Wie sich die vielschichtige globale Krise auf verschiedene Regionen auswirkt

Dieses Dokument wurde am Weltkongress der ISA Anfang Februar 2023 beschlossen und zuerst am 2. April 2023 in englischer Sprache veröffentlich.
International Socialist Alternative (ISA)

Den ersten Teil des Dokuments findest du hier: https://www.slp.at/artikel/epoche-der-multiplen-krisen-wir-haben-eine-we...

 

Europa 

1. Sowohl seine Lage an der vordersten Front des Krieges in der Ukraine als auch die Widersprüche, die sich im Laufe des langfristigen Niedergangs der verschiedenen kapitalistischen und imperialistischen Mächte Europas herausgebildet haben, sorgen dafür, dass der Kontinent durch die aktuelle Wirtschaftskrise besonders bedroht wird. Von allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist die EU die Region, die am stärksten von der sich entwickelnden Wirtschaftskrise betroffen ist. Die IWF-Prognosen vom Januar 2023 (vor Veröffentlichung aktualisieren) sahen für die USA im Jahr 2023 ein Wachstum von 1,4 %, für China von 5,2 % (obwohl diese Zahlen noch mehr in Frage gestellt werden müssen als andere) und für Europa von nur 0,7 % vor. Deutschland, das wirtschaftliche Kraftzentrum der EU, dessen Dominanz innerhalb des Blocks im Jahrzehnt nach der Finanzkrise 2008 gefestigt wurde, leidet unter einer besonders tiefen und strukturellen wirtschaftlichen Malaise, die weitreichende Folgen haben wird. Billige russische Energie war ein zentrales Element seiner "erfolgreichen" Industriestrategie, eine Stärke, die sich schnell in ihr Gegenteil verkehrt hat. Alle europäischen Volkswirtschaften sind stark von der Inflation und der sich beschleunigenden Energiekrise betroffen. Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto härter werden die Auswirkungen für die europäischen Volkswirtschaften sein. Obwohl die Anpassungsstrategien auf gutem Kurs sind, wird der Krieg in der Ukraine langfristig destabilisierende Folgen für die Volkswirtschaften der EU haben.

2. Nach Ausbruch des Krieges rief der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz die "Zeitenwende" aus, eine historische Zäsur. In atemberaubendem Tempo wurde ein riesiges Ausgabenpaket von 100 Milliarden Euro für das Militär beschlossen. Alle Spekulationen darüber, dass sich Deutschland aufgrund der Abhängigkeit von russischer Energie im Krieg einigermaßen neutral verhalten würde, dürften inzwischen ausgeräumt sein. Immer mehr schwere Waffen werden in die Ukraine geschickt, darunter auch Leopard-2-Kampfpanzer.

3. Schwere Sanktionen gegen Russland wurden verhängt, und die Energieimporte aus Russland werden in der gesamten EU schrittweise eingestellt und durch Öl und Flüssiggas aus den USA und Katar ersetzt. Eine Gasknappheit wurde nur durch einen außergewöhnlich warmen Winter verhindert. Zynischerweise nutzten die europäischen Energieunternehmen die Unsicherheit, um ihre Preise um ein Vielfaches zu erhöhen, was ihnen Rekordgewinne bescherte und die Verbraucher*innen in Verzweiflung stürzte.

4. Auch die deutsche Rüstungsindustrie macht in diesem Krieg Rekordgewinne. Doch abgesehen davon ist die exportorientierte deutsche Wirtschaft durch den Krieg in der Ukraine im Besonderen und den Neuen Kalten Krieg im Allgemeinen schwer getroffen worden. Die Zeiten, in denen man problemlos gleichzeitig in den USA, in China, in Russland und im Iran sowie überall in Europa Geschäfte machen konnte, sind vorbei. Die Entkopplung bedeutet, dass die Exportstärke Deutschlands in die Lücke der auseinanderdriftenden Blöcke stürzt, und alle zugrundeliegenden Widersprüche in der Weltmarktposition des Landes treten nun scharf an die Oberfläche. Der Neue Kalte Krieg findet im deutschen Kabinett selbst einen abgewandelten Ausdruck, wobei Scholz und die SPD noch immer ein Auge auf China werfen, während die Grünen und die FDP bereits stärker auf der Seite der USA verankert sind. Doch obwohl China ein wichtiger Handelspartner ist, steht Deutschland den USA historisch und organisch näher. Der deutsche Staat als "ideale Verkörperung des gesamten nationalen Kapitals" ist bereit, einige kurzfristige Gewinne für die strategische transatlantische Partnerschaft zwischen der EU und den USA zu opfern, auch wenn dieser Prozess nicht einfach ist und seine eigenen Spannungen mit sich bringt. Während sich die wirtschaftlichen Beziehungen zu den USA verlagern, sind die verbleibenden profitablen Verbindungen zu China (und in gewissem Maße zu Russland) eine Quelle für Komplikationen, Manöver und künftige Konflikte innerhalb und zwischen den europäischen Ländern.

5. Die Zahl der sogenannten Zombie-Unternehmen nahm während Corona genauso zu wie die staatlichen Maßnahmen, die diese am Leben hielten. Es war klar, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Eine Studie von Acredia und Allianz Trade geht davon aus, dass die Zahl der Insolvenzen 2022 um 10 % und 2023 um 19 % steigen wird. Für Frankreich liegen die Schätzungen bei +29 %, für Deutschland bei +17 % und für Italien bei +36 %, was etwa 100 000 Unternehmen allein in diesen drei Ländern betrifft. Auch wenn kleinere Unternehmen stärker betroffen sind, was einen Prozess der Zentralisierung und Monopolisierung beschleunigt, wird dies dennoch den Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen bedeuten. 

6. Neben der historischen Krise des deutschen Kapitalismus befindet sich auch die andere Großmacht der EU, Frankreich, in einer neuen Phase des beschleunigten Niedergangs. Für den französischen Kapitalismus kommen die Auswirkungen des Krieges und der Energiekrise in einem Kontext mit bereits düsteren wirtschaftlichen Aussichten, wobei die Produktivität seit über zwei Jahrzehnten stetig sinkt. Da er keine Strategie zur Umkehrung dieses organischen Niedergangs hat, sieht der französische Kapitalismus den einzigen Ausweg in einer verstärkten Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse, deren historische Errungenschaften ihm im Wege stehen, wodurch die Bühne für eine historische Klassenkonfrontation bereitet wird, die sich bereits zu erhitzen beginnt. Seit fast 50 Tagen führen die Arbeiter*innen von 7 Raffinerien im ganzen Land einen Streik an, der sowohl die Ölgiganten TotalEnergies und ExxonMobil als auch die Regierung Macron erschüttert und den Weg für einen groß angelegten Kampf gegen die gesamte Anti-Arbeiter*innenklasse-Politik Macrons geebnet hat.

7. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern zeichnet sich Frankreich auch dadurch aus, dass es mit France Insoumise eine starke linke Alternative gibt, die das Wachstum der extremen Rechten herausfordert und dazu beitragen kann, die Arbeiter*innenbewegung zum Handeln zu bewegen. Allerdings deuten die mangelnde interne Demokratie innerhalb von France Insoumise, die Tendenz der Führung, ihr Programm im Rahmen ihres Bündnisses mit den Grünen und der PS innerhalb der "NUPES" (Neue ökologische und soziale Volksunion) zu verwässern, sowie der kürzliche falsche Umgang mit einem Fall von häuslicher Gewalt, in den einer ihrer wichtigsten Führer verwickelt war, auch auf Gefahren für die weitere Entwicklung von FI hin. Sie unterstreichen die Notwendigkeit wirklich demokratischer lokaler Basisstrukturen, einer prinzipienfesten Politik in Bezug auf Fragen der Unterdrückung, und eines Ansatzes, der erklärt, dass die besten im Programm von FI enthaltenen Forderungen nur durch die Mobilisierung und Organisierung der Arbeiter*innenklasse für eine bewusste Konfrontation mit dem Kapitalismus erreicht werden können. Dies ist umso dringlicher, als die Regierung Macron, deren Schwäche die Tiefe der politischen Krise widerspiegelt, während sie versucht, treu den Interessen des Großkapitals zu dienen, darum kämpfen wird, die explosive Situation einzudämmen. 

8. Die Aussichten für den Kapitalismus in Italien und dem Spanischen Staat sind ebenso düster, wenn nicht sogar noch düsterer. Nach der schlimmsten Schuldenkrise in Europa nach 2008, die für die EU existenziell war, wurden kapitalistische Kommentator*innen und politische Entscheidungsträger*innen durch eine Ära relativer Ruhe auf den Schuldenmärkten in falscher Sicherheit gewiegt, gestützt durch eine lange Periode beispielloser geldpolitischer Anreize der EZB und negativer Zinssätze. Auf internationaler Ebene manifestierte sich diese Illusion in der kurzzeitigen Popularität der "modernen Geldtheorie", die im Wesentlichen behauptete, dass Staatsschulden und Defizite keine Rolle spielen. Das Jahr 2022 ist ein gewaltiger Weckruf für alle, die sich solchen Illusionen hingaben. Im europäischen Kontext wurde dies in den finanziellen Turbulenzen, die den Zusammenbruch von Liz Truss in Großbritannien auslösten, anschaulich dargestellt. Bei nüchterner Betrachtung wird die Realität der untragbaren Staatsverschuldung in der angeschlagenen europäischen Peripherie wieder auf die Tagesordnung kommen, da neue Rezessionen die zugrundeliegenden Schwächen aufdecken, die sich seit der letzten Krise noch verschärft haben. Die politischen Unruhen in Italien und die zunehmende Polarisierung im Spanischen Staat sind sowohl eine Vorwegnahme solcher neuen Krisen als auch ein verschärfender Faktor. 

