Mi 08.05.2013
„Ungeachtet der Tatsache, dass es den ‚Bombenbastlern von Jena‘ jahrelang gelungen war, sich ihrer Verhaftung zu entziehen, gibt es keine wirkungsvolle Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund heraus führen zu können“, heißt es in der Bilanz eines als „nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften Dossiers des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom Juli 2004, das sich mit der „Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten“ beschäftigt. Das Papier ist ein Eingeständnis des vollkommenen Versagens einer Behörde – im besten Fall. Zehn Menschen starben, Dutzende wurden verletzt und der deutsche Inlandsgeheimdienst – der angeblich genau vor solchen Gruppen schützen soll – will nichts gemerkt haben. Und das, obwohl die rechte Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) von V-Leuten umstellt war. Seit dem zufälligen Auffliegen des Nazi-Trios müssen sich Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz unangenehmen Fragen gefallen lassen.
Oder besser: Sie müssten sich unangenehmen Fragen stellen. Denn noch immer wird vertuscht und gelogen, abgewiegelt und gerechtfertigt. Je mehr man von den Geschehnissen erfährt, je mehr das ganze Ausmaß der Verstrickungen deutscher Behörden – beileibe nicht nur des Verfassungsschutzes – ans Tageslicht kommt, desto undurchsichtiger wird das Netz aus Halbwahrheiten und verdrehten Tatsachen. Statt Fragen zu beantworten, tauchen neue auf; statt wirklicher Hergänge werden irgendwoher immer wieder ausgedachte Geschichten und wilde Gerüchte gestreut. Von Aufklärung ist man meilenwert entfernt.
Einigen Spuren und Fragen werden wir in dieser Schrift versuchen nachzugehen. Die Rätsel um den NSU zu klären, liegt nicht in unserer Hand. Wir können nur die Forderung nach wirklicher Aufklärung der Vorgänge unterstreichen, auch wenn dies ein frommer Wunsch zu bleiben droht, solange die Arbeit an diesem Ziel nicht endlich in die Hand derer gelegt wird, die ein echtes Interesse daran haben, Licht ins braune Dunkel zu bringen.
Dabei geht es bei der Aufklärung der NSU-Morde nicht nur um eine problematische V-Leute-Praxis von Staatsschutz, Verfassungsschutz und Co. Es geht auch nicht allein um die Frage nach der Auflösung des Verfassungsschutzes. Zehn Menschen wurden ermordet und gemeint waren wir alle! Zehn Menschen mussten sterben, weil der kapitalistische Staat es mindestens an Interesse an der Aufklärung der Geschehnisse mangeln ließ. Die tieferen Ursachen der Taten von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und anderer militanter Rechter ist jedoch nicht in den Büros staatlicher Behörden zu suchen, sondern in den Widersprüchen des kapitalistischen Systems. Verfassungsschutz und Polizei sind Teil des bürgerlichen Staates, und der hat kein Interesse daran ImmigrantInnen, AntifaschistInnen und GewerkschafterInnen vor Nazis zu schützen. Wenn wir uns dauerhaft vor solchen Übergriffen schützen wollen, dann müssen wir über die richtige Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes weit hinaus gehen. Dann muss es uns ebenso um die Überwindung des Kapitalismus gehen.
Der Sumpf, aus dem der NSU entstand
Es waren hoffnungsvolle Wochen und Monate. Nach 40 Jahren stalinistischer Diktatur standen Millionen DDR-BürgerInnen auf „für einen Sozialismus, der den Namen auch verdient“, wie es der ostdeutsche Schriftsteller und Sozialist Stefan Heym auf einer Demonstration im November 1989 in Berlin treffend formulierte. Doch gerade die inhaltliche Schwäche der oppositionellen Gruppen der DDR, die allesamt keine Idee hatten und somit auch keine Vorstellung davon geben konnten, wie eine sozialistische Demokratie zu erreichen war oder wie sie genau aussehen sollte, ließen es zu, dass sich die Bewegung im Dezember 1989 allmählich in eine andere Richtung entwickelte: Vereinigung der beiden deutschen Staaten unter kapitalistischen Vorzeichen.
Statt eines Schrittes nach vorn – hin zu einer sozialistischen Demokratie – machten die sechs neuen Bundesländer die Rolle rückwärts – hin zum Kapitalismus. Die Folgen hätten schlimmer kaum sein können: Die bewusst eingeleitete, umfassende Deindustrialisierung kannte man in ihren Ausmaßen sonst nur aus Kriegszeiten. Menschen verloren ihre Arbeit, Städte wie Hoyerswerda, Meißen und Jena büßten zehntausende EinwohnerInnen ein, die hofften, in anderen Städten oder Regionen Arbeit zu finden. Gleichzeitig stiegen die Mieten in den frisch privatisierten Häusern, die Lebenshaltungskosten kletterten ohne Unterlass. Die Geburtenrate stürzte ab, Familien zu gründen, konnte man sich unter diesen Bedingungen einfach nicht mehr vorstellen.
Die Stimmung war gereizt. Gerade Jugendliche waren ungeheuer wütend. Wütend über das Fehlen von Ausbildungsplätzen, über das Ende aller Zukunftsträume und Wünsche. Gelegentlich entlud sich diese Wut: Im April 1993 besetzten 700 Kali-Kumpel ihren Schacht, um ihn vor der Schließung zu bewahren. Sie gingen bis zum Hungerstreik, entschlossen und kaum bremsen, aber auch voller Verzweiflung. Die Gewerkschaftsführung ließ sie im Stich, der Kampf ging verloren. Das Beispiel blieb. Die Herrschenden fürchteten soziale Proteste und eine Entfremdung der ostdeutschen Bevölkerung von dem neuen System, das ihnen gerade übergestülpt worden war. Zu frisch schienen noch die Erinnerungen an den erfolgreichen Kampf gegen die lange Zeit übermächtig erscheinende Staatssicherheit, der wenigstens in einer Sache erfolgreich war: dem Ende des Stalinismus.
Die Antwort der Herrschenden auf die soziale Unzufriedenheit und drohende Proteste war „divide et impera“, „teile und herrsche“, die Wut der Einen, die unter den Entwicklungen leiden sollte auf jene gelenkt werden, die ebenfalls, oftmals sogar noch mehr, zu leiden haben. Die Herrschenden, die etablierten Parteien – allen voran die CDU/CSU – begannen die „Asyldebatte. Voller rassistischer Klischees wetterten sie über Asylbetrüger und sprachen davon, dass das Boot voll sei. Musteranträge wurden von der CDU-Zentrale an alle Parteigliederungen entsandt. Sie sollten in Stadt-, Gemeinde- und Ortschaftsräten eingebracht werden. Der Inhalt war denkbar einfach und immer der gleiche: Es gibt zu viele Ausländer im jeweiligen Kreis, die sozialen Folgen seien kaum abzuschätzen. Die konservativen Parlamentarier mussten nur noch den Namen ihrer Stadt eintragen. Auf dem Rücken von ImmigrantInnen wollte die CDU Wahlen gewinnen.
Die rassistische Stimmung, die die Unionsparteien schürten, zeitigte bald Wirkung: Rassistische Übergriffe waren an der Tagesordnung – die Strafen für die Täter lächerlich! In Eberswalde, in Brandenburg, wurde in der Nacht vom 24. zum 25 November Antonio Amadeo Kiowa von sechzig Nazis ermordet. Eine voll ausgestattete Einheit der Polizei war in der Nähe, griff aber nicht ein, da sie sich den Nazis nicht gewachsen fühlte. Die „Strafen“ lächerlich: Nur wenige der Täter werden zu Bewährungs- oder kurzen Haftstrafen verurteilt.
In Dresden wurde der aus den alten Bundesländern in den Osten gekommene Chef der Nationalen Alternative, Michael Kühnen, 1991 vom Einsatzleiter der Polizei mit Handschlag begrüßt. Eine Filmkamera ist dabei, als die Dresdner Polizei gegenüber Kühnen erklärt, man freue sich ihm verschiedene Routen anzubieten, um Gegenaktionen zu verhindern. Im selben Jahr ermordeten Nazis in der sächsischen Landeshauptstadt Jorge Joao Gomondai. Sie warfen ihn aus der Straßenbahn. Die drei Täter wurden zu zweimal Bewährung und einmal 1 ½ Jahren Gefängnis verurteilt. Auf der Dresdner Prager Straße machen wenige Monate später Nazis Jagd auf sogenannte „Hütchenspieler“ türkischer Herkunft. Sie verprügeln sie und übergeben sie der Polizei, diese nimmt nicht die Nazis in Gewahrsam, sondern die gehetzten ImmigrantInnen. Angeführt wurden die Dresdner Nazis, die antraten die Kriminalität zu bekämpfen, in diesen Tagen von einem gewissen Rainer Sonntag, der selbst Bordellbesitzer war. Konkurrierende Bordellbesitzer ermordeten Sonntag schließlich – was seine Anhänger und Mitstreiter nicht davon abhielt, zu behaupten, die Täter wären Linke gewesen.
In Rostock provoziert die CDU pogromähnliche Ausschreitungen gegen die „Zentrale Aufnahmestelle für AsylbewerberInnen“ (ZAST). Sie ist längst überfüllt. ParlamentarierInnen anderer Parteien schlagen im Rostocker Stadtparlament die Verlagerung der ZAST in ein anderes Gebäude vor. Die CDU verhindert dies immer wieder: So müssen ImmigrantInnen mit ganzen Familien in einem Rostocker Plattenbauviertel auf der Wiese übernachten. Sie haben weder Toiletten, noch Waschgelegenheiten. Sie haben kein Geld, um auch nur das Nötigste, wie Essen für ihre Kinder, zu kaufen. Sie haben nicht einmal Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Folgen sind klar: In ihrer Not müssen die ImmigrantInnen Essen im Supermarkt stehlen und erleichtern sich auf den Wiesen. Teile der Bevölkerung, selbst in Armut und Perspektivlosigkeit gestürzt, sind empört, doch nicht gegen CDU und Co., sondern vielfach gegen die ImmigrantInnen. „Divide et impera“ – die CDU hatte es geschafft!
Die CDU weiß um die Explosivität der Lage, schreitet trotz Drohungen Rechtsradikaler gegen die ZAST nicht ein. Sie lässt den Ereignissen freien Lauf: Die ZAST wird angegriffen, nächtelang tobt sich der Mob aus. Als antifaschistische GegendemonstrantInnen die Nazis vertreiben und die ZAST schützen, ist plötzlich genug Polizei da. Die Linken werden festgenommen, die Polizei zieht sich wieder zurück und Nazis randalierten weiter.
Nun schwenkte auch die SPD auf die neue Linie in der Asylpolitik ein. Die beiden großen Parteien einigten sich auf die faktische Abschaffung des Grundrechts auf politisches Asyl. Die ImmigrantInnen waren wieder die Sündenböcke für die Verarmung ganzer Bevölkerungsteile in den neuen Bundesländern, die CDU und SPD zu verantworten hatten.
