Forderung nach tschechischen "Reparationszahlungen" für Sudetendeutsche, gehört quasi zum Standardrepertoire des deutschen und österreichischen Rechtsextremismus. Nicht selten verbergen sich gleich dahinter Gebietsansprüche "für Deutsche" - wie sie im Laufe der Jahre z.B. immer wieder von FPÖ-Politikern erhoben wurden. Gründe genug für SozialistInnen sich offensiv mit der Thematik auseinander zu setzen.
Benesdekrete: Aufarbeitung statt Aufrechnung
Mit den Benesdekreten werden die Maßnahmen der tschechischen Regierung unter dem bürgerlichen Politiker Eduard Benes bezeichnet, die bis Ende 1946 zur Aussiedlung und Enteignung von rund 2,9 Millionen Sudetendeutschen führten. Diese Maßnahmen betrafen alle Deutschen, sofern sie unter der Naziokkupation nicht aktiv "für die Wiedererrichtung der Tschechoslowakei" gekämpft hatten. Jede Aufrechnung zwischen Naziopfern und diesen Vertreibungen ist zynisch. Die damaligen Ereignisse können nur als Folge der Orgie von Rassismus, Krieg und Gewalt die der Faschismus in Europa verbreitete, begriffen werden.
Die Tschechoslowakei unter dem Hakenkreuz
Der deutsche Faschismus bedeutete für die TschechInnen: Die Ermordung von 235.000 Männern, Frauen und Kindern darunter 80.000 JüdInnen; insgesamt wurden 350.000 Menschen in Konzentrationslager deportiert, das Land schrittweise besetzt und zerstückelt. Eröffnet wurde diese Entwicklung durch das Münchner Abkommen 1938, mit dem die französische und britische Regierung die Tschechoslowakei unter Druck setzte, die überwiegend deutschsprachigen Teile des Landes an Hitlerdeutschland abzutreten. 1939 wurde schließlich Böhmen und Mähren deutsches "Protektorat", die Slowakei ein klerikal-faschistischer Satellitenstaat. Die Denkschriften des Protektorats aus dem Jahre 1940 zeichneten ein Zukunftsbild der totalen Vernichtung: Erstens die Umvolkung der rassisch geeigneten Tschechen, zweitens die Aussiedlung von rassisch unverdaulichen Tschechen und der reichsfeindlichen Intelligenzschicht bzw. Sonderbehandlung dieser und aller destruktiven Elemente und drittens die Neubesiedlung des dadurch freigewordenen Raumes mit frischem deutschem Blut. Bevor diese Pläne endgültig umgesetzt werden konnten, "befreite" die rote Armee das Land.
Die Rolle der Sudetendeutschen
1995 stellte ein tschechisches Gericht die Rechtsgültigkeit der Benesdekrete fest, weil die "absolute Mehrheit" der Sudetendeutschen dem deutschen Faschismus und damit Hitler keinen aktiven Widerstand entgegengesetzt hatte. Das ist richtig. Noch schwerer wiegt der Umstand, dass 1935 68 Prozent der Deutschen im tschechischen Landesteil für die Sudetendeutsche Partei unter dem Nationalsozialisten Konrad Henlein votierten. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei war von Beginn an ein erklärtes Ziel der Nazis gewesen. Die Gewinnung der Mehrheit der Sudetendeutschen für den Faschismus, spielte dabei sicherlich eine Schlüsselrolle. Entscheidend ist aber für uns die Frage, warum nur 15 Jahre vorher die beiden linken Parteien der ArbeiterInnenklasse 50 Prozent der Stimmen der deutschsprachigen Minderheit auf sich vereinen konnten.