9. Die kapitalistischen Politiker*innen befinden sich in einer Lose-Lose-Situation. Was auch immer sie tun, um eine Krise zu lösen, hat negative Auswirkungen in anderen Bereichen. Aber welche wirtschaftlichen Probleme es in der Weltwirtschaft auch immer gibt, in Europa sind sie noch schwieriger zu bewältigen, weil es viele Nationalstaaten mit unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Interessen gibt, die in einem gemeinsamen währungspolitischen Rahmen in der EU agieren. Wir haben immer betont, dass die EU auf lange Sicht die nationalen Grenzen des Kapitalismus nicht überwinden kann. Während die europäische Integration, angetrieben durch den Gegenwind der neoliberalen Ära, weiter voranschritt als von vielen erwartet, konnten und können die Grenzen des nationalen Kapitals nicht überwunden werden und tauchen bei jeder großen Wende wieder mit aller Macht auf, wie die Krise von 2008, Corona und die Energiekrise gezeigt haben und wie wir es wieder sehen werden, wenn wir in eine sich verschärfende Wirtschaftskrise eintreten. Kurz gesagt: Die Konflikte zwischen den verschiedenen Ländern in der EU werden zunehmen, was zu weniger Zusammenarbeit führen wird. Ein weiteres Merkmal wird die zunehmende imperialistische Haltung der stärkeren Volkswirtschaften gegenüber den schwächeren sein, die auf stärkeren Widerstand stoßen kann, insbesondere von östlichen Staaten, deren Gewicht im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg relativ zugenommen hat. Neben den wachsenden zentrifugalen Tendenzen kann es auch sein, dass der Krieg in der Ukraine und die globale Polarisierung des Kalten Krieges im weiteren Sinne sowie die gegenläufige Tendenz zur Stärkung des westlichen Blocks gegenüber China und Russland wie ein gewisser Klebstoff wirken, der die EU zusammenhält. Zusätzlich zu diesen Faktoren bedeutet der Prozess des "Nearshoring", dass europäische Unternehmen, die sich beispielsweise aus China zurückziehen, nach Orten mit billigen Arbeitskosten in Europa suchen. Dies wiederum könnte dem Wachstum in einigen Regionen Mittel- und Osteuropas einen gewissen Auftrieb geben, was die Unterstützung für die EU stärken könnte. Wenn andererseits die gleichen Arbeitsbedingungen auch auf die mittel- und osteuropäischen Länder übertragen werden, wird dies auch dem Klassenkampf Auftrieb geben. Wenn dies nicht von Kräften der Linken und der Arbeiter*innenklasse aufgegriffen wird, die diese Wut in eine antikapitalistische Richtung lenken können, besteht die Gefahr, dass die Rechtsextremen sie in nationalistische Bahnen lenken.

10. Bei Konflikten wie denen mit Polen geht es nicht um "europäische Werte" oder um das Gleichgewicht zwischen nationalen und EU-Gesetzen. Die polnischen und ungarischen Regierungen vertreten vor allem die Interessen des Teils ihrer herrschenden Klasse, der einen Teil der wirtschaftlichen und politischen Macht zurückgewinnen will, die während der kapitalistischen Restauration verloren gegangen ist. Die bürgerliche Demokratie und die "Rechtsstaatlichkeit" werden in diesen Ländern ausgehöhlt, um den Einfluss der herrschenden Partei, die diese Interessen vertritt, auf den Staatsapparat zu stärken. Auf dem Höhepunkt von Corona, während des Kampfes um Masken, Impfstoffe und Schutzausrüstung, war es sehr deutlich, dass jeder Mitgliedstaat seine eigenen Interessen über die Interessen der anderen oder der EU als Ganzes stellte. Das gleiche Phänomen erleben wir bereits bei der sich entwickelnden Energiekrise. Im Sommer 2022 überboten sich die verschiedenen Gaslieferanten der EU auf dem internationalen Markt gegenseitig beim Kauf von Flüssiggas, um die Gasreserven aufzufüllen, was im August zu Rekordpreisen führte. Da mit einem weiteren Rückgang der russischen Pipeline-Gaslieferungen zu rechnen ist, dürften die durchschnittlichen Gaspreise im Jahr 2023 noch weiter steigen.

11. Einige Länder befinden sich bereits offiziell in einer Rezession oder werden es bald sein; in den meisten fühlt es sich für die arbeitende Bevölkerung bereits wie eine Rezession an. Angesichts des andauernden Ukraine-Kriegs wird die Energiekrise umso härter ausfallen, je länger und kälter der Winter ist. Die EU-Regierungen kommen mit allen möglichen zynischen Vorschlägen zum "Energiesparen", wobei vielleicht die belgische Regierung gewinnt, die vorschlägt, dass junge Leute Freunde zum Kuscheln einladen sollten, um sich warm zu halten. Aber die Situation ist kein Witz. Die hohen Energiekosten wirken sich auf die europäische Industrie aus, deren Unternehmen bereits im Sommer 2022 ihre Produktion drosselten, und sie werden ernste soziale Auswirkungen haben. Der Anstieg der Energiekosten begann im Herbst 2021, beschleunigte sich aber aufgrund des Krieges in der Ukraine massiv. Die Energierechnungen entwickelten sich zu einer Schreckensnachricht. Bereits im Jahr 2019 hatten 50 Millionen Menschen in der EU Probleme, ausreichend Energie zu bezahlen, darunter viele Frauen und Alleinerziehende. Diese Zahl wird in den Wintermonaten explodieren, trotz aller teuren Maßnahmen, die die Regierungen ergreifen. Laut einer Studie des europäischen Wirtschafts-Thinktanks Breughel haben die EU-Regierungen seit September 2021 über 600 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Auswirkungen der steigenden Energiepreise abzumildern; das Vereinigte Königreich umgerechnet 97 Milliarden Euro. Die Maßnahmen reichen von (manchmal symbolischen) Hilfen für arme Haushalte und Senkungen der Energiesteuern – die von fast allen europäischen Regierungen angewandt werden – über die Subventionierung der Stromerzeugung (Spanischer Staat und Portugal) bis hin zu Rettungsaktionen für Energieversorger, die in Konkurs gegangen sind, und sogar zum Kauf strategischer Energieunternehmen durch Regierungen (wie EDF in Frankreich und Uniper in Deutschland). Während einige Regierungen bescheidene Gewinnsteuern auf die "überschüssigen" Gewinne des Energiesektors eingeführt oder vorgeschlagen haben, um zur Deckung der Kosten beizutragen, haben viele der oben genannten Maßnahmen die bereits monströsen Gewinne direkt mit Steuergeldern angeheizt.

12. In den letzten Monaten gab es in den Gremien und Strukturen der EU mehrere Vorschläge und Diskussionen darüber, wie die Energiekrise bewältigt werden kann. Es gab zwar Vorschläge von EU-Strukturen wie der EU-Kommission, diese scheiterten aber an den konkurrierenden Interessen der Mitgliedsstaaten. Diese und andere Fragen heizen den Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland an. 

13. Und es kommen noch mehr Konflikte hinzu. Wie soll mit China umgegangen werden, das in den letzten Jahren seinen Einfluss insbesondere auf dem Balkan und in Osteuropa ausgebaut hat, aber auch Griechenland und Italien in die BRI einbezieht? Wie sollte man mit Russland und den Sanktionen in der sich entwickelnden Energiekrise umgehen? Und was ist mit der sich entwickelnden neuen "Flüchtlingskrise" mit einer steigenden Zahl von Menschen, die vor Krieg, Klimakatastrophe und Hunger fliehen? Vor dem Hintergrund wachsender zwischenimperialistischer Spannungen arbeiten vierzehn NATO-Länder an der von Deutschland geleiteten "European Sky Shield Initiative", die sich auf US-israelische Raketentechnologie stützt (und Israels größtes Waffenexportgeschäft aller Zeiten beinhaltet), aber Frankreich ausschließt - ein Ausdruck der zentrifugalen Kräfte. Ein weiteres Beispiel ist die Frage der EU-Erweiterung um die Ukraine - das ärmste Land Europas, das sich auf dem Höhepunkt des Krieges mit dem russischen Imperialismus befindet. Mehrere Länder fordern aus politischen Gründen, der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten zu geben, während andere wollen, dass mehrere Balkanländer zuerst aufgenommen werden. Diese warten schon lange und sind zunehmend frustriert und liebäugeln mit China und Russland - ein weiterer Grund für die EU, sie mit Von der Leyens Charme-Tour auf dem Balkan an Bord zu halten. Und dann ist da noch die Frage der Inflation, der Zinssätze und der Wirtschaft. Die EZB hat die Zinssätze später als die Federal Reserve erhöht, um die Inflation zu bekämpfen. Dies wiederum führt, auch wenn die Inflation derzeit noch bekämpft wird, zu einer steigenden (Staats-)Verschuldung, was sich besonders gravierend auf die Länder im europäischen Süden auswirkt, deren Staatsschuldenquote weit über dem EU-Durchschnitt liegt (Eurozone: 95,6%, Griechenland 189,3%, Italien 152,6%, Frankreich 114,4%).

14. Ein Forschungspapier von Forrester sagt voraus, dass die Unfähigkeit der Regierungen, die Energiekrise zu lösen, das Vertrauen in die Politik weiter schwächen wird. Laut Forrester wird bis Ende 2023 nur noch jede*r fünfte europäische Bürger*in der eigenen Regierung vertrauen. Dies zeigt sich bereits an der Zunahme von Streiks und Massenprotesten, wie wir sie in Frankreich, Belgien, Großbritannien und anderen Ländern beobachten – was wiederum dazu führt, dass populistische Maßnahmen auf nationaler Ebene zunehmen und die Regierungen in weiteren Konflikt mit der EU und/oder anderen Ländern geraten. 

15. Der britische Kapitalismus leidet unter der vielleicht größten Sonderkrise aller europäischen Großmächte. Weit davon entfernt, die britische Stärke als "globaler" Akteur wiederherzustellen, hat die Realität nach dem Brexit einen noch schnelleren Niedergang der einst dominierenden imperialistischen Weltmacht zur Folge. Das ist der Grund für das Debakel der gescheiterten Premierministerin Liz Truss, der kürzesten in der Geschichte Großbritanniens. Ihr Sturz und das Chaos, das er auslöste – die Bank of England musste notfallmäßig intervenieren, um eine verheerende Finanzkrise abzuwenden – spiegelt auch die Wechselbeziehung zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus wider. Boris Johnsons populistische "Trumpifizierung" der Tory-Partei, die Teil eines internationalen Trends ist, brachte zwar vorübergehende Wahlerfolge, machte die einst große Partei des britischen Imperialismus aber letztlich zu einer massiven Belastung für die Bourgeoisie. Truss, der von der trumpisierten Tory-Basis mit einem Programm gewählt wurde, das einen weiteren Rechtsruck darstellte, kombinierte Johnsons reaktionären Nationalismus mit "traditionellen" Thatcher'schen Instrumenten, die nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von den Kapitalmärkten abgelehnt wurden. Diese sahen sich in einer Zeit, in der die Politik ihr Primat über die Märkte wieder behauptet, dennoch gezwungen, ihre Stimme in der britischen Politik zu erheben. 

16. Die neue Regierung von Rishi Sunak beginnt in einer schwachen Position, da sie gezwungen ist, ein neues Zeitalter der Sparsamkeit einzuleiten, während sie mit einem sich entfaltenden Klassenkampf konfrontiert ist, der das Wiedererwachen der britischen Arbeiter*innenklasse und der Arbeiter*innenbewegung darstellt, die endlich begonnen hat, den Trend des Niedergangs seit der Niederlage des Bergarbeiterstreiks von 1984/85 umzukehren. Dabei baut sie auf Elementen der Wiederbelebung und eines Linksrucks innerhalb der Bewegung aufbaut, die wir in den letzten Jahren hervorgehoben haben. Die derzeitige Streikwelle sowie der explosionsartige Anstieg der "Enough is Enough"-Kampagne sind wichtige Lehren für andere Länder, da in Europa eine neue Phase des Klassenkampfes beginnt. Bei den Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich, wann auch immer sie stattfinden, wird wahrscheinlich eine Labour-Regierung unter dem Neo-Blairiten "Sir" Keir Starmer in irgendeiner Form gewählt werden. Inmitten einer aufstrebenden Arbeiter*innenbewegung und nach den Erfahrungen des Corbynismus könnte ein solches Szenario eine historische Gelegenheit für eine unabhängige Politik der Arbeiter*innenklasse in Großbritannien bedeuten.  