Die Bevölkerung – auch im Osten – war überwiegend schockiert und erbost über diese Zustände. Die etablierten Parteien sahen sich einer Welle von antifaschistischen Protesten gegenüber. Wieder fürchten die Unionsparteien, dass ihnen die Felle davon schwimmen. Also muss Abhilfe her. Die Idee war genauso kurzsichtig wie zynisch: Gerade die jugendlichen Rechtsradikalen sollen von der Straße. Für sie werden Jugendhäuser geöffnet. Die „akzeptierende Sozialarbeit“ ist geboren. Nazis können sich in Jugendclubs treffen, Konzerte veranstalten, Wahlkampfmaterialien lagern und erstellen. Teilweise werden sie sogar mit Bussen zu Demonstrationen gefahren. Man will mit ihnen in den Jugendhäusern arbeiten, deshalb kommt man ihnen entgegen, lässt zu, akzeptiert. Die Wenigsten werden dadurch „bekehrt“. Dafür haben Nazi-Gangs künftig einen Rückzugsraum.
Das Konzept ist falsch, die SozialarbeiterInnen noch dazu hoffnungslos überfordert. Sie werden allein gelassen und frustrieren. Nicht selten sind die BetreuerInnen nicht einmal ausgebildete SozialarbeiterInnen, sondern ABM-Kräfte. Um die Arbeitslosenstatistik zu schönen, werden Arbeitslose in „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ in Jugendclubs eingesetzt. Das Ergebnis: Zahlreiche Jugendclubs in Ostdeutschland werden binnen kurzer Zeit von Nazis übernommen. Subkulturell geprägte Jugendliche, Linke, ImmigrantInnen können in solche Jugendclubs gefahrlos nicht mehr rein.
Die Wiedereinführung des Kapitalismus in Ostdeutschland stieß Hunderttausende in Armut und Perspektivlosigkeit, die Herrschenden wollten von ihrem Versagen ablenken und präsentierten ImmigrantInnen als die Sündenböcke für die Verelendung weiter Landstriche, Nazis übernahmen Jugendclubs und wenn sie Menschen überfielen, oder gar ermordeten, waren die Strafen dafür nur allzu gering. Kapitalistische Wirklichkeit! In diesem Klima wuchsen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in Jena auf.
Vom „Thüringer Heimatschutz“ zum „Nationalsozialistischen Untergrund“
Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt fielen schon früh in Jena auf. Mundlos, der Professorensohn, und Zschäpe, deren Eltern sich während des Zahnarztstudiums der Mutter in Rumänien kennengelernt hatten, lebten beide im Jenaer Stadtteil Winzerla. Nazis schlagen dort auf Linke ein. Sie sind eine Minderheit, aber sie sind brutal und werden geduldet. Strukturen hingegen, die etwas gegen die braune Gefahr tun wollen, haben nicht nur die Nazis, sondern auch den Staat zum Feind. Das Ziel der Nazis: Aus Jena Winzerla eine „nationalbefreite Zone“ zu machen. Bald haben sie im Viertel das Sagen. Treffpunkt der Nazis ist der „Winzerclub“, einer jener vielen Jugendclubs… Zschäpe und Mundlos sind häufig dort.
Zschäpe selbst bezeichnete sich in einer Befragung der Polizei 2011 als Oma-Kind, sie wohnt bei ihr statt bei ihrer Mutter. Sie stiehlt im Winzerclub, ist brutal und bricht einem anderen Mädchen bei einer Prügelei einen Arm. Mit Mundlos wird sie schnell ein Paar. Irgendwann lernen die beiden Uwe Böhnhardt kennen. Er ist extrem gewaltbereit, leicht zu reizen und durch und durch Nazi. Beate und Böhnhardt kommen zusammen, ohne dass die Freundschaft mit Mundlos endet. Die Liaison der beiden beginnt, als Mundlos seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr ableisten muss. Dort soll er übrigens gerade wegen seiner rechten Gesinnung als V-Mann des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) gewonnen werden. Ob es zur Anwerbung kommt, ist umstritten.
Nun treten die drei im Grunde nur noch zusammen auf. Unter anderem bei einem „Besuch“ der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald. Dort treten Mundlos und Böhnhardt als SA-Leute ausstaffiert in Erscheinung. Uwe Böhnhardt verewigt sich im Gästebuch mit den Worten: „Buchenwald ist nicht nur eine Stätte der jüdischen Mitbürger.“ Sie erhalten lebenslanges Hausverbot.
Es bleibt nicht bei aufsehenerregender Propaganda. Die drei bilden mit drei anderen die „Kameradschaft Jena“. Mit dabei sind auch Stefan A., Beate Zschäpes Cousin, und Ralf Wohlleben, ab 2000 Funktionär der Thüringer NPD. Wohlleben zieht später für diese in die Ortschaftsräte Jena-Winzerla und Jena-Altlobeda ein, wird Vorsitzender des von ihm gegründeten Kreisverbandes Jena und stellvertretender Vorsitzender des NPD-Landesverbandes Thüringen. Erst 2008 legt er alle Parteiämter nieder.
Klein, aber verschworen ist die „Kameradschaft Jena“ für allerlei Aktionen zu haben, die ebenso geschmacklos wie brutal sind. Sie fahren zum Prozess gegen Holocaust-Leugner Manfred Roeder. Eine Schlüsselfigur in der militanten Rechten, um ihn hatten sich die terroristischen Deutschen Aktionsgruppen gebildet, die in den 70er und 80er Jahren zahlreiche Anschläge in Deutschland verübt hatten.
Roeder war verantwortlich für Brandanschläge auf eine Ausstellung über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, die Hamburger Janusz-Korcak-Schule, und (in ihrer Brutalität leider nur bis in die 90er Jahre einmalige) Anschläge auf drei Immigrantenwohnheime: Zirndorf. Lörrach und Billbrook. In Lörrach werden drei BewohnerInnen des Hauses verletzt, in Billbrook verbrennen zwei Menschen bei lebendigem Leib.
Roeder scheint so etwas wie ein frühes Vorbild der drei späteren Nazi-Terroristen darzustellen. Als Roeder 1996 in Erfurt der Prozess gemacht wird, weil er zusammen mit einem Komplizen einen Farbbombenanschlag auf die „Wehrmachtsausstellung“ verübte, die über Verbrechen der deutschen Wehrmacht während des Krieges gegen die UdSSR informierte, saßen Mundlos und Böhnhardt und mit ihnen Wohlleben und Kapke – zwei spätere Unterstützer des NSU- mit im Saal. Bei diesem Anlass entsteht auch das Bild Böhnhardts, welches ihn vor dem Gerichtsgebäude zeigt, wie er in Bomberjacke Nazi-Parolen brüllt.
Bald schreiten die drei selbst zur Tat: Einen mit einem Hakenkreuz bemalten Koffer mit einer nicht funktionsfähigen Bombe platzierten sie vor dem Jenaer Staatstheater, eine Puppe mit der Aufschrift Jude und einer Bombenattrappe hängten sie von einer Autobahnbrücke, weil wenige Stunden später Ignaz Bubis, der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland darunter hindurchfahren sollte. Die drei wurden immer militanter. Bald traten sie mit ihrer Kameradschaft dem NPD-nahen „Thüringer Heimatschutz“ (THS) bei. Der THS und vor allem dessen Chef Tino Brandt spielen bei der Entstehung des NSU eine bedeutende Rolle. Darauf wird noch einzugehen sein.
Der THS organisierte nicht nur Aufmärsche und Kundgebungen. Er überfiel ImmigrantInnen, attackierte AntifaschistInnen und GewerkschafterInnen mit ins Groteske gesteigerter Gewalt. Jene, die die kapitalistische Gesellschaft zur Machtlosigkeit verurteilt hatte, die sich nutzlos und ohne jede Zukunft sahen, suchten ihr Heil ausgerechnet in Angriffen auf jene, die diese Gesellschaft wirklich ändern wollten. Der russische Revolutionär Leo Trotzki hatte bereits 1905 über die protofaschistischen „Schwarzhunderter“, die während der russischen Revolution 1905/06 im Auftrag der Herrschenden (und von denen auch finanziert) die Arbeiterbewegung angriffen, geschrieben: „Der Barfüßler herrscht. Vor einer Stunde noch zitternder Sklave, von Polizei und Hunger gehetzt, fühlte er sich jetzt als unumschränkter Despot, ihm ist alles erlaubt, er darf alles, er ist Herr über Gut und Ehre, über Leben und Tod. Wenn er die Lust dazu verspürt, schleudert er aus dem Fenster im 3.Stock eine alte Frau zusammen mit einem Konzertflügel aufs Straßenpflaster hinunter, zerschmettert er einen Stuhl am Kopf eines Säuglings, vergewaltigt er ein kleines Mädchen vor den Augen der Menge. Es gibt keine Marter, die nur ein von Schnaps und Wut tollgemachtes Hirn ausdenken kann, vor der er gezwungen wäre, Halt zu machen. Denn ihm ist alles erlaubt, er darf alles. Gott schütze den Zaren!“ Wir werden noch sehen, wie sehr Trotzkis Hinweis auf die guten Beziehungen zwischen den Eliten im Russischen Reich und den „Schwarzhundertern“ auf heute, auf den THS und den NSU passt.
Am 26.01.1998 erfolgte dann die berühmt-berüchtigte Durchsuchung mehrerer Wohnungen und Garagen, die von Rechtsradikalen angemietet waren. Dieses Datum ist von größtem Interesse und auch auf die Geschehnisse dieses Tages werden wir im Weiteren noch genauer eingehen.
Fakt bleibt, dass die drei an diesem Tag untertauchten. Was in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten geschah, liegt noch immer weitgehend im Dunkeln. Wie gelang Ihnen die Flucht? Wie verlief die Konstituierung zu einer Terror-Zelle? Warum tauchten die drei nicht einfach nur ab? Waren Sie im Ausland? Gar zu Schießübungen bei Gesinnungsgenossen in Südafrika? Alles scheint möglich.
Unklar bleibt auch der genaue Alltag der drei im „Untergrund“. Es fällt schwer, das Leben der drei so zu bezeichnen. Warum, das werden wir noch sehen.
Gesichert ist nur, dass in den Jahren danach neun ImmigrantInnen und eine Polizeibeamtin dem Terror des Trios zum Opfer fielen. Zwei Bombenanschläge sollen zudem auf das Konto des NSU gehen. Doch es ist noch nicht einmal wirklich gesichert, ob das alle Taten von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe waren. Selbst über Taten oder Tatbeteiligungen im Ausland wurde spekuliert. So gab und gibt der Mord an einem Rabbiner in der Schweiz Rätsel auf. Doch man scheint sich von Seiten der Justiz weitgehend darauf geeinigt zu haben, nicht noch tiefer zu bohren. Das ist nur eine von vielen merkwürdigen Grenzen, die den Ermittlungen gesetzt werden.
