Do 04.02.2010
In der letzten Woche des Jahres 2009 erlebte das iranische Regime die größten Protestdemonstrationen seit dem Sommer. Trotz einer enormen Repressionswelle, etlichen Toten und Hunderten von Verhafteten hielten die Massendemonstrationen einige Tage lang an. Der revolutionäre Prozess spitzt sich zu und lässt Fragen nach Organisierung und Programm aufkommen.
Das Begräbnis von „Großajatollah” Hossein-Ali Montazeri am 21. Dezember wurde zum Massenprotest gegen das Regime. Hunderttausende, vielleicht sogar eine Million Menschen, legten die heilige Stadt Ghom lahm, in der das Begräbnis stattfand. Die DemonstrantInnen skandierten: „Tod dem Diktator“. Einige richteten ihre Rufe gegen Präsident Ahmadinedschad, andere gegen den „obersten Führer“ Chamenei. Trotz Angriffen der Sicherheitskräfte konnten sie nicht dazu gezwungen werden, damit aufzuhören.
Die Massenbewegung ging in den folgenden Tagen weiter, so auch die Repression. Ex-Präsident Khātami wurde am 26. Dezember auf seinem Weg zu einer Versammlung mit Schlagstöcken und Pfefferspray angegriffen. Ebenfalls von den Sicherheitskräften attackiert wurde eine studentische Nachrichtenagentur, die ISNA. Dabei handelte es sich um Versuche, weitere Proteste zu unterbinden.
Doch die Repression blieb ohne Erfolg. Hunderttausende Oppositionelle gingen am 27. und 28. Dezember erneut gegen das islamistische Regime und seinerFührer auf die Straße. Weil die Diktatur alle Formen von Versammlungen und politischen Zusammenkünften für jeden Tag des Jahres verboten hatte, wurde der der schiitisch-muslimische Feiertag Ashura am Sonntag, dem 27. Dezember, in diesem Jahr überall im Land dazu genutzt, um politischen Protest nach außen zu tragen. Einige Monate zuvor schon waren Tausende anlässlich des Jerusalem-Tages im September, am Jahrestag der Besetzung der US-Botschaft Anfang November und abermals am Tag des Studenten am 7. Dezember auf die Straßen Teherans und anderer Städte gegangen.
Am 27. Dezember kam es zu Demonstrationen in Täbris, Kermānschāh, Isfahan, Ghom, Ahvaz, Najaf Abad und anderen Städten. Die größte davon fand in Teheran statt, von der nach unterschiedlichen Berichten bekannt wurde, dass das Militär das Feuer eröffnete und acht bis fünfzehn Menschen erschoss. Insgesamt wurden 300 Personen verhaftet.
Laut persian2english.wordpress.com, einer Webseite, die Texte von Farsi ins Englische übersetzt, haben bis jetzt bei verschiedenen Protesten über 2.000 Verhaftungen stattgefunden (Quelle: Iran News Agency, 30. Dezember 2009). Sechs JournalistInnen wurden nach dem 27. Dezember inhaftiert und von weiteren 200 wird berichtet, dass sie als gesucht gelten.
Am 29. Dezember protestierten mehr als einhundert Familien von Verhafteten vor dem berüchtigten Evin-Gefängnis. Am Folgetag beteiligten sich 500 Menschen an dem Protest. Iran ist das Land, das gemessenen an der Einwohnerzahl die meisten Todesstrafen vollstreckt. Und seit den Massenprotesten in diesem Sommer hat die Zahl merklich zugenommen. Gegen die Hinrichtungen wurden Proteste organisiert, hauptsächlich von Exil-IranerInnen. In Schweden organisierte die Rättvisepartiet Socialisterna (schwedischen Sektion des CWI) Straßenproteste zusammen mit den Iranischen Sozialistischen Studierenden.
Die Proteste am 27. Dezember und im Juni stachen besonders hervor, was deren Ausmaß und die Tatsache angeht, dass TeilnehmerInnen daran bei Zusammenstößen auf der Straße ums Leben kamen. In den vergangenen sechs Monaten ist es zur größten Protestwelle seit der Revolution von 1979 gekommen.