17. Der Niedergang des britischen Kapitalismus ist allseitig und tiefgreifend, sogar bis zu dem Grad, dass er die Integrität des britischen Staates selbst berührt. Wie wir bereits in Bezug auf Schottland kommentiert haben, haben die Schlüsselereignisse der letzten Zeit dazu beigetragen, die zentrifugalen Tendenzen im Vereinigten Königreich zu verstärken, und dies ist auch heute noch der Fall. Nicola Sturgeons Reaktion auf das politische und wirtschaftliche Chaos der Regierung von Liz Truss, die zur Tory-Chefin gewählt wurde, während sie versprach, Schottland zu "ignorieren", bestand vorhersehbar darin, darauf zu bestehen, dass Schottland das sinkende Schiff verlassen müsse. Sie vergaß natürlich, das wirtschaftliche Chaos zu erwähnen, das Tausenden von Arbeiter*innen in ganz Schottland aufgezwungen wird, die gegen Reallohnkürzungen durch ihre Regierung und durch von der SNP geführte Stadträte kämpfen, was einen Vorgeschmack darauf gibt, was ein SNP-geführtes kapitalistisches Schottland bieten würde. Während die Dynamik in Bezug auf ein Unabhängigkeitsreferendum in Schottland weiterhin stock, da Sturgeon sich mit der britischen Regierung in einen gescheiterten Rechtsstreit vor dem Obersten Gerichtshof verwickelt hat, bleibt das Thema eine tickende Zeitbombe. Für unsere EWS-Sektion, die ermutigende erste Fortschritte beim Aufbau unserer Kräfte in Schottland gemacht hat, ist die Betonung einer klassenkämpferischen Strategie, um ein Referendum zu gewinnen, verwurzelt in einem gemeinsamen Kampf mit den wachsenden Klassenkämpfen in England, Wales und (wenn auch derzeit in geringerem Maße) Irland verwurzelt ist, und ein scharfer Fokus auf politische Unabhängigkeit von der SNP ebenso wichtig wie unsere Unterstützung für ein sozialistisches unabhängiges Schottland in freier und freiwilliger Föderation mit einem sozialistischen Wales, England und Irland.

18. In Nordirland ist die Situation noch angespannter, da sich die aus dem Karfreitagsabkommen von 1998 hervorgegangenen Institutionen zur Aufteilung der Macht zwischen den Sekten in einer Sackgasse befinden. Die wichtigste unionistische Partei, die DUP, hat sich geweigert, wieder in eine Regierung einzutreten, solange das Nordirland-Protokoll (eine Vereinbarung zur Regelung des Handels und der Kontrollen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach dem Brexit) nicht abgeschafft ist. Dabei geht es nicht um wirtschaftliche Aspekte, sondern vor allem darum, dass die meisten protestantischen Wähler*innen den Boykott der politischen Institutionen durch die DUP unterstützen, weil die Protestant*innen davon ausgehen, dass sich Nordirland dadurch weiter von Großbritannien entfernt. Es geht also wieder einmal mehr um das Identitätsgefühl der Menschen. Wie brisant die Lage ist, zeigt sich daran, wie häufig und offen über eine mögliche Rückkehr zur Gewalt in einer Gesellschaft diskutiert wird, die nach wie vor durch das Erbe des Konflikts gezeichnet und gespalten ist. Paramilitärs sind in Nordirland nach wie vor aktiv, und Berichten zufolge gibt es immer mehr loyalistische Paramilitärs, und vor allem unter jüngeren Menschen wächst der Wunsch, Stellung zu beziehen und gegen das zu kämpfen, was als ständiger Vorstoß in Richtung eines vereinigten Irlands angesehen wird. Die eigentliche Ursache ist der demografische Wandel: Die 2022 veröffentlichten Ergebnisse der Volkszählung zeigten zum ersten Mal in der Geschichte des nordirischen Staates mehr katholische als protestantische Einwohner, ein Gebilde, das vor 100 Jahren vom britischen Imperialismus buchstäblich geschaffen wurde, um eine protestantische Mehrheit zu gewährleisten. Die Bedeutung dieser Entwicklungen, die die Integrität des Vereinigten Königreichs untergraben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

19. Wachsende Illusionen unter den Katholik*innen, dass diese Prozesse den Weg für einen unvermeidlichen langsamen Marsch zur Einheit Irlands auf kapitalistischer Grundlage ebnen, werden durch die harte Realität wachsender sektiererischer Konflikte erschüttert werden, wobei die protestantische Bevölkerung entschlossen ist, nicht in ein vereinigtes Irland gedrängt zu werden. Während das Sektierertum und die Spannungen zunehmen, gibt es auch eine Zunahme des Kampfes für höhere Löhne, gegen die Krise der Lebenshaltungskosten und Mobilisierungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, die alle dazu beitragen, die Arbeiter*innenklasse zusammenzubringen. Die gewerkschaftlichen und betrieblichen Auseinandersetzungen, die durch Covid, die jahrelangen Kürzungen im öffentlichen Sektor und die Krise der Lebenshaltungskosten ausgelöst wurden, haben deutlich zugenommen. Die anhaltende Wirtschafts- und Lebenshaltungskostenkrise wird diese Kämpfe weiter vorantreiben und auch den Arbeiter*innen in Nordirland die Möglichkeit geben, sich mit ihren Kolleg*innen in Großbritannien zu vernetzen.

20. Die Glut der Massenrevolte 2017 in Katalonien ist auch durch die politische Verfolgung des spanischen Staates und die Politik der Mitte-Links-Koalitionsregierung nicht erloschen. Die Organisator*innen gaben an, dass über 700.000 Teilnehmer*innen am diesjährigen jährlichen "Diada"-Marsch für die Unabhängigkeit teilgenommen haben, und der Druck auf die Regionalregierung, zu handeln, spiegelte sich im Austritt der nationalistischen Partei Junts aus der katalanischen Regierung wider, aus Protest gegen die versöhnliche Wende der Mehrheitspartei in der Koalition, ERC, die zuvor eine härtere Pro-Unabhängigkeits-Position verteidigt hatte. Das Erstarken der extremen Rechten, die im spanischen Staat einen reaktionären antikatalanischen und antibaskischen spanischen Nationalismus vertritt, ist die Kehrseite einer Perspektive, die zweifellos auf größere Spannungen mit neuen Explosionen auf der Tagesordnung hinweist.

21. Dies sind nur einige Beispiele für die Wiederkehr oder Vertiefung der "nationalen Fragen", der Konflikte um die Rechte der nationalen Minderheiten. In Europa heizen sich die Spannungen in Osteuropa wieder auf – zum Beispiel mit Orban, der in mehreren Ländern auf die ungarischen Minderheiten zugeht, um ein "Großungarn" zu propagieren. Auch auf dem Balkan sind die Spannungen zwischen mehreren Staaten und Nationalitäten noch lange nicht überwunden: In Bosnien-Herzegowina neigen Politiker*innen der serbischen Entität Republika Srpska zu Serbien (und Russland) und schüren den Nationalismus. Die Spannungen zwischen Nordmazedonien und Bulgarien wurden nur auf Druck der EU "gelöst" und können wieder aufflammen, ebenso wie die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo. In dem Versuch, den russischen und chinesischen Einfluss zu verringern, hat die EU in der zweiten Jahreshälfte 2022 den Schwerpunkt auf die Region gelegt - doch keines der zugrunde liegenden Probleme wurde gelöst, wie die massiven regierungsfeindlichen Proteste im Zusammenhang mit der Korruption und den steigenden Lebenshaltungskosten in Albanien zeigen.

22. Auch weltweit wird die nationale Frage in den Sturm der erneuten globalen Turbulenzen hineingezogen - wobei sie in einigen Fällen selbst ein Schlüsselfaktor für diese Turbulenzen ist. Beispiele dafür sind das erneute Aufflammen des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan, das erneute Aufflammen der Gewalt in Kaschmir und in Kurdistan und vieles mehr, das von verschiedenen nationalen bürgerlichen Kontrahentinnen zunehmend genutzt werden wird, um ihren Einfluss zu stärken und die sich verschärfenden sozialen Probleme zu vertuschen.Sozialist*innen haben die Verantwortung, diese Gefühle und Forderungen der unterdrückten Minderheiten ernst zu nehmen und den Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem Kampf gegen soziale Ausbeutung zu verbinden.

23. Mit dem Ukraine-Krieg kam es in Schweden zu einer historischen Schockdoktrin, mit einer beispiellosen Kampagne für einen NATO-Beitritt (zusammen mit Finnland) und einer drastischen Erhöhung der Militärausgaben. Alle Parlamentsparteien, einschließlich der Linkspartei, befürworteten die Entscheidung, den Anteil des BIP an den Militärausgaben auf 2 % zu erhöhen. Linke Parteien in allen nordischen Ländern haben eine massive Aufrüstung unterstützt, und das finnische Linksbündnis gab im Juni 2022 bekannt, dass es "nicht gegen eine Mitgliedschaft in der NATO ist". Die ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sagte Anfang März, dass "die NATO-Mitgliedschaft keine Option ist" - nur um einige Wochen später zu sagen, dass "das Ziel ist, der NATO im Juni beizutreten". Dies ist ein historischer Wandel, der einige der letzten Überbleibsel der Arbeiter*innenpolitik über Bord wirft - den Antimilitarismus und die antiimperialistische Tradition der schwedischen Arbeiter*innenbewegung. Die Entscheidung, der NATO beizutreten, war im Geheimen und in enger Zusammenarbeit mit den "blau-braunen" Parteien und dem so genannten Wirtschaftssektor vorbereitet worden. Die Wahl vom 22. September war der rassistischste und militaristischste Wahlkampf, den es je in Schweden gab, und führte zur rechtslastigsten Regierung der modernen Geschichte, die von den rassistischen Schwedendemokraten dominiert wird, obwohl diese formal nicht an der Regierung beteiligt sind. Die Unterwürfigkeit der Regierung gegenüber Erdoğans Terrorregime hat ein neues Niveau erreicht, da er sich weigert, Schweden als NATO-Mitglied zu ratifizieren, wenn es nicht mehreren Zugeständnissen zustimmt, einschließlich der Abschiebung von Kurden in die Türkei, die bereits begonnen hat.