Gesichert ist auch eine andere Sache, die das Verhältnis des NSU zur NPD betrifft. Ralf Wohlleben – der NPD-Kader – hilft den drei beim Verschwinden. Er sammelt für sie Geld auf Konzerten und nimmt sogar einen Kredit auf, um das Leben der flüchtigen Rechtsradikalen zu finanzieren.
Am 4.11.2011 wird das Trio schließlich „geschnappt“. Nach einem Banküberfall erkennen Böhnhardt und Mundlos, indem sie den Polizeifunk abhören, angeblich, dass sie ausweglos in der Falle sitzen und nehmen sich das Leben. Die genauen Umstände bleiben im Dickicht unergründbar verschüttet. Beate Zschäpe, die dritte im Bunde, sprengt daraufhin den letzten Unterschlupf der Nazi-Terroristen in Zwickau und verschickt jene häufig erwähnte, ekelhafte Bekenner-DVD. Wie sie überhaupt vom Tod der beiden erfahren hat, bleibt unklar. Von ominösen Anrufen ist die Rede. Auch was sie in den vier Tagen tut, in denen sie auf der Flucht ist, ist nicht nachweisbar. Nimmt sie Abschied? Sucht sie Unterstützung bei alten Bekannten? Warum flieht sie überhaupt erst, wenn sie sich dann doch ohne Not der Polizei stellt?
Der Fall Tino Brandt und das V-Leute-System
Das V-Leute-System ist in den deutschen Diensten inzwischen zu einigem Alter gelangt. Es sei nur daran erinnert, dass auch Adolf Hitler bei Beginn seiner Karriere V-Mann des bayerischen Reichswehrministeriums in der Partei war, aus der er später die NSDAP machen sollte. Er erhielt Geld, Personal und Unterstützung, und die Reichswehr kaufte für Hitler gar den „Völkischen Beobachter“ als Parteizeitung. Hitlers Auftrag: Er sollte ermitteln, mit welchen Gruppen die Reichswehr in Zukunft gemeinsam gegen die Arbeiterbewegung kämpfen könne.
Tino Brandt, der beleibte Brillenträger mit dem Kugelkopf, aus Coburg, stand also in „guter“ Tradition, als er V-Mann des thüringischen Verfassungsschutzes wurde. Der Neonazi-Aktivist war schon 1991 auf europaweiten Treffen Rechtsradikaler in Frankreich gefilmt worden, wie er dort fleißig half, deutsche Grundgesetze zu verbrennen. Nach der Wende kam er, wie viele Nazis, wie Kühnen, Sonntag, Küssel und Co., aus dem Westen in den Osten, um dort Nazi-Strukturen aufzubauen. Dafür war natürlich Geld und Zeit notwendig.
Einigermaßen findige Rechtsradikale lassen sich bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen: Sie verkaufen Informationen an Verfassungs- und/oder Staatsschutz. Am besten gleich dieselben Informationen an unterschiedliche Dienste, dann klingelt es noch häufiger in der Kasse.
Der Nazi-Aussteiger Jörg Fischer, einst Mitbegründer der inzwischen von der NPD geschluckten Deutschen Volksunion, schilderte in einem Fernsehinterview regelrechte Absprachen in rechten Gruppen, deren Ziel es war, bestimmte Leute als V-Leute zu platzieren. So kontrollierte man selbst die Informationen, die der Verfassungsschutz erhielt, und es gab für die Dienste als V-Frau oder V-Mann auch noch Geld. Das floss dann in den Aufbau der jeweiligen Nazi-Gruppe, half beim Organisieren von Aktionen und Veranstaltungen. Im Gegenzug erhielt der Verfassungsschutz nur inhaltslose Schreiben, die teilweise vom Verfassungsschutzbericht abgeschrieben waren.
Diese Schilderung kann man eins zu eins auf den Fall Tino Brandt übertragen. Eines der ersten Gespräche, welches Brandt in Thüringen angekommen führte, war das Gespräch mit dem Mann, der sein V-Mann-Führer werden sollte, so werden jene VerfassungsschutzmitarbeiterInnen bezeichnet, die V-Leute betrauen. Der versprach dem Nazi-Aktivisten Geld und Hilfe, wenn er immer fein Berichte verfasst.
Nach dieser Zusammenkunft telefonierte Brandt nachweislich mit einem alten Bekannten, der eine Kameradschaft in Bayern führte. Er fragte seinen alten Kameraden, der Mann heißt Kai Dalek, ob er sich mit diesem Zusammentreffen zu weit vorgewagt habe. Der Kameradschaftsführer aus dem Westen beruhigte den angehenden Ost-Kader und versicherte ihm, dass man sich keine Sorgen machen müsse. Er selbst sei schließlich auch V-Mann und wisse daher, es käme nur darauf an, was man den Leuten der Behörde erzähle. Man müsse halt aufpassen.
Ab sofort erhielt Tino Brandt nicht einfach nur Geld für seine zweifelhaften Dienste. Sein V-Mann-Führer warnte den Schützling auch vor allzu übereifrigen PolizistInnen. Als diese beim Chef des THS, in guter Polizeitradition in aller Frühe, eine Razzia machten, stand derselbe ihnen ausgeschlafen und putzmunter gegenüber. Rechtsradikales Propagandamaterial war in der ganzen Wohnung nicht mehr zu finden und seinen Rechner stellte Brandt den uniformierten BeamtInnen sehr gern zur Verfügung. Als diese denselben dann auf dem Revier öffneten, war nicht einmal mehr eine Festplatte darin. Im Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages stellte sich unlängst heraus, dass Tino Brandt von seinem V-Mann-Führer gewarnt worden war.
Aber nicht nur das brachten die Untersuchungen ans Tageslicht. Bei einer anderen Gelegenheit lief Brandt mit seinem V-Mann-Führer durch die ganze Wohnung und ließ sich erklären, was er alles verschwinden zu lassen habe, bevor am nächsten Morgen eine neuerliche Durchsuchung anstand.
Natürlich war das Landesamt des Verfassungsschutzes Thüringen auch sehr darauf bedacht, die Zeit seines V-Manns nicht über Gebühr zu strapazieren. Also bekam der schwer beschäftigte Nazi-Aktivist vom Landesamt einen Computer für daheim und konnte fortan seine Berichte per Email an den V-Mann-Führer schicken.
Der eingebaute Polizeischutz und die reichen Geschenke waren längst nicht alles. Für seine unerbittlichen Mühen bekam Tino Brandt monatlich 2.800 DM vom Verfassungsschutz! Bis zum Ende der V-Mann-Karriere (oder müsste man besser sagen, bis zum Ende des Dienstverhältnisses oder eher bis zum Ende der Partnerschaft) summierten sich diese Beträge auf beachtliche 250.000 DM, etwa 125.000 Euro.
Tino Brandt genierte sich auch nicht späterhin zuzugeben, dass das Landesamt für Verfassungsschutz den Aufbau des THS mit finanziert hatte. Und da hatte es „gute Arbeit“ geleistet, vereinte der doch unter seinem Dach zu seinen besten Zeiten 170 rechte Schläger. Helmut Roewer, der in den betreffenden Jahren Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes war, ist da weniger offenherzig als Tino Brandt. Er bestreitet seit Auftauchen der Vorwürfe gegen sein Amt, dass die Mittel, die man Tino Brandt zur Verfügung gestellt hat, ausgereicht hätten, um eine politische Organisation aufzubauen. Die einfachen Realitäten sprechen eine andere Sprache!
Trotz der Tatsache, dass Brandt V-Mann war, will der Verfassungsschutz von der zunehmenden Militanz der drei Rechtsterroristen nichts gewusst haben. Und obwohl Brandt mit den drei auch nach deren „Abtauchen“ in Verbindung blieb, konnte der Verfassungsschutz sie angeblich nicht finden. Von beidem, der Entwicklung der drei und ihrem Aufenthaltsort, hätte der Verfassungsschutz keine Kenntnis gehabt, weil er keine Informationen von seinen V-Leuten erhalten habe. Sollte das stimmen, dann sagt das eine Menge über den Wert von V-Leuten aus. Sollte es nicht stimmen, spricht es Bände über den inneren Zustand des Verfassungsschutzes.
Der Fall Thomas „Tommi“ S.
Sowohl vor seiner Gründung, als auch danach, war der NSU von V-Leuten geradezu umstellt. Das belegt auch der Fall Thomas „Tommi“ S. Vor der Wende war Thomas S. inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (IM). Er verfasste Berichte über DDR-Fußballfans. War die durchschaubare Rechtfertigung für die Schnüffelei der „Stasi“ in Fußballfankreisen und damit auch der IM-Tätigkeit von Thomas S. die Suche nach Nazis, fasste S. nach der Wende schnell in rechtsradikalen Kreisen Fuß – es war ja nicht so, als wäre er vor 1989 ein Überzeugungstäter gewesen!
Thomas S. zeichneten seine extreme Brutalität und Gewaltbereitschaft aus. Sein Lebenslauf nach 1990 ist eine einzige Straf- und Prozessakte: 1991: Waffenbesitz und versuchte schwere Brandstiftung, 8 Monate auf Bewährung; 1992: Überfall auf ein Jugendhaus in Chemnitz, trotz der Tat aus dem Jahre 1991 kommt S. wieder einmal mit Bewährung davon; 1994: Überfall auf eine Veranstaltung der Bundeswehr. Erst jetzt muss Thomas S. hinter Gitter. Aber man zeigt wieder Milde: Die Strafe von mehr als zwei Jahren wird auf etwas über ein Jahr verkürzt. In der Haft erhält er auch von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Besuch.
Thomas S., ist, wie hinlänglich bekannt, schon damals Aktivist des rechten Netzwerkes „Blood & Honour“. Mit Zschäpe soll ihn zweitweise mehr als „Kameradschaft“ verbunden haben, das schlossen Ermittler aus sicher gestellten Briefen der beiden. Thomas S. hilft den drei Nazi-Terroristen beim Abtauchen und verdient sich dabei mit dem Verkauf ihrer Hinterlassenschaften etwas Geld dazu. Er ist ihr erster Sprengstofflieferant. Dennoch wirbt ihn das Landeskriminalamt Berlin als VP (Vertrauensperson) an. In dieser Funktion macht er zwischen 2001 und 2005 mehrmals Angaben zum Verbleib der drei Gesuchten. Doch niemand reagiert. Die anrüchige Neigung der einzelnen Dienste, trotz ernst zu nehmender Hinweise zum Verbleib der drei nicht zu handeln, wird uns noch an anderer Stelle beschäftigen.