Die Erwartung, Ahmadinedschad würde die Wahlen vom Juni verlieren, entfachte schließlich die Massenbewegung, als die Behörden behaupteten, er habe doch gewonnen. Sein Hauptwidersacher Mussawi (selbst Teil der herrschenden Elite und als Premierminister in den 1980er Jahren verantwortlich für Massenmorde) wurde zu einem „grünen Schutzschirm“ für die Bewegung, die ihn in ihren Forderungen rasch übertraf. Mussawi stellte keine wirkliche Alternative bei den Wahlen dar und hat den heute Unterdrückten nichts anzubieten.
„Die wichtigsten Oppositionsführer Mir Hossein Mussawi, Mohammad Khātami und Medhi Karrubi [...] sind weit davon entfernt, ‘Volkshelden’ zu sein. Sie werden - um es mit den Worten eines französischen Journalisten zu sagen - vielmehr ‘als Mittel zum Zweck für den Protest gegen das Regime’ gesehen. Man könnte sie auch Oppositionsführer wider Willen nennen“, schrieb die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter in einem Kommentar.
Die meisten DemonstrantInnen sind jung und viele von ihnen sind Frauen. Arbeitslosigkeit, steigende Preise und die Wohnungskrise gesellen sich zur Empörung über das islamistisch-kapitalistische Regime hinzu. Im Dezember, wie zuvor im Herbst und im Gegensatz zu den ersten Demonstrationen vom Juni, waren die TeilnehmerInnen auf die gewaltsamen Angriffe der Basidsch-Milizen, der Polizei usw. vorbereitet.
Die Financial Times berichtete: „Es scheint, als seien die Demonstranten auch furchtloser gegenüber den Sicherheitskräften, so Beobachter. […] Die DemonstrantInnen warfen Steine auf bewaffnete Sicherheitskräfte, setzten angeblich Motorräder und PKWs in Brand und zertrümmerten Fensterscheiben entlang der Marschroute.“ (28. Dezember 2009). Ein Video auf YouTube zeigt eine Menschenmenge, wie sie geradewegs auf ein Polizeiauto zuläuft und bereits in Gewahrsam Genommene befreit.
Die Tatsache, dass die Massen sich trauen, die Staatsmacht herauszufordern, und dass die Polizei bei verschiedenen Gelegenheiten zögerte einzugreifen, ist typisch für eine Auseinandersetzung revolutionären Charakters. Die dominierenden Protestrufe gegen das Regime sind ebenfalls Zeichen für die weitere Radikalisierung, und viele DemonstrantInnen sagen, dass die Tage des Regimes gezählt sind. Auch die Marschroute, die der Protestzug am 27. Dezember nahm, war von größter Symbolkraft: Es war derselbe Weg, den auch die größte Massendemonstration bei der Revolution von 1979 genommen hatte.
Im Frühjahr gab es auch eine Reihe von neuen Streiks gegen Entlassungen und für die Auszahlung ausstehender Löhne. In einigen Betrieben sind unabhängige Gewerkschaften in Aktion getreten, die jedoch auch auf schwerwiegende Repression stießen.
Die Bewegung heute muss die wichtigsten Lehren aus der Revolution von 1979 diskutieren und verstehen. Die Stärke und Führungskraft der Arbeiterklasse im Kampf war entscheidend beim Sturz des autoritären Schah-Regimes. Gleichzeitig wurde die Revolution verraten von den Arbeiterführern, die argumentierten, dass der Kampf der ArbeiterInnen sich einem Bündnis mit der islamistischen „Opposition“ Ajatollah Khomeinis unterzuordnen habe. Sie hingen also der Etappentheorie an und standen damit sowohl der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse entgegen als auch dem sozialistischen Programm, das nötig ist, um die Gesellschaft zu verändern.
Der Riss, der zwischen verschiedenen Flügeln der herrschenden Elite besteht ist, und die Unfähigkeit, die Massen weiterhin einzuschüchtern, zeigt, wie die Macht des Regimes ins Wanken geraten ist. Der Kampf im Iran des Jahres 2009 weist viele revolutionäre Aspekte auf. Aber eine Revolution besteht nicht nur aus einem Akt. Sie ist vielmehr ein Prozess, in dem die Massen aus ihren Erfahrungen lernen.
Damit der heute stattfindende Kampf Erfolg haben kann, ist es notwendig, unabhängige Arbeiterorganisationen aufzubauen und diese in einer revolutionären Partei zu vereinen. So kann für den Sturz der islamistisch-kapitalistischen Diktatur und für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft gekämpft werden.