24. Die Verunglimpfung von und die Angriffe auf Asylbewerber*innen und "Nicht-Nordländer*innen", Geringverdiener*innen, Arbeiter*innenklasse in den Vorstädten usw. haben ein neues Niveau erreicht. Alle etablierten Parteien sind ebenfalls nach rechts gerückt und rassistischer geworden, ein Trend, der in allen nordischen Ländern zu beobachten ist. In Dänemark hat die Sozialdemokratie im Wesentlichen die Politik der rassistischen Dansk Folkeparti übernommen und nach den Wahlen im Herbst die Socialistisk Folkeparti verlassen, um eine Regierung mit den rechtsgerichteten Parteien Moderaterna und Venstre zu bilden. Sowohl in Finnland als auch in Norwegen waren die beiden rassistischen Parteien (Sannfinnländarna bzw. Fremskrittspartiet) an der Regierung beteiligt, und die anderen Parteien haben ihre Politik kopiert, um "Punkte zu gewinnen". Alle nordischen Länder haben in der Vergangenheit große Waffenpakete im Wert von mehreren Milliarden Euro an die Ukraine geliefert. Da Schweden und Finnland sehr wahrscheinlich auch bald formell Vollmitglieder der NATO werden, wird der westliche Imperialismus gestärkt. Auch wenn die Spannungen innerhalb der NATO, insbesondere in Bezug auf die Rolle der Türkei, nicht verschwinden werden.

China 

25. Seit unserem letzten Weltkongress vor drei Jahren hat sich China gewandelt. Die Wirtschaftskrise, die über mehr als zwei Jahrzehnte gekeimt ist, ist mit verheerender Wirkung ausgebrochen. Die von der Diktatur herausgegebenen Wirtschaftsdaten und die strenge Medienzensur verbergen das volle Ausmaß der Krise. Unter Xi Jinping ist das Verbreiten "negativer Wirtschaftsnachrichten" ein Straftatbestand. 

26. Chinas BIP-Daten wurden systematisch aufgebläht. Unabhängige Studien kommen zu dem Schluss, dass die Wirtschaft um 20 Prozent kleiner ist als behauptet. Chinas Wirtschaft wird heute von einer beispiellosen Verschuldung, kollabierenden Finanzblasen, einer schweren demografischen Krise mit einer schnell schrumpfenden Erwerbsbevölkerung, schwachen Konsumausgaben, sinkenden Löhnen und einer sich beschleunigenden wirtschaftlichen Abkopplung von den westlichen kapitalistischen Staaten belastet, die einst die kapitalistische Expansion des Landes gefördert haben. 

27. Die beispiellose Säuberung der Führungsspitze der KPCh durch Xi Jinping auf dem 20. Parteitag im Oktober, bei der die Anti-Xi-Fraktionen ausgemerzt wurden, bedeutet, dass die neue Regierung "maximal Xi" ist. Dieser Sieg bedeutet jedoch nicht, dass Xi wirklich in der Lage ist, seine zahlreichen nationalen und internationalen Krisen zu bewältigen. Vielmehr machte er auf diesem Kongress eine eher zurückhaltende Figur, insbesondere in Bezug auf den Kalten Krieg. 

28. Auf dem Kongress wurde die reaktionäre Null-Covid-Politik erneut als unantastbar, als große "historische Errungenschaft" und als langfristige Strategie gepriesen. Nun stellt sich heraus, dass Xis Gefolgsleute schon bald nach dem 20. Kongress Pläne für einen schrittweisen Ausstieg aus der Null-Covid-Politik geschmiedet haben, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass im Frühjahr 2023 ein chinesischer mRNA-Impfstoff verfügbar sein würde. Die Gründe dafür waren die enorme Belastung der staatlichen Mittel für die Aufrechterhaltung der Politik und die desolate Lage der chinesischen Wirtschaft, die unter dem starken Druck der wirtschaftlichen und geopolitischen Eindämmungsstrategie des US-Imperialismus leidet.

29. Dieser Plan wurde jedoch durch den stürmischen Volksaufstand im November durchkreuzt, bei dem die Gräueltaten unter Zero Covid als Auslöser für eine breitere Gegenreaktion gegen diktatorische Herrschaft, Zensur und Unterdrückung wirkten. Diese Bewegung, die bedeutendste in China seit 1989, zwang das Regime zu einem panischen, verwirrten und unorganisierten Rückzug, in dessen Verlauf die Null-Covid-Politik im Chaos zusammenbrach. Was folgte, war die schnellste und dramatischste Ausbreitung des Virus in der Geschichte der Pandemie weltweit. Zum Zeitpunkt unseres Weltkongresses Ende Januar waren nach offiziellen Angaben 1,2 Milliarden Chines*innen in nur zwei Monaten infiziert, und aller Wahrscheinlichkeit nach sind 600.000 bis 1 Million Chines*innen an Covid gestorben. Dieses schreckliche Ergebnis verschärft die politische Krise von Xi Jinping, da die Wut der Massen zunimmt und seine Position in der Gesellschaft, weltweit und innerhalb des Regimes entscheidend geschwächt wird.

30. Xi war gezwungen, einen Rückzieher in Sachen Wolfskrieg (ultranationalistische Rhetorik) zu machen und seinem Außenministerium ein neues Gesicht zu geben, indem er den "weicheren" Qin Gang an die Spitze stellte. Wang Yi, den man nicht als "weich" bezeichnen kann, wird ins Politbüro befördert und ist damit der oberste KPCh-Beamte für Außenpolitik. Diese Umbesetzung ist kosmetischer Natur und stellt keinen grundlegenden Richtungswechsel dar. Aber sie zeigt, wie ernst Xi die Krise nimmt und dass er versuchen muss, den Konflikt zwischen den USA und China zu deeskalieren, Zeit zu gewinnen und vor allem zu versuchen, die Koalition zwischen dem europäischen Imperialismus und dem US-Imperialismus zu schwächen. In dieser Phase könnte die KPCh auch im Taiwan-Konflikt einen versöhnlicheren, weniger auf Vergeltung ausgerichteten Stil an den Tag legen, doch hofft sie, sich in der nächsten Phase mit einem kohärenteren, umfassenderen und systematischeren Ansatz auf eine höhere Ebene des geopolitischen Machtkampfs vorzubereiten. Grob gesagt, hat Xi von Trumps Ansatz zu Bidens Ansatz gewechselt. Xis Beförderung von Generälen aus Fujian auf dem Kongress war ein Zeichen dafür, dass er in der Taiwan-Frage nicht locker lassen wird (was jedoch nicht bedeutet, dass eine Invasion bevorsteht).

31. Von entscheidender Bedeutung für den globalen Kapitalismus ist, dass Xi trotz der rituellen Erwähnung, "offen für Geschäfte" zu bleiben, seine nationalistische Ausrichtung nach innen in der Wirtschaftspolitik verstärkt (der Kalte Krieg lässt ihm wenig realistische Alternativen), eine Politik, die die Financial Times als "Festung China" bezeichnet. 

32. Die demografische Krise bedeutet, dass Indiens Bevölkerung 2023 die chinesische überholen wird. Zwischen 2012, dem Jahr, in dem Xi an die Macht kam, und 2019 ist die Geburtenrate um 45 Prozent eingebrochen. Und das, obwohl die beklemmende  Ein-Kind-Politik 2016 auf zwei und ab 2021 auf drei Kinder ausgeweitet wurde. Die Heiratsrate hat sich seit 2013 fast halbiert. Die Unerschwinglichkeit von Kindern und Ehen ist ein wichtiger Faktor für die Nachfragekrise auf dem Wohnungsmarkt. Es wird prognostiziert, dass Chinas Erwerbsbevölkerungsrate von 66 Prozent im Jahr 2016 auf 57 Prozent im Jahr 2030 sinken wird. 

33. Eine wichtige Neuerung ist die Abneigung des Regimes gegen "flutartige Stimuli" zur Wiederbelebung des Wachstums – die riesigen Kreditspritzen, die für die vergangenen Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs (2008, 2015, 2020) charakteristisch waren. Der Handlungsspielraum der KPCh ist infolge der unkontrollierbaren Verschuldung, des geringeren Spielraums für weitere Infrastrukturprogramme und vor allem des Konflikts zwischen den USA und China dramatisch eingeengt worden. 

34. In früheren Diskussionen betonte unser ehemaliges Internationales Sekretariat zu sehr die "einzigartigen" staatlichen Merkmale einer ihrer Meinung nach "hybriden" Klassenformation, die der KPCh ihrer Meinung nach unbegrenzte Reserven zur Überwindung von Wirtschaftskrisen verschaffte. 

35. Das Platzen der größten Finanzblase in der Geschichte des Kapitalismus – Chinas Immobilienblase – ist der entscheidende Wendepunkt. Unsere Perspektive einer Entwicklung nach japanischem Vorbild (eine "Zombie"-Wirtschaft mit geringem Wachstum) hat sich nun verwirklicht. Dies ist auch ein Wendepunkt für die Weltwirtschaft. Auf China entfielen von 2013 bis 2021 über 30 Prozent des weltweiten BIP-Wachstums. Auf den Immobiliensektor entfielen rund 30 Prozent des gesamten chinesischen BIP und mehr als ein Drittel der weltweiten Bautätigkeit. Die Implosion, die Mitte 2021 begann und seither alle Kennzahlen einbrechen ließ – Immobilienverkäufe, Baubeginne, Immobilienpreise (wenn auch langsamer, was die Krise nur verlängern wird), staatliche Landverkäufe, Investitionen –, signalisiert den Zusammenbruch des schuldengetriebenen staatskapitalistischen Entwicklungsmodells der KPCh. Aber genau wie ihre westlichen Gegenspieler*innen haben Chinas Herrscher kein Ersatzmodell. 

36. Die internationalen Kapitalist*innen haben das Ausmaß des kommenden Sturms nich nicht erkannt. Capital Economics warnte: "Die Konzentration der Finanzwelt auf einen bedeutenden Anstieg der Inflation in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften lenkt die Aufmerksamkeit von einer bedeutenden Verlangsamung in China ab, die für die langfristigen globalen Aussichten von weitaus größerer Bedeutung sein dürfte." 

37. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Anne Stevenson-Yang fasste das Ausmaß der Krise zusammen: 

"Nach vier Jahrzehnten eines der Schwerkraft trotzenden Wachstums, verpackt in einer Erzählung von aufstrebender Dominanz, hat Chinas Wirtschaft eine Bruchlandung hingelegt. In diesem Jahr wird Chinas Wirtschaft zum ersten Mal, seit Deng Xiaoping das Land vom Maoismus abbrachte, in US-Dollar schrumpfen. Das hat viel mit dem starken Dollar zu tun, aber noch mehr mit dem Ende des investitionsgetriebenen Wachstums. Selbst wenn sich der Immobilienmarkt wieder erholen könnte – und das kann er nicht –, wird China nie wieder die Wachstumszahlen erreichen, die in der Welt so gefeiert wurden. Die Auswirkungen des Niedergangs werden innerhalb Chinas verheerend sein. Schon jetzt haben die Lokalregierungen, denen die Einnahmen aus dem Grundstücksverkauf fehlen, auf die sie sich verlassen haben, und die mit dem Einbruch der Steuereinnahmen konfrontiert sind, damit begonnen, soziale Leistungen zu kürzen. Man erinnert sich mit Schaudern daran, wie schnell die sozialen Dienste nach dem Zusammenbruch der UdSSR verschwunden sind." (Der Markt, 24. Oktober 2022) 

38. Für Marxist*innen besteht der Zweck von Perspektiven darin, die wichtigsten Veränderungen und neuen Merkmale einer gegebenen Situation zu identifizieren und zu bewerten, wie sich diese wahrscheinlich in Wechselwirkung mit den eher strukturellen langfristigen Trends entwickeln werden, um zu vermeiden, von den Ereignissen abgehängt zu werden. 