Der Fall Kai-Uwe Trinkaus
Waren diese beiden Fälle, und all die anderen V-Leute in der Umgebung des Nazi-Trios, nur Missgriffe? Die ausbleibenden Reaktionen auf deren Informationen nur bedauerliche Unfälle im Behördenalltag? Gingen die Informationen in der Fülle der Spitzelberichte unter?
Dass man diese Fragen getrost mit einem „Nein“ beantworten kann, zeigt der Fall Kai-Uwe Trinkaus. Der ehemalige Kreischef der NPD Erfurt mit dem unverwechselbaren Namen outete sich 2012 von 2006 bis 2007 als V-Mann für den Thüringer Verfassungsschutz gearbeitet zu haben. Als solcher will er auf Nachfrage 2007 von seinem V-Mann-Führer eine Liste mit Namen und Adressen aktiver AntifaschistInnen in Thüringen erhalten haben. Er durfte das Exemplar denn auch gleich behalten, dessen Übergabe an den NPD- und V-Mann der Verfassungsschutzmitarbeiter, laut Trinkaus‘ Darstellung, mit den Worten: „eins auf die Finger hat noch niemandem geschadet“, kommentiert hätte.
Sollte das wahr sein? Alles erscheint inzwischen möglich und zwar nicht nur deshalb, weil sich das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz bis heute zu diesem Fall in verdächtiges Schweigen hüllt, sondern auch, weil der Landesverband der NPD eine entsprechende Liste auf seine Internetseite gestellt hatte.
Würde diese Geschichte stimmen, dann wäre wohl ein für allemal bewiesen, dass staatliche Behörden, dass der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ Nazi-Organisationen zum Kampf gegen Linke, zum Kampf gegen die Arbeiterbewegung in Stellung bringt!
Der Fall Helmut Roewer
Helmut Roewer ist kein V-Mann, das war er auch nie. Dennoch passt er gut in die Aufzählung jener, die bei der Entstehung des NSU kräftig geholfen haben.
Helmut Roewer war zwischen 1994 und 2000, also in den entscheidenden Jahren des Entstehens des NSU der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. An oberster Stelle zeichnete er verantwortlich für all das, was im Landesamt geschah. Unter seiner Ägide wurde das Landesamt umgestaltet. Kräfte zum Kampf gegen Nazis abgezogen und dem Kampf gegen „Linksextremisten“ zugeteilt.
Das kann auch kaum Verwunderung hervorrufen, bedenkt man doch, dass Roewer schon bei Antritt des Amtes erklärte, das Nazis für ihn kein Problem darstellen würden, wohl aber Autonome, linke Gewerkschafter und PDS-Mitglieder. Am „Dritten Reich“ gäbe es eben auch nicht nur schlechte Seiten, wie Roewer 1999 als Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz Thüringen feststellte, man müsse ältere Menschen verstehen, die sich auch gern an diese Zeit erinnern würden.
Und inzwischen verlegt er seine Bücher gern im Ares-Verlag, der verlegt Bücher rechtskonservativer und rechtsradikaler Autoren veröffentlicht. Beispielsweise veröffentlichte Rudolf von Ribbentrop, seines Zeichens im Zweiten Weltkrieg Offizier der Waffen-SS, dort ein Buch über seinen Vater Joachim von Ribbentrop – Hitlers Außenminister. Auch Barbara Rosenkranz darf ihre Bücher über den Ares-Verlag an Mann und Frau bringen. Sie ist Landesrätin in Niederösterreich für die FPÖ und wird dort gemeinhin als die Gallionsfigur der Rechten bezeichnet. Sie selbst sieht sich als nationalkonservativ.
In Roewers Amtszeit fällt die Anwerbung Tino Brandts, dessen „Thüringer Heimatschutz“ mit riesigen Mitteln ausgestattet wurde. Roewer selbst soll in seinem Büro gar eine Handkasse gehabt haben, aus der er nach seinem Gutdünken V-Männer bezahlte. Von bis zu 60.000 DM ist die Rede. Steuergelder für den Aufbau der militanten Rechten, unkontrolliert vergeben, ohne Abrechnung, ohne Rechenschaft!
Auch Roewer schritt auch gern selbst zur Tat. Ende der 90er Jahre gründete Roewer eine Tarnfirma, den „Heron-Verlag“. Über den flossen mehrere 100.000 DM in irgendwelche Projekte, wer alles davon profitierte, kann nur vermutet werden. Dieser Verlag drehte Ende der 90er Jahre auch einen Film, der in den Schulklassen eingesetzt werden sollte. Nicht nur, dass in diesem Film Tino Brandt auftritt und erklärt, Nazis hätten mit Gewalt nichts am Hut, auch der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz höchstpersönlich unterstützte diese Aussage, indem er erklärte, rechtsradikale Straftaten sei vor allem Propaganda- also Kavaliersdelikte. Wirklich fürchten, so das Credo des Films müsse man sich nur vor den linken Gewalttätern – Neonazi-Werbung auf Staatskosten im Klassenzimmer.
Selbst SPD-Parlamentarier bemängelten die kaum mehr stattfindende Information des Landtags durch Roewers Behörde in den 90er Jahren. Der SPD-Mann Gentzel, der sich als Parlamentarier in den 90er Jahren in der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) mit Roewer rumschlagen musste, hält gar eine direkte Unterstützung des NSU durch den Thüringer Verfassungsschutz für absolut denkbar. Schließlich sei es unter Roewer im Amt chaotisch gewesen.
Das führt letzten Endes 2000 auch zu seiner Entlassung. Später wird er wegen der Veruntreuung von Geldern sogar angeklagt. Allerdings bescheinigt ihm sein Arzt Verhandlungsunfähigkeit, weshalb das Verfahren gegen eine Zahlung von 3.000 Euro 2005 eingestellt wird.
Schon im November 2011 forderte Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) Roewer auf, endlich komplett auszupacken. Der wollte nur vor einem Untersuchungsausschuss reden. Doch nun, wo er die Gelegenheit dazu schon mehrmals hatte, sitzt seine Zunge noch immer nicht lockerer. Ganz im Gegenteil. All seine Marotten – oder wenigstens die meisten – waren irgendwie schon Thema vor dem NSU-Untersuchungsausschuss: So kleidete er sich auch schon mal mit Pickelhaube und feldgrauem Mantel, um wie ein deutscher Infanterist aus dem ersten Weltkrieg auszusehen und fuhr auch ganz gern mal Fahrrad im sechsten Stock seiner Behörde. Auf diesen Unsinn von Untergebenen angesprochen gab er zurück, er teste die neuen Observationsfahrräder für die Behörde.
Derartige Dinge weiß die Öffentlichkeit nun, doch wenn es um harte Fakten geht, lässt Roewer den parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit Vorliebe dumm aussehen. Als er von einem FDP-Mitglied nach der wahren Identität eines gewissen „Günther“ gefragt wird, der auf von Roewer ausgestellten Quittungen erscheint, also die Frage geklärt werden soll, an wen Roewer wieviel Geld gezahlt hat, entgegnet Roewer selbstzufrieden „Was geht sie das an?“ Außerdem forderte sein Arzt eine behutsame Befragung.
Roewer lässt sich – wie sollte es anders sein – seit Neuem auch schon mal von der rechts-intellektuellen „Jungen Freiheit“ interviewen. Bei der entschuldigt er sich zunächst einmal dafür, dass 1994 der Brandanschlag auf die Druckerei der Zeitung, die sich in den 90er Jahren in Thüringen befand, nicht aufgeklärt werden konnte. Doch daran sei die Polizei schuld. Ebenso wie sie dafür verantwortlich sei, dass man das Nazi-Trio nicht gefunden habe. Es sei schließlich Roewers Behörde gewesen, die der Polizei den Tipp gegeben habe, sich mit den drei Nazis zu befassen. Selbst der Generalbundesanwalt, dessen Glaubwürdigkeit jedoch auch in Frage gestellt werden kann, habe ihm bestätigt, dass nur dank seiner Arbeit heute Beweise gegen den NSU vorliegen.
Rechtskonservative unter sich: Roewer erzählt, dass er alles getan habe, um den NSU auszuheben und die „Junge Freiheit“ druckt den Mist ab! Ein Wort der Entschuldigung gegenüber den Angehörigen der Opfer, sucht man bei Roewer umsonst.
Verpasste Chancen – oder: Zugriff ungewünscht
Die Geschichte des NSU ist auch eine Geschichte der nicht erfolgten Zugriffe. Etwa ein halbes Dutzend Mal hatten LKA, BKA und Polizei die Möglichkeit zuzugreifen, die drei einfach festzunehmen, doch jedes Mal wird die Aktion unterlassen oder sie wird derartig schlampig durchgeführt, dass sie scheitern musste.
Die Reihe der ständigen Misserfolge beginnt schon an jenem ominösen 26.01.1998 in Jena, dem Tag, an dem Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die Flucht gelingt. Es ist jener Tag, über den Helmut Roewer bis heute behauptet, er und sein Thüringer Verfassungsschutz habe ihn möglich gemacht. Doch was geschah wirklich am 26.01.1998, dem Tag, an dem die Garagen von Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe durchsucht wurden?
Die Polizei hatte die drei militanten Rechten längst auf dem Schirm, nur fehlte es zur Überwachung an Personal und so erbat die Polizei ausgerechnet beim Verfassungsschutz um Amtshilfe. Diese tat, worum gebeten und observierte Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Ihre Erkenntnisse fasste sie in einem Dossier zusammen und – wie üblich, verpasste sie diesem eine Geheimhaltungsstufe – sogar eine ziemlich hohe. Zwar gab sie nun der Polizei die Information, wo die drei Waffen und Sprengstoff versteckt hätten, doch damit konnte die Polizei wenig anfangen, denn in das Dossier, in dem die Beweise für die strafrechtlich relevanten Aktivitäten der drei minutiös aufgelistet waren, durfte sie nicht hineinschauen.
Dennoch wurde ein Termin zur Durchsuchung der Garagen von Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe anberaumt. Pikanterweise werden genau zu diesem Termin Polizeibeamte, die sich schon seit Jahren mit den drei zukünftigen Rechtsterroristen auseinandergesetzt haben, abgezogen. Polizisten wie Mario Melzer, der Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt schon vor dem 26.01.1998 verhört hat und der sich bemühte, die drei ins Gefängnis zu bringen. Dass Böhnhardt vor Gericht kam und verurteilt wurde, ist Melzers Verdienst. Böhnhardt legte Rechtsmittel ein und musste die Strafe nicht antreten.