Versagen der Arbeiterinnenbewegung
Die Niederlage der sozialistischen Revolution im Europa nach dem ersten Weltkrieg, bedeutete auch die Verwehrung des Selbstbestimmungsrechts für die Menschen deutscher (und ungarischer) Muttersprache in der neugebildeten "Tschechoslowakei". Die offizielle Minderheitenpolitik der Tschechoslowakei war zwar am damaligen "Standard" gemessen relativ milde. Sie setzte aber trotzdem auf Assimilierung und zunehmend auch auf nationalistische Reflexe. Auch der Großteil der ArbeiterInnenbewegung blieb entlang sprachlicher Linien organisiert. Die kapitalistische Weltwirtschaftskrise traf besonders die hochindustrialisierten Gebiete der deutschen Bevölkerungsgruppe. Die bei weitem stärkste Partei der Sudetendeutschen die Sozialdemokratie - kämpfte nicht aktiv für eine sozialistische Alternative zu Krise, Nationalismus und Faschismus. Weder die Führung der tschechischen, bzw. deutschen Sozialdemokratie, noch die kommunistische Partei strebten die Bildung einer antifaschistschen Einheitsfront tschechischer und deutschsprachiger ArbeiterInnen an. Sozialdemokratie und KP setzten in den 30er Jahren zunehmend auf ein Bündnis mit dem tschechoslowakischen Staat und dessen Bourgeoisie als Bollwerk gegen Hitler. Doch daran war weder dieser Staat, noch die tschechische (oder gar deutschsprachige) Bourgeoisie interessiert: Kampflos kapitulierten die tschechoslowakischen Regierungen schließlich vor den Nazis. Bereits vor dem endgültigem "Aus", wurde die einzige multiethnische Partei die kommunistische Partei aufgelöst. Auch Demonstrationen der Wehrorganisation der deutschsprachigen Sozialdemokratie gegen den Faschismus waren verboten worden. Die ArbeiterInnenbewegung hatte auf diese Weise offensichtlich versagt. Massiv propagandistisch und finanziell von Hitlerdeutschland unterstützt fand der Nationalsozialismus so ein weites Betätigungsfeld vor, um seine Anhänger zu rekrutieren.
Kampf dem Revanchismus
Die Position von FPÖ und rechtsextremen Landsmannschaften zu den Benesdekreten haben vor allem einen Zweck: Die Verharmlosung von NS-Verbrechen und damit die Entlastung der Täter die sich zahlreich unter den Sudetendeutschen befanden. Gerhard Zeihsel, Vorsitzender der österreichischen Sudetendeutschen, erklärt ganz offen: "Wie die Nürnberger Rassengesetze durch die Niederlage Deutschlands aufgehoben werden mussten, müssen auch die Benesdekrete fallen." Im Gegensatz zu solchen Ansagen steht eine marxistische Position: Nicht die Abrechnung mit dem Faschismus und der Kollaboration nach 1945 war das Problem, sondern ihre politische Basis. Die stalinistische Bürokratie, betrieb im "Volksfront"-Bündnis mit den bürgerlichen tschechischen Politikern diese Abrechnung auf nationalistischer Grundlage. Auch nach dem Sturz des Kapitalismus in der Tschechoslowakei Ende der 40er Jahre wurde die deutsche Kollektivschuldthese nicht zugunsten einer internationalistischen Position grundsätzlich verworfen. Diese These blendet(e) sowohl Aspekte der tschechischen Kollaboration, wie auch des Widerstands (40.000 Sudetendeutsche saßen im KZ) aus. Die Warnung einer trotzkistischen Zeitung aus dem Jahre 1946 scheint angesichts der wieder aufgeflammten Debatte hoch aktuell: "Gerade die Behandlung des deutschen Volkes nach dem Grundsatz der Kollektivsschuld gibt den verkappten Faschisten neue Möglichkeiten, in trüben nationalistischen Gewässern zu fischen. Das umso mehr, als logischerweise der Schuldanteil der wirklich schuldigen Nazis vermindert und sie die Aussicht haben der gerechten Strafe zu entgehen, wenn das gesamte deutsche Volk schuldig ist." Die Aufarbeitung der damaligen Ereignisse ist nicht einfach eine tschechische, österreichische oder sudetendeutsche Frage. Sie betrifft die ArbeiterInnenklasse beider Staaten, und beginnt für uns mit Frage nach der Rolle der "eigenen" herrschenden Klasse während der Zeit von Faschismus und Krieg.