39. Natürlich hat die Wirtschaftskrise Chinas Auswirkungen auf den imperialistischen Kalten Krieg. Chinas Wirtschaft ist der neue "kranke Mann" Asiens, während fast alle seine Nachbarländer schneller wachsen. Xi Jinpings "Belt and Road"-Initiative, in die weltweit zwischen 1 und 4 Billionen US-Dollar investiert wurden (es gibt keine genaueren Daten), ist nun auf dem Rückzug, insbesondere mit dem Beginn einer neuen globalen Schuldenkrise und antichinesischen Gegenreaktionen von Sri Lanka bis Osteuropa. China hat sich, imperialistisch betrachtet, klassisch übernommen. 

40. US-Strateg*innen, die bis vor kurzem vom Aufstieg Chinas besessen waren, sprechen jetzt von "Peak China" und neuen Bedrohungen, die mit einem schwächer werdenden China verbunden sind – ein Angriff auf Taiwan beispielsweise, der eher aus Verzweiflung als aus Zuversicht erfolgt. Larry Summers, der ehemalige US-Finanzminister, ist einer derjenigen, die ihre Haltung geändert haben: "Vor sechs Monaten oder einem Jahr galt es als unumstößlich, dass die Chines*innen irgendwann die amerikanische Wirtschaft in Bezug auf das Gesamt-BIP zu Marktkursen übertreffen würden... Das ist jetzt viel weniger klar." Ruchir Sharma argumentierte in der Financial Times: "Chinas Wirtschaft wird die USA nicht vor 2060 überholen, wenn überhaupt". 

41. Die ISA hat immer wieder davor gewarnt, dass viele Einschätzungen der wirtschaftlichen Stärke Chinas auf Übertreibungen beruhen und offensichtliche Schwächen und Widersprüche übersehen. Xis Regime betreibt Übertreibung und Selbstaufblähung als Strategie, die Teil seiner autoritären nationalistischen Doktrin ist, um das eigene Land zu beherrschen und im Ausland Ehrfurcht zu erwecken. Heute haben die USA und die westlichen Strategen das durchaus berechtigte Gefühl, dass sie die Oberhand über die KPCh haben. Doch wie Xi laufen sie Gefahr, in Hybris zu verfallen und sich zu übernehmen. Der Konflikt zwischen China und den USA wird viele Phasen durchlaufen, in denen sich das wirtschaftliche und geopolitische Kräfteverhältnis immer wieder verschieben kann. 

42. Ebenso auffällig wie die wirtschaftliche und soziale Krise ist die rasche Radikalisierung der jungen Generation. In diesem Material ist kein Platz, um die wahrscheinliche Entwicklung des Kampfes von Arbeiter*innen und unterdrückten Gruppen zu erörtern, da eine solche Diskussion sehr komplizierte Themen behandeln muss. Es genügt zu sagen, dass die Verschärfung der Unterdrückung und die Betonung von "Sicherheit" durch das Xi-Regime zeigen, dass die herrschende Klasse selbst sich auf großen Widerstand vorbereitet. 

Die Vereinigten Staaten 

43. Die USA sind zwar immer noch die mächtigste kapitalistische Nation, aber sie sind kaum immun gegen die vielfältigen und sich verstärkenden Krisen, die sich weltweit abspielen. Jeder Monat scheint eine neue Klimakatastrophe zu bringen, von verheerenden Waldbränden bis hin zu Wirbelstürmen. Der katastrophale Umgang mit der Pandemie unter Trump und Biden hat zu über einer Million unnötiger Todesfälle geführt. Weit davon entfernt, dass die herrschende Klasse die Gelegenheit ergriffen hat, das Gesundheitssystem zu stärken, ist es heute in einem noch schlechteren Zustand. Die Pandemie verstärkte auch die Ungleichheit, da die Milliardär*innen immer mehr Reichtum anhäuften, während Millionen Menschen gezwungen waren, sich an Lebenstafeln zu wenden. Einige politische Maßnahmen, die im Rahmen der kurzzeitigen Hinwendung zu keynesianischen Maßnahmen, erzwungen durch das Ausmaß der Wirtschaftskrise von 2020, eingeführt wurden, verringerten die Armut, allerdings nur vorübergehend. 

44. Da die Inflation immer noch bei über 8 % liegt und die US-Notenbank die Zinssätze ständig erhöht, um die Nachfrage zu drosseln, und zwar absichtlich auch durch steigende Arbeitslosigkeit, deuten alle Anzeichen auf eine ernsthafte Konjunkturabschwächung hin. Als wichtigste Reservewährung der Welt sind die USA jedoch in einzigartiger Weise in der Lage, einen Teil ihrer wirtschaftlichen Probleme in den Rest der Welt zu exportieren. Dies kann in einem bestimmten Stadium mit einer "Flucht in die Qualität" kombiniert werden, bei der Kapital in den sicheren Hafen der US-Staatsanleihen zurückkehrt, um dem globalen Sturm zu entgehen. Wenn sich der globale Abschwung jedoch auch zu einer ernsthaften Krise der Finanzmärkte entwickelt, werden die USA einer tiefen Rezession nicht entgehen. Und es gibt sicherlich zahlreiche Blasen, die darauf warten zu platzen, und es gibt bereits Anzeichen dafür, dass sich der Immobiliensektor rasch abkühlt. 

45. Die USA haben eine tiefgreifende politische Polarisierung erlebt, die erstmals im Gefolge der Krise von 2008-9 zutage trat. Sowohl die Unterstützung für Donald Trump als auch für Bernie Sanders war, wie wir bereits erläutert haben, bis zu einem gewissen Grad Ausdruck einer Revolte gegen den Neoliberalismus. Im Fall von Trump wurde dies mit einem giftigen Appell an Nativismus und Frauenfeindlichkeit kombiniert. Der Trumpismus hat rechtsextremes Gedankengut für Millionen von Menschen normalisiert, auch wenn die Rechtsextremen als organisierte Kraft noch klein sind. Rechte Verschwörungsmythen, darunter die Leugnung des Wahlergebnisses 2020, sind an der Basis der Republikanischen Partei weiterhin stark vertreten. Ein wachsender Teil ihrer gewählten Vertreter*innen ist entschlossen, in Zukunft noch extremere Maßnahmen zu ergreifen, um Wahlergebnisse zu kippen, die ihnen nicht passen. 

46. Seit Januar 2021 kontrollieren die Demokraten das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses. Biden versprach bei seinem Amtsantritt, im Geiste von Roosevelt und dem New Deal zu regieren und unter anderem eine Ausweitung der Sozialprogramme zu finanzieren, auf eine ökologische Wende hinzuarbeiten und sogar die Gewerkschaftsrechte zu erweitern. Doch in der Praxis ist das, was für die arbeitende Bevölkerung geleistet wurde, äußerst dürftig. Die Dobbs-Entscheidung des reaktionären Obersten Gerichtshofs, mit der Roe v. Wade gekippt wurde, hat für Millionen wütende Menschen das gesamte politische System entzaubert, als sie sahen, wie die Demokratische Partei völlig versagt und nicht einmal die grundlegendsten Rechte verteidigt hat, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden und denen sie angeblich verpflichtet ist. 

47. Trotz ihres Versagens bei der Verteidigung des Abtreibungsrechts, des Bruchs einer Reihe anderer Wahlversprechen und der grassierenden Inflation, die unter ihrer Aufsicht die Löhne auffrisst, haben die Demokraten bei den Zwischenwahlen besser abgeschnitten als erwartet. Sie konnten ihre Kontrolle über den Senat halten und sogar leicht ausbauen, während sie die Kontrolle über das Repräsentantenhaus knapp verloren. Ein Schlüsselfaktor war die Wut über das Dobbs-Urteil, für das die Republikaner verantwortlich gemacht werden, sowie die Ablehnung unabhängiger Wähler*innen, dass die Partei weiterhin eng mit Trump zusammenarbeitet. Das Ergebnis wurde als Rückschlag für Trump gewertet, was auch stimmt, aber es wäre falsch, daraus zu schließen, dass er oder sein Parteiflügel eine entscheidende Niederlage erlitten haben. Im Moment bleibt er der Spitzenkandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen 2024. Und die harte Rechte im neuen Repräsentantenhaus ist eindeutig bereit, ihre Stimmen zu nutzen, um Zugeständnisse zu erzwingen, während "The Squad" sich ihrer Loyalität gegenüber der demokratischen Führung rühmt. Dies wird auch die politische Dysfunktion in Washington verschlimmern und dem Trump'schen Flügel der Partei Raum für Zugewinne verschaffen.

48. In den letzten Jahren gab es in den USA eine Reihe wichtiger Arbeitskämpfe, angefangen bei der Lehrer*innenrevolte 2018/9 bis hin zu den Organisierungskampagnen bei Starbucks und Amazon. Während die Organisierungskampagne im Kaffeesektor weitgehend zum Stillstand gekommen ist, könnte der Kampf bei Amazon an Fahrt gewinnen. Wie beim Sieg in der JFK8-Anlage in Staten Island im April 2022 könnten weitere Organisierungserfolge eine massive Dynamisierungswirkung haben. Andere Kämpfe zeichnen sich am Horizont ab, insbesondere der Kampf um einen Tarifvertrag bei UPS im Jahr 2023. In der Teamsters-Gewerkschaft sind 360.000 UPS-Beschäftigte organisiert. Diese wichtige Gewerkschaft hat eine neue Führung, die mit dem Versprechen angetreten ist, eine kämpferischere Haltung einzunehmen. Die Kämpfe bei UPS und Amazon unterstreichen die zentrale Rolle des Logistiksektors bei der Neuentwicklung einer kämpferischen Arbeiter*innenbewegung in den USA. Sie unterstreichen auch die entscheidende Rolle einer Führung, die sich auf eine Klassenkampfstrategie stützt. Es gab viele reformorientierte oder linke Führungen, die sich in der letzten Zeit als dieser Aufgabe nicht gewachsen erwiesen haben. 

49. Eine wichtige Frage ist das Ausmaß, in dem die kommende Rezession den Klassenkampf abwürgt. Dies hängt zum Teil davon ab, wie ernst die Rezession ist. Aber wie wir bereits dargelegt haben, wird aufgrund der Erfahrungen von 2008-9 und 2020 der "Betäubungseffekt" selbst im Falle einer tiefen Rezession wahrscheinlich geringer sein als zuvor. Dies wird die dritte Rezession in weniger als 15 Jahren sein. 