Melzer sieht sich in seiner Arbeit behindert, beschwert sich darüber, dass der Verfassungsschutz zusieht, wie die drei Bomben bauen! Warum wird ausgerechnet er am 26.01.1998 mit einem anderen Fall betraut? Andere verantwortliche LKA-BeamtInnen sind an diesem Tag auf einem Lehrgang oder haben sich kurzerhand krank gemeldet. Weder die Wohnung Uwe Böhnhardts, der noch bei seinen Eltern lebt, und auch nicht Zschäpes Auto sollen durchsucht werden.
Die Eigenartigkeiten nehmen kein Ende. Es ist, als wären Amateure am Werk! Zwar wird die Garage Böhnhardts in dessen Beisein durchsucht, doch leider wird nichts gefunden. Eine Verbindung zu Zschäpe können die Polizisten jedoch nur mit Hilfe des Dossiers vom Verfassungsschutz herstellen. Da dieses aber geheim ist, können sie Böhnhardt nicht auf der Stelle festnehmen. Wohl aber können sie Beate Zschäpes Garage durchsuchen. Nur leider ist diese verschlossen und kann erst mit Werkzeug geöffnet werden, das noch herangeholt werden musste.
Diese Verzögerung nutzt Böhnhardt angeblich, um zu verschwinden. Gegenüber seinen Eltern gibt er später an, einer der an der Durchsuchung beteiligten Beamten, hätte ihm noch gesagt, sein Haftbefehl sei unterwegs – eine indirekte Aufforderung zu verschwinden? Wer weiß!
Uwe Böhnhardt verschwindet und nimmt seine zwei Freunde mit in den Untergrund. Natürlich könnte man die drei nun verstärkt suchen, immerhin findet man in Zschäpes Garage – nachdem man sie doch noch aufbekommen hat – vier Rohrbomben mit 1,4 Kilogramm TNT. Außerdem allerlei Krimskrams, wie eine Diskette mit von den drei verfassten rassistischen Gedichten von zweifelhafter literarischer Qualität, und eine Telefonliste mit Kontakten im ganzen Bundesgebiet.
Nur kann eine Beteiligung der beiden Männer an der Rohrbombenbastelei nur mit dem Dossier bewiesen werden – für einen Haftbefehl hat man ohne das Dossier also nicht genug. Nun dauert es zwei lange Tage bis sich der Verfassungsschutz dazu herablassen kann, die Geheimhaltungsstufe des Dossiers zu verringern. Erst dann kann nach dem Trio per Haftbefehl gefahndet werden.
Im Zeitalter von Auto, Zug und Flugzeug wäre es den drei also theoretisch möglich gewesen, in diesen 48 Stunden beinahe überall hin zu gelangen. Allerdings waren sie gar nicht so weit weg. Die Flucht führt von Jena nach Chemnitz – ein paar hundert Kilometer auf der Autobahn. Man muss die A4 nicht einmal verlassen! Sie steuern dort ihre Kameraden an und finden Unterschlupf.
Dort hätte man sie leicht finden können, denn ihre Helfer stehen auf der von der Polizei beschlagnahmten Telefonliste. Nur hat die Polizei bis heute keine dieser Nummern auch nur angerufen, geschweige denn überprüft! Der Cousin von Beate Zschäpe, Stefan A., äußerte sich später dahingehend, dass er selbst die Kontakte in Chemnitz für derart gefährlich hielt, weil Polizei und Verfassungsschutz bekannt, dass er selbst in einer ähnlichen Situation nicht nach Chemnitz geflohen wäre.
Mario Melzer ist von dem skandalösen und pflichtvergessenen Vorgehen seiner KollegInnen derart entsetzt, dass er sich beschwert. Die einzige Reaktion: Er wird versetzt.
Mit dem 26.01.1998 beginnt eine nicht enden wollende Kette von verpassten Gelegenheiten zum Zugriff. Wir werden hier nur auf ein paar Fälle eingehen können.
Ein Jahr nach dem „Verschwinden“ der drei finden Thüringer Zielfahnder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Kurz vor dem Zugriff wurde das Sondereinsatzkommando zurückgerufen. Die aufgebrachten BeamtInnen werden ins Thüringer Innenministerium einbestellt – was dort besprochen wurde ist bis heute unklar. Angeblich wurden die drei sogar in Bulgarien gesichtet, eine Untersuchung des Wahrheitsgehalts dieser Meldung erfolgte nicht.
Gut vier Monate vor dem ersten Mord des NSU, Anfang Mai 2000, observierten LKA und Verfassungsschutz gemeinsam eine Wohnung in Chemnitz. Dort hilft Uwe Böhnhardt beim Umzug einer Kameradin. Wirkt er verunsichert? Hat er aus Angst enttarnt zu werden sein Aussehen geändert? Trägt er sein Haar beispielsweise länger? Nein. Er muss auch keine Sorgen haben. Die VerfassungsschutzmitarbeiterInnen machen zwar Fotos von ihm, aber – obwohl sie genau ihn suchen – können sie Böhnhardt angeblich auf den Bildern nicht identifizieren.
Im September 2000 wird Beate Zschäpe mit einem Begleiter bei einer weiteren Observation einer Wohnung vom Verfassungsschutz gefilmt. Bedauerlicherweise sei die Kamera unbemannt gelaufen und man habe das Filmmaterial erst nach mehreren Tagen ausgewertet. Noch grotesker jedoch die Version der Polizei. Diese observiert dieselbe Wohnung und filmt – wie der Verfassungsschutz, aber getrennt von diesem – den entsprechenden Hauseingang. Inzwischen bestreitet die Polizei diesen Einsatz – eine klare Lüge, noch dazu nicht abgesprochen, denn das LKA Sachsen räumt den Einsatz ein. Nur leider sei eben auch die Kamera der Polizei an diesem Tag unbemannt gelaufen. Welch Zufall!
Beate Zschäpe taucht auch später häufiger auf Bildern auf. So beispielsweise angeblich 2008 auf Reporterfotos einer Nazi-Demo, oder 2011 auf einem Werbefilm für den Zeltplatz auf Fehmarn, wo die drei Urlaub machen und auch auf Fotos von Volksfesten.
Mit Uwe Böhnhardts Eltern treffen sich die Rechtsterroristen dreimal nach ihrem Weg in den Untergrund. Überwacht werden Böhnhardts Eltern nur sporadisch, was sie sich im Rückblick auch selbst nicht erklären können.
Erinnert werden soll an dieser Stelle auch noch einmal an Thomas „Tommi“ S., angeblicher Ex-Freund von Beate Zschäpe, und erster Bombenlieferant des Trios. Zwischen 2001 und 2005 machte er in seiner Funktion als Vertrauensperson des LKA Berlin mehrmals Aussagen zum Aufenthaltsort der drei Gesuchten.
Warum erfolgte der Zugriff nie? Licht ins Dunkel könnte hier ein Dossier des Bundeskriminalamts bringen. Dort warnt das BKA davor, dass der Verfassungsschutz dazu neigen würde, seine V-Leute vor Polizeiaktionen zu schützen. Das BKA warnt auch davor, dass dies den Nazis weit mehr helfe, als den staatlichen Organen – geändert hat das nichts.
War dies wirklich der Grund für die nicht erfolgte Verhaftung? Das bleibt unklar, zumindest solange der Verfassungsschutz nicht wirklich auspackt. Eigenartig und doch passend waren jedoch Aussagen von verschiedenen (ehemaligen) Nazis, die angaben, Beate Zschäpe auch nach deren Gang in die Illegalität auf NPD-Veranstaltungen getroffen zu haben. Bei diesen Angaben soll sie gar mit ihren guten Verbindungen zum Verfassungsschutz geprahlt haben. Ein unsicherer Hinweis.
Auf dem rechten Auge blind
Es ist dramatisch, auf die Ermittlungen in Bezug auf die Morde an neun ImmigrantInnen und auf den Umgang mit dem „Nagelbombenanschlag“ in Köln zu blicken. Mag sein, dass es schwer war, den Zusammenhang zwischen dem Bombenanschlag und den Morden zu sehen, schließlich unterschied sich das Vorgehen der Täter sehr stark voneinander. Doch in all den Jahren ein fremdenfeindliches Motiv für diese Taten auszuschließen, sagt viel über den Zustand der deutschen Behörden aus.
Dabei – und das mildert das Versagen der Polizei keinesfalls, ganz im Gegenteil – erkannte man bei den Ermittlungen sehr wohl einen Zusammenhang zwischen den neun Morden an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund. Die Tatwaffe war immer die gleiche, eine tschechische Pistole Ceska 83. Auch die Nationalitäten der Opfer stachen den Ermittlern ins Auge, nur zogen sie daraus eben bedenkliche Schlüsse. Neun ImmigrantInnen werden mit derselben Waffe ermordet – sie müssen in kriminelle Strukturen verwickelt sein! Dass sie Opfer rassistischer Gewalttaten sein könnten – eine Interpretation, die bei 152 Toten durch Nazis und Rassisten seit 1990 nicht allzu weit hergeholt erscheinen dürfte – kam den PolizeibeamtInnen nicht in den Sinn.
Auch den Nagelbombenanschlag in Köln stellte der damalige Bundesminister des Innern, Otto Schily (SPD), als einem „kriminellen Milieu“ entstammend, dar. Fremdenfeindliche Motive schloss er explizit aus! Dass man nicht zwangsläufig zu diesem Ergebnis kommen musste, zeigt auch, dass Claus Ludwig, Mitglied des Kölner Stadtrats für DIE LINKE und Mitglied der Sozialistischen Alternative, schon 2004, direkt nach der Tat, einen rassistischen Hintergrund für denkbar hielt und das auch öffentlich erklärte. Und er war beileibe nicht der einzige! Nur der deutsche Staat verschloss davor konsequent die Augen. Selbst dann noch, als nach dem neunten Mord in Kassel Tausende für die Aufklärung der Mordserie demonstrieren und fordern, rassistische Tatmotive nicht weiter aus den Nachforschungen auszuschließen.
Warum? Sind rassistische Vorurteile in den Reihen der Polizei derart verhaftet, dass sie sich bei den Ermittlungen selbst behinderte? Vieles spricht dafür! Nicht zuletzt das „racial profiling“, welches dafür sorgt, dass vor allem ImmigrantInnen ins Visier von PolizistInnen u.a. bei Straßenkontrollen geraten. Nur so ist es zu erklären, dass die Familien der Opfer über Jahre hinweg mit Anschuldigungen, Unterstellungen und polizeilichen Belästigungen gequält hat, während man Beschreibungen der Täter, die diese eindeutig als Deutsche darstellen, und Filme von Überwachungskameras, die Ähnliches zeigen, ignorierte. Teilweise weigerte man sich sogar, Aussagen von Zeugen ins Protokoll aufzunehmen, wenn diese nicht den vorgefertigten Meinungen der PolizistInnen entsprachen, dass die Morde auf das Konto „krimineller Ausländer“ gingen.
Für diese „Fehler“ findet man noch die Erklärung falscher Präferenzen der Ermittler – und seien diese eben rassistisch. Schlimm genug! Doch eine „Panne“ ist so leicht eben nicht zu erklären: Bei der Analyse der Projektile fand die Polizei nicht nur einfach den Typ der von den Mördern verwendeten Schusswaffe heraus. Sie entdeckten auch, dass es sich um eine besondere Baureihe der Ceska 83 handelte. Ausgerüstet mit Schalldämpfer waren nur 55 Stück für die DDR produziert worden. Zehn Stück fallen heraus, sie fand das BKA nach der Wende im Besitz der „Stasi“. Der Rest ging in die Schweiz – auch das wusste man!
Diese Spur war der einzige echte Hinweis für die Klärung des Falles, der rassistisch-verharmlosend als „Döner-Morde“ bezeichnet wurde. Man ermittelt sogar die Schweizer Käufer der Waffenlieferung und nur genau einer konnte keine Angaben über den Verbleib seiner Ceska 83 mit Schalldämpfer machen. Damit geben sich die Ermittler zufrieden! Noch einmal: Man kannte den Verbleib von 54 von 55 möglichen Tatwaffen und derjenige, der nicht wusste wo seine Ceska 83 war, der wurde einfach nicht weiter behelligt!
Erst nachdem das Trio aufflog, gab Anton G., so der Name des Waffennarrs aus der Schweiz, gegenüber der Polizei zu, er habe die Waffe an Hans-Ulrich M. gegeben. Beide kannten sich aus einem Motorradklub.
Hätte die Polizei sich darum bemüht, diese Information eher zu bekommen, sie hätte schon an dieser Stelle misstrauisch werden können, denn Motorradklubs spielen bei der Beschaffung von Schusswaffen für deutsche Nazis nach wie vor eine herausragende Rolle. Doch man hatte ja nicht gefragt, und so wusste man nicht und wurde auch nicht misstrauisch.
Anton G. gab sogar zu Protokoll, von M. erfahren zu haben, dass die Waffe wieder nach Deutschland gehen solle. Hans-Ulrich M. kannte dann wiederum einen gewissen Enrico T., der mit Uwe Böhnhardt befreundet war und diesem wohl schon in den 90er Jahren die Tatwaffe ausgehändigt hatte. Die Ex-Freundin von Hans-Ulrich M. hatte darüber schon in den 90er Jahren gegenüber der Polizei ausgesagt und M. war ein polizeibekannter Waffenschmuggler.
Wieso die Polizei dieser Spur nicht nachging, wissen wohl nur die mit der Ermittlung damals betrauten PolizistInnen. Hätten sie die Nachforschungen ernster genommen, vielleicht wären sie auch eher auf die Beteiligung Ralf Wohllebens, bis 2008 Funktionär der Thüringer NPD, gestoßen. Der soll bei der Beschaffung von Waffen für das Trio eine zentrale Rolle gespielt haben.
Die Hinrichtung der Michèle Kiesewetter
Bei den Taten des NSU stellt der Mord, oder sollte man sagen: die Hinrichtung der Michèle Kiesewetter, die mit weitem Abstand eigenartigste dar. Das ist auch der einzige Grund, weshalb er hier eine besondere Erwähnung findet, nicht weil diese Tat eine andere Bedeutung oder das Opfer anders zu bewerten wäre, als die anderen. Der Tod aller hat nicht zu schließende Lücken gerissen. Und einen wirklichen Trost wird wohl keiner der Angehörigen finden.
Der „Heilbronner Polizistenmord“, wie die Tat gemeinhin seit 2007 genannt wird, steckt an sich voller Rätsel. Gewiss, die neun anderen auch. Doch am Tod von Michèle Kiesewetter scheint nichts, aber auch gar nichts so recht zusammenpassen zu wollen! Und dass gerade staatliche Stellen sich in Verdunkelung, Verschleierung und falschen Verdächtigungen üben, erschwert die Aufklärung weiter.
Fakt ist, dass der Mord aus dem Profil der Gruppe herausfällt. Kiesewetter war Polizistin und keine Immigrantin! Doch was gilt überhaupt als gesichert?
Michèle Kiesewetter stammte aus Thüringen, so wie ihre vermeintlichen Mörder. Sie war Polizistin und tat Dienst in Heilbronn. Am 25. April 2007 hatte sie eigentlich frei. Doch da eine Kollegin erkrankt ist, schiebt sie freiwillig und kurzfristig Dienst.
Sie und ihr männlicher Kollege machten an diesem Tag auf einem Parkplatz Pause. Die Mörder schlichen sich von hinten an, erschossen Kiesewetter und verletzten ihren Kollegen schwer. Bis heute kann er sich an den Tathergang nur bruchstückhaft erinnern. Die Mörder entrissen ihren Opfern Dienstwaffen und Handschellen, danach flohen sie.
Schon kurz darauf ist der „Heilbronner Polizistenmord“ ein Medienereignis. Bilder von Menschen in weißen Overalls, die den Tatort untersuchen; von trauernden KollegInnen und von der Beerdigung laufen im Fernsehen. Doch dann geschehen eigenartige Dinge: Die Berichterstattung ebbt plötzlich ab. Informationen gelangen, wenn überhaupt, dann nur noch spärlich an die Presse. Irgendwann verortet man die Täter im Milieu des organisierten Verbrechens, phantasiert gar von Verbindungen der Opfer mit demselben. Ein zynischer Gleichklang zum Umgang mit den anderen Opfern des NSU!
Zwischenzeitlich wird als Täterin eine Frau gesucht, die im gesamten Bundesgebiet schon zahlreiche weitere Verbrechen begangen haben sollte. Die Ursache dieser Panne wird noch vor Aufdeckung des NSU augenscheinlich: Ein Wattestäbchen, mit dem DNA-Proben genommen wurden, war verunreinigt.
In viereinhalb Jahren kam die Polizei der Klärung des Mordes nicht näher. Erst als Böhnhardt und Mundlos in ihrem Wohnmobil tot aufgefunden werden, gilt die Tat als geklärt.
Warum wird dieser Mord überhaupt dem NSU zugeschrieben? Auf der Bekenner-DVD, die Beate Zschäpe nach dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos an verschiedene Stellen schickt, findet er explizit Erwähnung. Die Dienstwaffe von Michèle Kiesewetters schwer verletztem Kollegen wird im Film wie eine Trophäe präsentiert. Warum allerdings ausgerechnet diese Pistole und nicht jene der Ermordeten, diese „Wertschätzung“ erfährt, bleibt unklar. Böhnhardt und Mundlos führen die Waffen der beiden Polizisten mit sich, als sie sich im Wohnmobil das Leben nehmen. Aus welchem Grund sie sie dabei gehabt haben sollen, lässt sich nur erraten. Außerdem finden die Ermittler in der von Beate Zschäpe gesprengten Wohnung in Zwickau im Brandschutt die Handschellen der ermordeten Polizeibeamtin und ihres verletzten Kollegen. Und nicht zuletzt: Laut Zeugenaussagen fliehen die Täter vom Heilbronner Parkplatz mit Fahrrädern.
Doch klärt das den Mord wirklich auf?
Motiv, Möglichkeit und Mittel sind die drei Stützen einer Morduntersuchung. Hatte ein Täter die Mittel, um einen Mord zu begehen, in seinem Besitz; fehlte ihm auch nicht die Gelegenheit? Und schließlich: Hatte er ein Motiv?
Hatten die drei Rechtsterroristen die Mittel diesen Mord zu begehen? Ohne Frage, sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Allerdings wäre auch hier die Frage zu stellen, weshalb sie nicht die Ceska 83 verwendeten, so wie bei den neun anderen Morden? Um den Zusammenhang zu verdecken? Das wäre ihnen dann gelungen, denn eine Verbindung zwischen den sogenannten „Döner-Morden“ und dem „Heilbronner Polizistenmord“ stellte niemand her. Niemand? Wir werden noch sehen, dass niemand nicht stimmt!
Hatten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die Möglichkeit, die Tat zu begehen? Und bei dem Versuch diese Frage zu beantworten, fangen die Merkwürdigkeiten an. Ja, sie waren in der Stadt, hatten einen Banküberfall begangen. Nur, hatten sie wirklich die Möglichkeit eine kurzfristige Änderung im Dienstplan zu kennen, zu wissen, dass Kiesewetter im Dienst und zu dieser Zeit, an genau der Stelle sein würde? Woher wussten sie das? Hatten sie die Tat geplant und deshalb die Ceska 83 nicht mit dabei? Oder wollten sie gar nicht diese eine Polizeibeamtin und/oder ihren Partner erwischen? Geschah der Mord ohne Vorbereitung, einer plötzlichen Eingebung folgend? Erlebte Böhnhardt einen seiner Aggressionsschübe, für die er vor dem Abtauchen des Trios so berühmt und durchaus gefürchtet war?
Und damit sind wir bei genau der Frage, deren Beantwortung die größten Schwierigkeiten bereitet: Warum musste Michèle Kiesewetter mit 22 Jahren sterben? Die von offizieller Seite angebotenen Erklärungsversuche sind bislang allesamt eher abwegig oder gelten inzwischen als widerlegt. Nach einer Theorie wollte das „Terror-Trio“ an die Dienstwaffen der beiden Polizisten gelangen. Wozu? Im letzten „Versteck“ der drei und im Wohnwagen, bei den Leichen Uwe Mundlos‘ und Uwe Böhnhardts wurden insgesamt 20 Schusswaffen und genügend Munition entdeckt. Wozu also die Waffen? Sie waren nicht darauf angewiesen, sich Pistolen auf solch riskante Art und Weise zu beschaffen. Nein, das ist kein Motiv!
Als nächstes wurde über eine Beziehungstat spekuliert. Kiesewetter soll ihre Mörder gekannt haben. Gar über Verstrickungen ihrer Familie in den braunen Sumpf wurde öffentlich gemutmaßt. Angeblich fürchtete Böhnhardt, von der Polizistin identifiziert werden zu können. Ein imposanter Zufall, der da konstruiert wurde: Kiesewetter und Böhnhardt, die einander persönlich kennen, begegnen sich auf einem Parkplatz in Heilbronn und Böhnhardt schießt dann zuerst. Inzwischen ist diese Theorie restlos vom Tisch, sie war reine Fiktion.
Waren diese zwei Theorien Versuche den eigentlichen Ablauf zu verdecken? Wollte man die Tat als bloßen Zufall darstellen, um das wirkliche Motiv im Dunkeln zu lassen? Und wieder: Alles scheint möglich!
Noch etwas passt nicht zu einer Zufallstat: Böhnhardt und Mundlos haben mit den Pistolen und den Handschellen Trophäen vom Tatort entfernt. Als würden sie zeigen wollen: Wir haben einen großen Feind erledigt, ein kräftiges Tier erlegt… In jedem Fall ist auch das untypisch für die Taten des Trios. Bis dahin hatten sie manchmal auf ihre perverse Art Fotos der Ermordeten gemacht, aber nie hatten sie etwas mitgenommen.