50. Im Jahr 2020, nach mehreren Monaten Lockdown, explodierte infolge des Mordes an George Floyd die zweite Welle der multiethnischen Black-Lives-Matter-Bewegung auf den Straßen und spiegelte die massive Unzufriedenheit unter der Jugend im Allgemeinen wider. Diese Bewegung, die sich gegen die rassistische staatliche Repression und die Polizei wandte, hatte einen radikalen Ansatz, der weiter hätte entwickelt werden können, aber sie hatte auch keine effektive Führung und kein entwickeltes Programm und es gelang ihr nicht, dauerhafte demokratische Strukturen aufzubauen. Die begrenzten konkreten Errungenschaften der Bewegung wurden seither weitgehend wieder zunichte gemacht. Das daraus resultierende Gefühl der Enttäuschung hatte auch eine dämpfende Wirkung auf den breiteren sozialen Kampf. Die fortgesetzte brutale rassistische Unterdrückung legt den Grundstein für künftige Explosionen. Die harten Lehren aus den früheren BLM-Wellen können zu einem fortschrittlicheren Bewusstsein in einer Schicht führen, auch in der schwarzen Arbeiterj*innenugend, die in der revolutionären sozialistischen Bewegung eine Schlüsselrolle spielen muss.

51. Allerdings gab es eine relativ große Welle von Demonstrationen gegen die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade durch den Obersten Gerichtshof, auch wenn sie im Vergleich zum Women's March 2017 begrenzt war, aber angesichts des Ausmaßes der Wut ein weitaus größeres Ausmaß hätte haben können. Dies wurde teilweise durch die miserable Rolle der liberalen feministischen Mainstream-Organisationen verhindert, spiegelte aber auch eine Infragestellung der Fähigkeit von Massenbewegungen wider, Dinge zu verändern, die durch die gravierenden Schwächen der bestehenden Linken noch verstärkt werden. 

52. Vor allem die Kapitulation von Bernie Sanders in den Vorwahlen 2020 vor Biden hat nachhaltige Auswirkungen gehabt. Jetzt ist die Autorität von Sanders und noch mehr von AOC ernsthaft angekratzt. Dies zeigt die katastrophalen Auswirkungen des populären frontistischen Ansatzes, den die gewählte weich-reformistische Linke angenommen hat, um angeblich der Gefahr des Trumpismus zu begegnen. Der Preis für die Aufnahme in Bidens und Pelosis "Team" im neuen Kongress bestand darin, ihr eigenes Programm fallen zu lassen, das trotz aller Einschränkungen enorm populär war und Millionen von Menschen begeisterte. Sie beschränkten sich darauf, Bidens Programm zu unterstützen, für das Biden dann nicht kämpfte, und sie gaben jeden Anspruch auf, die arbeitenden Menschen unabhängig für irgendwelche Forderungen zu mobilisieren. Das Ergebnis war, um es mit Trotzkis Worten über die Volksfront der Massenparteien der Arbeiter*innen mit der liberalen Bourgeoisie in Spanien zu sagen, demobilisierend und demoralisierend.

53. Die Democratic Socialists of America (DSA), die Bernie und der Squad Rückendeckung gaben und ebenfalls auf eine unabhängige Mobilisierung der Menschen verzichteten, haben vorhersehbar sowohl an Mitgliedern als auch an Einfluss eingebüßt. Radikalisierte junge Menschen, die jetzt aktiv werden, sehen darin nicht mehr die natürliche Anlaufstelle. Dies ist eine drastische Kehrtwende von 2016 bis 2020, als die DSA aufgrund ihrer Unterstützung für Bernies Kampagnen und des Wunsches einer großen Anzahl junger Menschen, eine Organisation aufzubauen, die diesen Kampf fortsetzen kann, auf fast 100.000 Mitglieder anwuchs. Wir verfolgten keinen sektiererischen Ansatz und engagierten uns zu Recht sowohl in Bernies Kampagnen als auch in der DSA. Aber wir haben auch davor gewarnt, dass die Konzentration auf den Versuch, die Demokratische Partei in ein Vehikel für die Interessen der arbeitenden Menschen zu verwandeln, zum Scheitern verurteilt ist. 

54. All dies sind reale Probleme und können nicht überspielt werden. Aber die Entwicklungen in den Betrieben und die Proteste um Dobbs zeigen, dass es ein massives Kampfpotenzial gibt, wenn eine klare Führung gegeben wird. Die sehr reale Peitsche der Konterrevolution und die völlige Unzulänglichkeit der Demokraten bedeuten, dass die nächste Welle des Kampfes auf einer höheren Ebene beginnen wird. Ein positives Element ist, dass es unter jungen Menschen keine nennenswerten Illusionen mehr gibt, die Demokraten zu "reformieren", wie es zwischen 2016 und 2020 der Fall war. Dies weist auch auf die entscheidende Rolle der Revolutionär*innen hin, wenn es darum geht, die wichtigsten Lehren aus den Siegen und Niederlagen der letzten Zeit zu ziehen und zu verbreiten. 

Südasien 

55. Südasien befindet sich in einem Wirbelsturm der Krise von schwerem Ausmaß. Die Regierung von Narendra Modi in Indien brüstet sich damit, eine der leistungsstärksten Volkswirtschaften der Welt zu führen, aber wie ein Sprichwort sagt: "Im Land der Blinden ist der Einäugige König". Die Tatsache, dass ein Land, das im Welthunger-Index das dritte Jahr in Folge abgerutscht ist, das mit den schlechtesten Arbeitslosenzahlen seit einem halben Jahrhundert und den größten Kapitalabflüssen seit der globalen Finanzkrise von 2008 konfrontiert ist, seine Nachbarn wirtschaftlich übertrifft, verdeutlicht die Schwere der wirtschaftlichen Katastrophe, mit der die gesamte Region konfrontiert ist. 

56. Alle Länder Südasiens haben in unterschiedlichem Ausmaß mit verlangsamtem Wachstum, steigender Inflation, zunehmenden Leistungsbilanzdefiziten, Abwertung ihrer Währungen und sinkenden Devisenreserven zu kämpfen, und das noch bevor die Auswirkungen der weltweiten Rezession voll zum Tragen kommen. Die Strom- und Energiekrise in Bangladesch, die im vergangenen Oktober 140 Millionen Menschen (fast das ganze Land) sieben Stunden lang im Dunkeln sitzen ließ, weil das Stromnetz ausgefallen war, spiegelt exemplarisch die Anfälligkeit der Region für globale Schocks wider, aber auch die in weiten Teilen der Region vorherrschende Baufälligkeit der Infrastruktur. 

57. Vor allem Pakistan und Sri Lanka befinden sich in einem wirtschaftlichen Sumpf. Fünf von sechs Familien in Sri Lanka lassen inzwischen regelmäßig Mahlzeiten ausfallen, während in Pakistan 45 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch die jüngsten Überschwemmungen, eines der schrecklichsten Klimaereignisse der jüngeren Geschichte, zerstört wurden. Allein die Überschwemmungen könnten nach Angaben der Weltbank zwischen 5,8 und 9 Millionen Menschen zusätzlich in die Armut treiben und eine massive Ausbreitung tödlicher Krankheiten hervorrufen. Dies ist ein Vorbote dessen, was auf eine Region zukommt, der Wissenschaftler*innen seit Jahren vorausgesagt haben, dass sie zu einem Brennpunkt für klimabedingte Katastrophen werden wird, von tödlichen Hitzewellen und extremen Dürren bis hin zum Abschmelzen der Gletscher und immer unberechenbareren und gefährlicheren Monsunen. 

58. Die Überschwemmungen in Pakistan haben die ohnehin schon akute politische und wirtschaftliche Krise des Landes weiter verschärft; die Wut der Massen, die bereits mit beispiellosen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie und den vom IWF auferlegten Sparmaßnahmen zu kämpfen haben, hat sich gegen ein hoffnungslos korruptes und ausplünderndes politisches Establishment noch verstärkt. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Sindh und Belutschistan, wo das Gefühl der nationalen Unterdrückung tief sitzt und die Unabhängigkeitsbefürworter*innen schon vor dieser Katastrophe auf dem Vormarsch waren. 

59. In Teilen des Landes ist auch ein Wiederaufleben der sektiererischen Gewalt zu beobachten. Die Gesamtzahl der Vorfälle im Zusammenhang mit Terrorismus hat den höchsten Stand seit 2017 erreicht, und tödliche Angriffe der pakistanischen Taliban (TTP) haben im nördlichen Swat-Tal einige der größten Proteste aller Zeiten ausgelöst. Vor dem Hintergrund der ohnehin schon großen politischen Unbeliebtheit der von Shehbaz Sharif geführten Koalition, die Imran Khans Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI)-Regierung im April 2022 ablöste, könnten all diese Elemente den Weg für eine Rückkehr Khans an die Macht ebnen, der immer noch über eine beträchtliche Unterstützerbasis verfügt, insbesondere in der städtischen Mittelschicht (vorausgesetzt, es kann eine neue Vereinbarung mit der Armeespitze getroffen werden) – oder sogar für eine völlige Machtübernahme durch das Militär. 

60. Sharifs Pakistan Muslim League-Nawaz (PML-N) führt eine instabile und zersplitterte Koalition aus 13 Parteien an, die keine der vier Provinzen des Landes kontrolliert. Einem globalen Trend folgend, erlebt die Region insgesamt eine starke Erosion der Unterstützung für die wichtigsten kapitalistischen Kräfte, die die politische Landschaft jahrzehntelang dominiert hatten. Ranil Wickremesinghe, der Präsident Sri Lankas, ist Mitglied der United National Party (UNP), die früher eine der beiden dominierenden Parteien der herrschenden Klasse des Landes war. Diese Partei hatte vor den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2020 106 Abgeordnete – jetzt hat sie nur noch einen! 

61. Die existenziellen Probleme der Kongresspartei in Indien, die von einer internen Krise in die nächste stürzt, weisen in die gleiche Richtung. In den letzten Jahren erlebte sie eine Reihe von Wahldebakeln, Überläufen von Führungspersönlichkeiten zu anderen Parteien und Massenaustritten von Mitgliedern. Vor zehn Jahren war sie in zwölf Bundesstaaten an der Macht, heute regiert sie nur noch in Chhattisgarh und Rajasthan.Indem er die Milliardär*innen aufs Korn nimmt und versucht, die Jugend, die Randgruppen, die Frauen und die Armen anzusprechen, stellt Rahul Gandhis monatelanger "Unite India March" einen Versuch dar, wieder eine lebensfähige Opposition zur BJP aufzubauen, und eine Einsicht der nüchterneren Kongressstrategen, dass ein Schlag gegen das Zentrum Indiens "Grand Old Party" nur in die völlige Bedeutungslosigkeit treiben wird. 