Auch die Polizei konnte sich keinen rechten Reim auf all das machen. Acht Tage nach dem Mord befragten sie Michèle Kiesewetters Patenonkel – auch er Polizist – zum Mord in Heilbronn. Er war als Staatsschützer jahrelang mit den Ermittlungen gegen den „Thüringer Heimatschutz“ betraut. Bei der Befragung gab er etwas zu Protokoll, was unbeachtet blieb: Der Mord an Kiesewetter stehe seiner Meinung nach in Verbindung zur Mordserie an türkischen und griechischen Kleinunternehmern. Und wieder erfolgte keine nähere Untersuchung dieser Aussage.
Doch wenn schon im Mai 2007 bei einer Vernehmung ein Zeuge eine solche Aussage macht, dann muss er etwas gewusst haben. Zumindest in Ansätzen mussten ihm Hintergründe geläufig sein. War ihm etwas zu Ohren gekommen? Hatte er bis dahin selbst nicht glauben wollen, was er wusste und schien es ihm erst nach der Bluttat geläufig?
Woher hatte der Patenonkel Kiesewetters Kenntnis von diesem Zusammenhang? Etwa von jener Thüringer Polizistin, die sowohl mit ihm als auch mit Michèle Kiesewetter bekannt war und die nachweislich Neonazi-Aktivitäten deckte? Zwischen 2009 und 2011 war sie gar vom Dienst suspendiert, weil sie unter Verdacht stand, Dienstgeheimnisse verraten zu haben. Hatte Kiesewetter etwas gefunden, was sie hätte besser nicht finden sollen? Hatte sie darüber Leute ins Vertrauen gezogen, denen sie niemals hätte vertrauen dürfen?
Es sind Spekulationen und inzwischen hüllt sich ihr Patenonkel, der helfen könnte all das zu entwirren, in hartnäckiges Schweigen.
Unbestreitbar bleibt wohl, dass Kiesewetter sich in Gefahr befand, wenn sie mehr wusste als sie sollte. Denn auch zwei Kollegen ihrer Dienststelle waren nachweislich Mitglieder der deutschen Sektion des rassistischen Ku Klux Klans, der in den USA für zahlreiche Morde an Afro-AmerikanerInnen, Linken und GewerkschafterInnen verantwortlich ist. Einer dieser Polizisten war Kiesewetters direkter Vorgesetzter. Die zwei Kollegen mit rechter Gesinnung nahmen auch an Feierlichkeiten des europäischen Ablegers des Klans teil. Genauso wie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, bevor sie abgetaucht waren – ist das der Zusammenhang? Lieferten diese beiden Kiesewetter ans Messer?
Einer der beiden Rassisten mit Polizeiuniform, der auch noch Gruppenleiter war, befand sich, nach eigener Aussage, zum Tatzeitpunkt am Bahnhof von Heilbronn. Dort scheint ihn auch eine Überwachungskamera gefilmt zu haben. Letzte Zweifel bleiben, da die Bildqualität zu schlecht ausfällt. Doch zu wissen, ob der Mann auf den Bildern dieser Beamte ist, wäre ebenso wichtig wie zu wissen, wer die Frau ist, die diesen Mann begleitet. Dem Aussehen nach könnte es sich um Beate Zschäpe handeln.
Hat es sich so abgespielt? Könnte es sein, dass Kiesewetter gegen Rechtsradikale ermittelt hatte und die beiden Ku-Klux-Klan-Mitglieder, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, bekamen davon Wind? Reichte das allein aus, damit sie sterben musste, oder hatte sie noch mehr entdeckt? Etwa das, was hinter der rassistischen Mordserie steckte?
Sehr Vieles bleibt unklar und ist kaum zu entwirren. Fest steht, dass die Ermittler 2007 zu dem Ergebnis kamen, dass bis zu sechs Personen an dem feigen Mord beteiligt gewesen sein könnten – das Terror-Trio und eine Anzahl von Helfern aus der Reihe der Polizei, aus Kiesewetters eigenem Revier?
Schon vor der Sommerpause 2012 forderte der Untersuchungsausschuss des Bundestages die Akten an, die die hessische Polizei zum Mord an Kiesewetter in ihren Archiven gelagert hatte. Nur unvollständige Bestände kamen in Berlin an. Nach der Sommerpause wollte man sich verstärkt auf den Mord in Heilbronn konzentrieren. Gerade die Aussage des Patenonkels hielt man für höchst interessant. Weiter kam man aber seither nicht, nicht zuletzt auch deshalb, weil noch immer Akten fehlen.
Offiziell gilt „Hass auf den Staat“ als Tatmotiv. Ob und inwieweit das stimmt, könnte die Aussage noch einer weiteren Person feststellen helfen: Beate Zschäpes. Doch sie schweigt weiter beharrlich, wahrscheinlich auch auf Anraten ihrer Anwälte. Als sich Zschäpe im November 2011 der Polizei stellte, hatte sie noch angegeben, auspacken zu wollen. Immer wieder wurde die „Lebensbeichte“ der Beate Zschäpe angekündigt und dann doch wieder verschoben. Bis heute hat sie keine Angaben zu den Geschehnissen, den Sprengstoffanschlägen, den Morden gemacht.
Eines sei noch erwähnt: Ob nun in den Mord an Michèle Kiesewetter verwickelt oder nicht, die beiden Polizeibeamten mit der Vorliebe für Ku-Klux-Klan-Feiern, sind weiterhin im Dienst.
Die Farce der Untersuchung
Zurzeit scheint es mehrere Stränge zu geben, die die „Angelegenheit“ NSU untersuchen: Die Untersuchungsausschüsse von Sachsen, Thüringen und dem Bund, sowie die Ermittlungen um den Fall Beate Zschäpe und interne Ermittlungen in den einzelnen Behörden. Zur wirklichen Aufklärung werden wohl am ehesten die Untersuchungsausschüsse beitragen, aber auch diese offenbaren eklatante Schwächen.
Die internen Untersuchungen innerhalb der Landesämter, des Bundesamtes, des Staatsschutzes, des LKA und BKA ernst zu nehmen, fällt angesichts von mehreren Wellen von Aktenvernichtungen äußerst schwer. Bisher kam von dieser Seite noch nicht einmal ein Wort des Bedauerns für die Vorfälle. Einzige Ausnahme ist hier bislang Heinz Fromm. Zwischen Juni 2000 und Juli 2012 war er Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Als Reaktion auf die immer wieder kehrenden nicht genehmigten Aktenvernichtungen, in deren Verlauf auch den NSU betreffende Unterlagen zu Schnipseln verarbeitet wurden, bat Fromm im Juni 2012 um seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand. Vor dem Untersuchungsausschuss bat er die Angehörigen nicht nur um Verzeihung und stellte fest, dass die ganze Angelegenheit das Ansehen seines Amtes schwer geschadet habe – was angesichts der Schwere der NSU-Verbrechen eher weniger ins Gewicht fällt. Er stellte auch fest, dass die Folgen der Affäre für „die Funktionsfähigkeit des Amtes nicht vorhersehbar sind“. Zudem äußerte er den Verdacht, dass im Verfassungsschutz Vertuschungsaktionen laufen würden. Man kann also festhalten, dass selbst der ehemalige Präsident des Bundesamtes des Verfassungsschutzes sich wenigstens indirekt über die Erfolgsaussichten dieser Untersuchung eher negativ ausließ.
Der Prozess gegen Beate Zschäpe, der nicht zuletzt wegen des unangemessen verlaufenen Akredditierungsverfahrens der Pressebeobachter ins Gerede kam und dann verschoben werden musste, wird sich – wie in Strafprozessen üblich – nur mit der individuellen Schuld der Angeklagten befassen. Damit sind alle weiteren Fragen, wie das genaue Verhalten der Sicherheitsorgane, die Rolle der NPD, die Frage nach der Herkunft des Sprengstoffs usw., ausgeklammert.
Doch auch die Untersuchungsausschüsse werden kaum das wahre Ausmaß der ganzen Angelegenheit ans Tageslicht befördern. Untersuchungsausschüsse werden im Bund nach Artikel 44 des Grundgesetzes und nach Paragraph 57 der Geschäftsordnung des deutschen Bundestages gebildet. In den Ländern gibt es hierzu jeweils gleich bzw. ähnlich lautende, gesetzliche Bestimmungen. Diese geben den Untersuchungsausschüssen scheinbar weitreichende Kompetenzen, doch bei genauerem Hinsehen sind die Grenzen des Tätigkeitsfeldes der Untersuchungsausschüsse sehr eng gezogen: Nach Art. 44 Abs. 3 des Grundgesetzes sind Gerichte und Verwaltungsbehörden „[…] zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet“. Doch wie weit geht diese? Wo beginnt und wo endet sie? Ein ständiges Ärgernis der Untersuchungsausschüsse sind geschwärzte Stellen in Unterlagen, nur teilweise den Ausschüssen ausgehändigte Akten – so beispielsweise im Fall Michèle Kiesewetter, der in Heilbronn mutmaßlich von NSU-Mitgliedern ermordeten Polizistin. Ist das dann schon „Rechts- und Amtshilfe“? Zumindest haben die Untersuchungsausschüsse wenige Möglichkeiten, sich gegen ein solches Vorgehen zur Wehr zu setzen.
Zudem sind nach Absatz 4 des Artikels 44 die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse „[…] der richterlichen Erörterung entzogen. In der Würdigung und Beurteilung des der Untersuchung zugrunde liegenden Sachverhaltes sind die Gerichte frei.“ Soll heißen: Gerichte können, aber sie müssen die Ergebnisse der Arbeit dieser Untersuchungsausschüsse nicht verwenden! Irgendwelche Zwangsmaßnahmen können Untersuchungsausschüsse ebenso wenig anordnen, wie sie Urteile sprechen dürfen. Im Grunde sind sie darauf angewiesen, dass man mit ihnen zusammenarbeiten möchte. Sollte den betroffenen Behörden der Wille zur Aufklärung fehlen, wird die Arbeit eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses dementsprechend schwer.
Grund dafür: Artikel 20 des Grundgesetzes. Dort ist in Absatz 3 die heilige Kuh des deutschen Verfassungsstaates festgeschrieben, die Gewaltenteilung. Die öffentliche Gewalt gliedert sich in drei Bereiche: Gesetzgebende, Rechtsprechende und Ausführende. Somit darf ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der naturgemäß Teil der Gesetzgebenden ist, keine rechtsprechenden Kompetenzen auf sich vereinen. Sollte er also, weil er doch irgendeine bisher unbekannte Spur aufgedeckt hat, schnell reagieren müssen, ist er an lange Prozedere gebunden, denn Zugriffe, Durchsuchungen, Beweisaufnahmen usw. darf er nicht anordnen.