62. Von den landesweiten Anti-CAA-Protesten bis zur einjährigen Bäuer*innenbewegung, von den Adivasi, die gegen den Landraub der Konzerne kämpfen, bis zu den militanten sektoralen Streiks, die regelmäßig im ganzen Land ausbrechen, gibt es in Indien keinen Mangel an Kämpfen. Das Versagen der Gewerkschaftsbürokratie, dieses Potenzial zu nutzen, und das Fehlen einer geschlossenen und glaubwürdigen politischen Opposition der Arbeiter*innenklasse gegen die BJP unter den Bedingungen immer größerer sozialer Ungleichheit und Verzweiflung haben jedoch auch die Verschärfung des Staatsautoritarismus und chauvinistischer Provokationen durch die Regierungspartei und die radikaleren hinduistischen, rechtsextremen Gruppierungen, die in ihrem Schatten stehen, erleichtert, insbesondere in den Bundesstaaten des nördlichen "Hindi-Gürtels". Dies hat Indien zu einem sozialen und kommunalistischen Brandherd gemacht, in dem in der nächsten Zeit explosive Kämpfe und brutale kommunalistische Gewalt ausbrechen können. 

63. Die Versuche der Zentralregierung, ihre mehrheitsorientierte Agenda durchzusetzen, einschließlich der Verwendung von Hindi in nicht-hindisprachigen Bundesstaaten, haben auch dazu beigetragen, dass als Reaktion darauf Abwehrgefühle regionaler Identitäten wiederbelebt wurden, wie es in Tamil Nadu und Westbengalen der Fall ist. In diesem Zusammenhang könnte die nationale Frage vor allem im Süden in Zukunft noch deutlicher hervortreten, zumal die bevorstehende demografische Neuordnung der Sitzverteilung in der Lok Sabha (Parlament) den nördlichen und zentralen Bundesstaaten, in denen die BJP stärker ist, zugute kommen dürfte. 

64. Seit die Modi-Regierung 2014 an die Macht kam, hat sie eine Reihe von Krisen wie das Demonetisierungsfiasko und den katastrophalen Umgang mit der Pandemie gemeistert. Es hat eine Reihe massiver Generalstreiks gegeben. Doch das Fehlen einer politischen Alternative der Arbeiter*innenklasse zur BJP und das entsprechende Versagen der Gewerkschaftsführung haben dazu geführt, dass das BJP-Regime nicht nur acht Jahre an der Spitze der Zentralregierung überlebt hat, sondern auch seine Macht in den bundesstaatlichen Parlamenten in bedeutenden Teilen des Landes gefestigt hat. Diese Stärkung ihrer Wählerbasis ging Hand in Hand mit einer systematischen Verschärfung der fundamentalistischen Rhetorik im gesellschaftlichen Bereich, einer Zunahme von Lynchmorden und Gewalt gegen Muslime, Dalits und andere Minderheiten sowie unverhohlenen Vergeltungsmaßnahmen gegen prominente Aktivist*innen. Im Falle der Trump-Administration in den Vereinigten Staaten sah die herrschende Klasse zwar einen gewissen Wert in Trump, war aber stets besorgt über die Instabilität, die seine Regierung darstellte. Im Gegensatz dazu sind sich große Teile der herrschenden Klasse, der staatlichen Institutionen und der Medien im Moment größtenteils einig über die Tagesordnung der BJP-RSS, wie die Aufrechterhaltung des Hijab-Verbots durch ein staatliches Gericht zeigt. Diese Entwicklungen unterstreichen die Gefahr, dass sich ein rechtsextremes, autoritäres Regime weiter verfestigt, wenn die multiethnische indische Arbeiter*innenklasse nicht in der Lage ist, rechtzeitig eine kohärente Alternative zu entwickeln.

Region im Strudel des neuen Kalten Krieges gefangen 

65. Nach dem Aufflammen tödlicher Gewalt zwischen chinesischen und indischen Truppen entlang der umstrittenen Grenze im östlichen Ladakh im April 2020 beschleunigte Modis Indien, das jahrelang vom Weißen Haus als strategisches Bollwerk zur Eindämmung der regionalen Ambitionen Chinas angesehen worden war, seine Hinwendung zum US-Imperialismus und ergriff eine Reihe protektionistischer Maßnahmen, um den Einfluss chinesischer Unternehmen auf dem indischen Markt zu beschneiden. Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine, der den zwischenimperialistischen Konflikt auf die Spitze trieb, hat Indien (immer noch der größte Importeur russischer Waffen in der Welt) die Bremse gezogen, um nicht zu schnell in eines der beiden Lager zu springen, und versucht, auf einem schmalen Grat zwischen beiden Seiten zu wandeln. 

66. Indiens Balanceakt wird in Zukunft weiteren gegensätzlichen Belastungen und Herausforderungen ausgesetzt sein, die mit der größeren und eskalierenden Dynamik des Neuen Kalten Krieges zusammenhängen. Auch wenn es in den Beziehungen zwischen Indien und China Phasen der Entspannung geben mag, dürfte der langfristige und vorherrschende Trend eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den beiden Ländern sein, der eine Nebenhandlung des Kalten Krieges darstellt. Während in Ladakh ein teilweiser Rückzug stattgefunden hat, ist der Ausbau der militärischen Infrastruktur entlang der Demarkationslinie weiter vorangeschritten, und auf beiden Seiten sind weiterhin Zehntausende von Soldaten stationiert. Indien bemüht sich intensiv darum, sich als zuverlässiges alternatives Produktionszentrum für westliche Unternehmen zu verkaufen, die nach Möglichkeiten suchen, ihre Lieferketten von China weg zu diversifizieren. Indien war auch das einzige Land in Südasien, das sich weigerte, nach dem letzten Säbelrasseln in der Meerenge von Taiwan öffentlich sein Engagement für die "Ein-China-Politik" zu bekräftigen. 

67. Darüber hinaus tobt in Sri Lanka, Nepal, Bangladesch und auf den Malediven bereits ein Machtkampf zwischen China und Indien. Ganz allgemein ist in ganz Südasien ein ausgedehnter "Stellungskrieg" voll häufiger Wendungen im Gange, in dem die USA, China, Indien und in geringerem Maße auch Pakistan versuchen, ihre geopolitische Position zu stärken, während weniger einflussreiche Länder zwischen diese globalen und regionalen imperialistischen Mächte gedrängt werden. 

68. Die Absicht des chinesischen Regimes, den Einfluss der USA in Pakistan weiter anzufechten, indem es sein Bündnis mit "Chinas 'Hardcore'-Freund und verlässlichem Bruder" (so ein hoher chinesischer Beamter für auswärtige Angelegenheiten) festigt, ist angesichts der langjährigen Rivalität Pakistans mit Indien ein weiterer Faktor, der den Pfad der indisch-chinesischen Beziehungen steiniger machen könnte. Die umstrittene Region Kaschmir, in der die konkurrierenden Interessen der "großen Drei" der Region aufeinander treffen, könnte in der nächsten Zeit zu einem größeren Brennpunkt militärischer Spannungen werden. 

Sri Lanka von revolutionären Umwälzungen erschüttert

69. In Sri Lanka verstärken sowohl Indien als auch die USA nach einer ausgeprägten Pro-China-Politik unter den Rajapaskas nun ihre Bemühungen, den Einfluss Chinas während der Wirtschafts- und Schuldenkrise zurückzudrängen, indem sie sowohl Finanzhilfen als auch verstärkte Verweise auf die katastrophale Menschenrechtslage in Sri Lanka als geopolitische Erpressungsinstrumente einsetzen. 

70. Die Intensität und Geschwindigkeit der revolutionären Umwälzungen, die die Insel im Laufe des Jahres 2022 erschütterten – mit dem ersten Generalstreik seit 42 Jahren und dem ersten Hartal seit 69 Jahren –, sind ein Paradigma für die explosiven Phasen der sozialen und politischen Beschleunigung, auf die sich Sozialist*innen in dieser neuen Ära einstellen sollten. Die Szenen, in denen Menschen wichtige Staatsgebäude besetzten und ein einst mächtiger, völkermordender Präsident in aller Eile aus dem Land floh, werden in den Köpfen von Millionen Werktätigen in aller Welt unauslöschliche Spuren hinterlassen haben. 

71. Seither hat der Staat jedoch die politische Verwirrung und die Ausflüchte an der Spitze der "Aragalaya"-Bewegung genutzt, um einen entschlossenen konterrevolutionären Gegenschlag zu führen. Das Lager der Demonstrant*innen wurde brutal niedergeschlagen. Tausende von Demonstrant*innen, darunter Gewerkschafts- und Studentenführer*innen, wurden verhaftet und unter drakonischen Anschuldigungen festgehalten, und Teile von Colombo sind jetzt als "Hochsicherheitszonen" ausgewiesen, in denen Proteste verboten sind. Da Wickremsinghe über keine nennenswerte stabile soziale Basis verfügt, ist er zunehmend gezwungen, sich auf die Armee und den Staatsapparat zu stützen, um sich an der Macht zu halten, die vom IWF geforderten weitreichenden Sparmaßnahmen durchzusetzen und sich auf die Massenkämpfe vorzubereiten, die in den kommenden Monaten mit Sicherheit wieder aufflammen werden. 

72. Dies kann nur gestoppt werden, indem die unabhängige Macht der Arbeiter*innenklasse durch ein eskalierendes Programm wirtschaftlicher und politischer Forderungen mobilisiert wird, das auf sozialistische Schlussfolgerungen hinweist, während gleichzeitig die spezifische Unterdrückung der tamilischen Gemeinschaft angegangen wird und die Unterstützung der Arbeiter*innen und der Armen auf internationaler Ebene gesucht wird. 

Südostasien 

73. In Südostasien, das von den militärischen Stellvertreterkriegen des westlichen Imperialismus und des Stalinismus während des historischen Kalten Krieges am stärksten gezeichnet ist, nehmen die Spannungen als Schlüsselregion+ im zwischenimperialistischen Kampf zwischen den USA und China und im Kontext wachsender wirtschaftlicher und sozialer Instabilität zu. Die Ausweitung der Handelsbeziehungen und der Einfluss Pekings auf die Region sowie die zunehmende militärische Selbstbehauptung im Südchinesischen Meer haben die Biden-Regierung zu einem Gegenschlag veranlasst, der sich in offenen geostrategischen Erklärungen, in der Ausrichtung des ASEAN-Gipfels im Mai 2022 und in der Integration einiger ASEAN-Länder in das Indo-Pazifik-Wirtschaftsforum IPEF ausdrückt. Dennoch ist die chinesische Konjunkturabschwächung ein weiterer Faktor, der die Spaltung der herrschenden Klassen in der Region verstärken dürfte, wobei der pro-chinesische und der pro-US-Flügel unterschiedliche Strategien für die neokolonialen Regime verkörpern, die bisher versuchen, zwischen den imperialistischen Supermächten zu manövrieren.