Im Angesicht dessen sticht das Beispiel des Thüringer Innenministers Jörg Geibert (CDU) positiv hervor. Er ordnete die Übergabe von über 700 Aktenordnern an den Untersuchungsausschuss des Bundestages an, die keinerlei Schwärzungen enthielten. Damit bleibt Geibert die absolute Ausnahme. Den Verfassungsschutz schien das übrigens extrem zu stören. Noch als der Laster nach Berlin unterwegs war, versuchte dieser die Übergabe der Aktenordner zu verhindern.
Neben der geringen Bereitschaft der Behörden, mit den Untersuchungsausschüssen zusammenzuarbeiten, erschwert deren hohe Affinität zum Aktenschreddern die Arbeit der Ausschüsse immens! Inzwischen sind auch eine ganze Reihe von unwiderbringlichen Papieren vernichtet worden: Beispielsweise handschriftliche Notizen von VerfassungsschutzmitarbeiterInnen über Gespräche mit V-Leuten. Sollten die involvierten Personen nicht auspacken, wird es schwer fallen, etwas über deren Inhalt zu erfahren. Selbst dann dürfte es echte und erfundene Gedächtnislücken geben usw.
Dürftig auch die Quellenlage in Bezug auf einen Verfassungsschutzmitarbeiter, der mindestens bei einem der Morde am Tatort gewesen sein soll. Als am 6.April 2006 Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel ermordet wird, ist der erwähnte Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz zugegen. Angeblich surft Andreas T. auf Dating-Seiten. Er tut das in einem Internetcafé, weil er nicht will, dass seine schwangere Frau davon Wind bekommt.
Wenig später wird er gar von der Polizei verhaftet. Er will von den Schüssen, die Yozgat getötet haben, nichts gehört haben. Das macht ihn doppelt verdächtig, denn zum Einen ist er der Einzige, der Café-Besucher, der die Schüsse nicht bemerkt haben will, zum Anderen ist die Ceska 83 mit Schalldämpfer im Grunde eine Fehlkonstruktion: Sie ist trotz Schalldämpfer sehr laut, nach Schusstests der Polizei etwa 100 Dezibel.
Als der Verfassungsschutzmitarbeiter das Internetcafé verließ, liegt Yozgat bereits tot hinter dem Tresen. Der Geheimdienstmann hingegen will den Leichnam nicht gesehen haben. Diese eigenartigen Angaben veranlassen die Polizei zu seiner Festnahme. Nach 24 Stunden wird er wieder frei gelassen.
Auch nach Aufdeckung des NSU reißen die Eigenartigkeiten nicht ab: Die Polizei untersucht den Fall erneut. Ein Bewegungsprofil ergibt, dass der Verfassungsschützer auch an fünf weiteren Tatorten gewesen sein könnte – was die Polizei groteskerweise als entlastend wertet. An den anderen Tatorten sei er ja nicht gewesen.
Immerhin, der Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz scheint klar eine rechte Gesinnung zu haben: Eine Hausdurchsuchung ergab, dass er gern Nazi-Schmöker las und auf seiner Dienststelle war der Mann als „kleiner Adolf“ bekannt. Was da wie dahintersteckt, könnte nur der Verfassungsschutz aufklären, doch der ist mehr mit Aktenvernichtung beschäftigt, weshalb auch die Untersuchungsausschüsse den Nebel nicht lüften können.
In zwei weitere Richtungen scheint im Moment gar nicht ermittelt zu werden: Zum Einen lebte gut 40 Kilometer vom letzten Versteck der drei Rechtsterroristen entfernt ein gewisser Karl-Heinz Hoffmann. Er war in den 80er Jahren Führer der rechtsradikalen „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Ihr werden Verwicklungen in mehrere Anschläge, unter anderem das schreckliche Attentat auf das Oktoberfest im Jahr 1980, nachgesagt.
Hoffmann unterhält inzwischen eine von EU-Geldern geförderte Schafzucht. Derweil hat er seinen alten Überzeugungen wohl nicht abgeschworen und ist gern gesehener Redner auf Veranstaltungen der „Jungen Nationaldemokraten“, der Jugendorganisation der NPD. Bereits Hoffmann schlug für den rechten Terrorismus ein Vorgehen vor, welches den späteren Ideen von „Combat 18“, dem bewaffneten Arm des Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“ aufs Haar zu gleichen scheint: Kleine Zellen im Untergrund, drei Leute nicht mehr, nur jeweils einer von ihnen hat den Kontakt zu einer weiteren Terrorzelle in der Nähe.
Bislang wurde Karl-Heinz Hoffmann noch nicht einmal einer Befragung zu möglichen Kontakten zum NSU unterzogen.
Ein weiterer verlorengegangener Zweig in dieser Verästelung: „PC-Records“ – ein rechtes Musiklabel in Leipzig. Verlegt werden dort auch die Machwerke der Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“. Die Mitglieder dieser Nazi-Combo sind bislang vollkommen unbekannt. Aber sie nahmen nachweislich schon 2010 – also gut ein Jahr vor Aufdeckung des NSU – bei „PC-Records“ das Lied „Döner-Killer“ auf. „Neun mal hat er bisher brutal gekillt“, heißt es dort, „doch die Lust am Töten ist noch nicht gestillt.“ Und: „Der Döner bleibt im Halse stecken, denn er kommt gerne spontan zu Besuch, am Dönerstand, denn neun sind nicht genug.“ Eine Durchsuchung der Räume des Labels gab es nicht.
Es gibt noch weitere Richtungen, in die nicht oder nur unzureichend ermittelt wird: Woher kam der Sprengstoff genau, welche Verwicklungen gibt es zum kriminellen Rocker-Milieu, u.a. nach Schleswig-Holstein.
Doch eine Frage brennt besonders unter den Nägeln: Woher kommen all die Erkenntnisse, all das Wissen, was jetzt schon an die Öffentlichkeit kam? Nach Aussagen eines Feuerwehrmannes, der beim Brand löschen half, war das Feuer derart heiß, dass er sich schwer vorstellen konnte, dass man all die Erkenntnisse ausgerechnet von Datenträgern zog, die in diesem Feuer gelegen hatten. André Schultz, Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter, warf dem Generalbundesanwalt gar vor, eine Art von „Versteckspiel“ aufzuführen. Er und seine MitarbeiterInnen hätten jahrelang um Informationen zu den drei gesuchten Rechtsterroristen gebeten, doch die Generalbundesanwaltschaft habe nur abgewunken. Kurze Zeit nachdem der NSU enttarnt wurde, habe der Generalbundesanwalt dann plötzlich 24 Aktenordner zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe vorgeführt – soll das glaubwürdig sein? Hatte man schon vor dem November 2011 ausreichende und sogar ziemlich viele Informationen zu den drei?
Auch den offenkundigen Spuren, die zur NPD führen, wird nur mit angezogener Handbremse nachgegangen. Dabei weist Vieles in diese Richtung: Ralf Wohlleben, der als einer der Mitangeklagten auf der Anklagebank sitzt, war jahrelang hoher NPD-Funktionär in Thüringen. Der „Thüringer Heimatschutz“, in dem sich Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in den 90er Jahren bewegten, war – wie dieser selbst gern einräumte – NPD-nah. Verschiedene personelle Überschneidungen zwischen THS und NPD garantierten diese Nähe.
Nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden gehörten (oder gehören?) zum NSU-Netzwerk etwa 100 Personen. Mit dabei sind neben Wohlleben auch weitere NPD-Funktionäre. Sogar NPD-Vize Frank Schwerdt und Patrick Wieschke, NPD-Kader aus Thüringen.
Die Untersuchung mag wichtig sein, doch dass sie das wahre Ausmaß der ganzen NSU-Affäre zutage fördert, muss doch ernsthaft bezweifelt werden. Solange die Behörden durch niemanden gezwungen werden können zu kooperieren, werden die Ergebnisse eher unzureichender Natur sein.
Was müsste geschehen?
Um wenigstens eine Chance zur wirklichen Aufklärung der Vorfälle zu haben, müsste die Arbeit der Untersuchungskommissionen in die Hand einer Körperschaft gelegt werden, die die Arbeit aller Behörden und der Polizei von außen begutachten könnte. Vor allem müssten Leute in dieser Kommission sitzen, die ein wirkliches Interesse an der Aufklärung der Vorwürfe haben. Das sind vor allem jene, die sich der NSU zu Feinden erkoren hat: Immigrantenverbände, linke Organisationen und Gewerkschaften. Anstelle der drei Untersuchungsausschüsse, zwischen denen Reibungsverluste programmiert wären, müsste es ein Gremium geben.
Selbst, wenn man diesem keine richterlichen Befugnisse einräumt, müsste es wenigstens die Möglichkeit haben, Festnahmen, Vorführungen von ZeugInnen, Beschlagnahme von Akten in allen unter Verdacht stehenden Behörden und Durchsuchungen anzuordnen, um gemachte Erkenntnisse vor der Verschleierung frischer Spuren verwerten zu können. Die Tagungen müssten öffentlich sein und sollten – ähnlich den Verhandlungen um „Stuttgart 21“ im Fernsehen ausgestrahlt werden. Geheimhaltung hilft nur denen, die verschleiern wollen!
Aber auch über die unmittelbare Bearbeitung des Falls hinaus müssen wir Forderungen aufstellen. Zentral bleibt dabei die ersatzlose Abschaffung des Verfassungsschutzes! Sollte er wirklich nichts gesehen haben, dann ist er unfähig und gehört aufgelöst, sollte er beim Morden geholfen haben, dann ist er gefährlich und gehört ebenso aufgelöst!
Doch selbst, wenn wir derartige Dinge nicht durchsetzen sollten, so müsste gerade DIE LINKE, aber auch die Gewerkschaften ernsthaft darüber nachdenken, den Anstoß zur Bildung einer Kommission zu liefern, die die gesamte Angelegenheit kritisch und unabhängig überprüft: Offene Fragen und Widersprüche aufzeigt und denen eine Stimme gibt, die in den Prozessen nicht oder kaum gehört werden.
Und schließlich: Der Kampf gegen Faschismus und Rassismus muss verbunden werden mit dem Kampf gegen deren sozialen Ursachen. Letztlich bedeutet das, für die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft zu kämpfen, die Armut, Erwerbslosigkeit und Perspektivlosigkeit hervorbringt und Spaltungsmechanismen und Sündenböcke braucht, um die eigene Herrschaftsstruktur zu sichern. Dazu bedarf es einer starken sozialistischen Partei. DIE LINKE ist heute der einzige Ansatzpunkt zum Aufbau einer solchen Partei, deshalb sind SAV-Mitglieder in der Partei aktiv und helfen, ihren sozialistischen und kämpferischen Flügel zu stärken.