74. Auf den Philippinen wurde der vom ehemaligen Präsidenten Duterte gepriesene "Pivot to China", der sich entwickelte, während Peking seine militärische Aggression im Südchinesischen Meer verstärkte, schnell zum Rückzug gezwungen, einschließlich der Wiedereinführung des US-Philippinen Visiting Force Agreement (VFA) und des Enhanced Defense Cooperation Agreement (EDCA) - Abkommen mit dem früheren kolonialen Besatzer des Archipels. Sein politischer Erbe "Bongbong" Marcos spielt stattdessen mit einer Rhetorik der "Neutralität", während er Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate für Investitionen umwirbt. Derzeit verzeichnet die Region ein gewisses Wirtschaftswachstum, das jedoch bereits von einem Inflationsdruck erschüttert wurde, der in Laos auf über 30 % im Jahr anstieg und in Myanmar nicht weit dahinter lag. Nachdem die Pandemie nach Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank bereits 5 Millionen Menschen in der Region in extreme Armut gestürzt und bis 2021 mehr als 9 Millionen Arbeitsplätze vernichtet hat, und angesichts weiterer verheerender Überschwemmungen und Taifune würde ein möglicher globaler Einbruch den Außenhandel, die Kapitalinvestitionen und die Überweisungen beeinträchtigen, während sich die verschuldeten Regierungen mit fiskalischen Impulsen zurückhalten würden.

75. Die symbolische Rückkehr der berüchtigten superreichen Marcos-Familie auf den Philippinen an die Macht, fast vier Jahrzehnte nach ihrer Absetzung durch die "People Power"-Revolution von 1986, hat unterstrichen, dass Duterte, wie seine Amtskollegen auf der ganzen Welt, nicht nur eine vorübergehende Episode war. Der Aufstieg von Rechtspopulismus und Autoritarismus ist ein nach rechts kanalisierter Ausdruck der massiven Ablehnung der leeren, zerbrochenen liberalen Versprechen der kapitalistischen "Demokratie". Aber wie auch anderswo werden Illusionen in dieser Richtung schnell in Frage gestellt. Die akuten Lebensbedingungen und die düsteren Aussichten für die Massen machen die Bemühungen der Regierungen, den demokratischen Spielraum einzuengen, zu einem explosiven Spiel für die herrschenden Klassen in dieser Zeit. Die Musik der Zukunft ist kühner, eskalierter Massenwiderstand und Herausforderungen gegen die kapitalistischen Regime in der Region, wie in den ersten Kapiteln in diesem Zeitalter der Unordnung angedeutet, von den demokratischen Protesten in Thailand, die eine beginnende, beispiellose Herausforderung für die Monarchie darstellen, bis hin zu den Erfahrungen des von Arbeiter*innen angeführten revolutionären Aufstandes in Myanmar.

Lateinamerika 

76. Lateinamerika ist eine Region, in der die vielfältigen Elemente der globalen Krise und die Hauptmerkmale der gegenwärtigen Periode deutlich zu Tage treten. Die Region war Schauplatz einiger der schlimmsten Folgen der Pandemie und der globalen Wirtschaftskrise mit zunehmender Ungleichheit, Armut und Hunger. Sie ist auch ein eindrucksvolles Beispiel für die Instabilität und die politische und soziale Polarisierung, die den gegenwärtigen Moment kennzeichnen, einschließlich des Aufstiegs neuer linker Kräfte, aber auch der bedrohlichen Präsenz der extremen Rechten. 

77. Einige der bedeutendsten Massenbewegungen und Volksaufstände, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, fanden in dieser Region statt. In vielen Fällen kam es zu einer Institutionalisierung dieser Prozesse, indem neue "progressive" Regierungen gewählt wurden, die die Grenzen von Lösungen aufzeigten, die nicht mit der kapitalistischen Ordnung brechen. 

Wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Krise 

78. Die Schwere der Pandemie und die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind Faktoren, die sich gegenseitig verstärkt haben. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Jahr 2020 und der anschließenden zaghaften Erholung ist das derzeitige Szenario ein wirtschaftlicher Abschwung, wobei die ECLACvor dem Hintergrund von Inflation und öffentlichen Defiziten für 2023  ein Wachstum von nur 1,4 % in der Region prognostiziert. Viele Länder der Region werden von der Verlangsamung der chinesischen und amerikanischen Wirtschaft und deren Auswirkungen auf ihre Exporte betroffen sein. 

79. Fiskalische Anpassungsmaßnahmen und eine Straffung der Geldpolitik werden eingesetzt, um die hohe Inflation und den Anstieg der öffentlichen Ausgaben während der schlimmsten Zeit der Pandemie auszugleichen. Die Schuldenkrise, die sich aufgrund steigender Zinssätze in den USA und Europa beschleunigt, ist ein zentraler Faktor der Krise in Ländern wie Argentinien, Ecuador, Honduras und anderen und wird als Druckfaktor für die Verabschiedung von Maßnahmen genutzt, die soziale Rechte angreifen, mit schrecklichen Auswirkungen auf die ärmsten Menschen. 

Politische Polarisierung und "progressive" Regierungen unter Druck 

80. Dieses Krisenszenario macht jeden Versuch einer politischen Stabilisierung in der Region undurchführbar, fördert eine zunehmende Polarisierung und setzt die Perspektive der Massenbewegungen wieder auf die Tagesordnung. 

81. Die Wahlsiege der als "fortschrittlich" geltenden politischen Kräfte in Ländern wie Bolivien, Peru, Kolumbien, Honduras und Chile sind nur zu verstehen, wenn man die Massenkämpfe, sozialen Explosionen und Volksaufstände berücksichtigt, die wir vor allem seit 2019 erlebt haben. 

82. Die politische Zermürbung der rechten Regierungen und ihrer neoliberalen Politik hat sich vor allem auf der Straße und von dort aus auch an den Wahlurnen gezeigt. Die Stärke der Massen konnte Putschversuchen, wie 2019 in Bolivien, und autoritären und repressiven Regierungen wie der von Piñera in Chile und Iván Duque in Kolumbien und – bisher mit geringerer Intensität – der von Bolsonaro in Brasilien widerstehen. 

83. In Ländern, die noch von der Rechten regiert werden, entstehen immer wieder neue Massenbewegungen, wie wir kürzlich in Ecuador und Haiti gesehen haben. Aber auch in Ländern, die von Mitte-Links regiert werden, gab es weiterhin Massenproteste und Kämpfe. 

84. Diese Regierungen sind bereits mit einer ganz anderen Situation konfrontiert als während des ersten Zyklus' "progressiver" Regierungen in den frühen 2000er Jahren. Die relativ günstigen Bedingungen für eine Umverteilungspolitik, die während des Rohstoffbooms damals herrschten, werden nicht mehr gegeben sein. 

85. Innerhalb der gegenwärtigen Ordnung gibt es keinen Raum für sinnvolle Reformen. Die Erfüllung der Forderungen des Volkes würde voraussetzen, dass die Privilegien und Interessen der herrschenden Klasse bis ins Mark getroffen werden. Dies kann nur mit der Kraft der Massenbewegung und entscheidend mit der Arbeiter*innenklasse an den Hebeln der Wirtschaft geschehen, indem die gesellschaftliche Produktion aus dem Privateigentum enteignet wird, mit einer sozialistischen Perspektive für den Bruch mit der gegenwärtigen Ordnung.

86. In Ermangelung revolutionärer politischer Führungen, die die Umsetzung eines revolutionären Programms anführen könnten, sind viele der neuen "fortschrittlichen" lateinamerikanischen Regierungen bereits mit politischen Krisen und ernsthaften Bedrohungen konfrontiert und öffnen sogar den Raum für die Reaktion rechtsextremer Kräfte, die zunehmend den Raum der traditionellen neoliberalen Rechten besetzen. 

Peru: politische Krise und Castillos Rechtsruck 

87. Peru ist eines der eindrucksvollsten Beispiele für diesen Prozess. Hier gewann der ehemalige Vorsitzende der Lehrer*innengewerkschaft Pedro Castillo die Wahlen im Juni 2021 mit einer linken Plattform. Er besiegte zunächst die von Keiko Fujimori vertretene Ultrarechte und konnte trotz Putschversuchen sein Amt antreten, nur um schließlich am 7. Dezember 2022 durch den rechten, obstruktionistischen Kongress abgesetzt zu werden. Nachdem die rechte Opposition in den ersten 14 Monaten zwei Anträge auf Amtsenthebung Castillos' gestellt hatte, führte der dritte Antrag zu einem Bruch der Situation. Ein parlamentarischer Staatsstreich stürzte Castillo aus dem Präsidentenamt, brachte ihn in Haft und übertrug die Macht an die Vizepräsidentin Dina Boluarte, die im Einvernehmen mit der Rechten im Kongress und mit den herrschenden Klassen handelt.

88. Der Vorwand für den parlamentarischen Staatsstreich gegen Castillo war sein verzweifelter Versuch, am Rande der Abstimmung über ein neues Amtsenthebungsverfahren den Kongress aufzulösen, eine Ausnahmeregierung auszurufen und Neuwahlen anzusetzen. Castillo hatte jedoch aufgrund des Rechtsrucks in seiner Politik deutlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Castillo entschied sich von Anfang an dafür, seine Regierung so zu führen, dass die herrschende Klasse nicht verschreckt wurde.

89. Nach dem Sturz Castillos breiten sich Proteste und Massenmobilisierungen im ganzen Land aus, trotz der starken Repression, die bereits mehr als 50 Tote gefordert hat. Obwohl sie Castillo und seinem Rechtsruck misstrauen, akzeptieren Millionen von Arbeiter*innen, Bauern und Bäuerinnen und Indigene Dina Boluarte nicht als Präsidentin und noch weniger den Kongress mit einer rechten Mehrheit. Die wichtigsten Slogans der Mobilisierungen sind die Auflösung des Kongresses, die Ausrufung von Neuwahlen und die Einleitung eines verfassungsgebenden Prozesses zur Aufhebung der Verfassung von 1993, die unter der Diktatur von Alberto Fujimori verabschiedet wurde.

90. Anstatt an die Massenbewegung zu appellieren und seine Wahlversprechen zu bekräftigen, die auf die Verstaatlichung der Bergbauunternehmen und die Einsetzung einer verfassungsgebenden Versammlung abzielten, versucht Castillo weiterhin, sich mit der herrschenden Klasse und dem Imperialismus zu arrangieren. Doch all diese Versuche scheiterten kläglich. Als er schließlich die Absicht erklärte, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, war dies zu wenig, zu spät und zu schwach, ohne jegliche Vorbereitung der Massen auf einen entscheidenden Kampf - stattdessen verließ er sich auf ein absurdes und vergebliches Vertrauen in die Streitkräfte des kapitalistischen Staates, um die tatsächliche Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zu erreichen.

91. Im Mittelpunkt der Politik der revolutionären Sozialist*innen in Peru steht die Ermutigung und Unterstützung der Massen im Kampf gegen die derzeitige illegitime Regierung von Dina Boluarte und dem rechten Kongress. Der Sieg dieser Massenbewegung ist nur möglich, wenn sie eine sozialistische Strategie und ein sozialistisches Programm annimmt. Zusammen mit der Rettung der von Pedro Castillo aufgegebenen Forderungen, wie die Verstaatlichung der Bergbauunternehmen und die Änderung der Verfassung, müssen sie mit einem sozialistischen Projekt verbunden werden. Eine verfassungsgebende Volksversammlung mit revolutionärem Charakter, die an der Basis mit Komitees der Arbeiter*innen und des organisierten und mobilisierten Volkes organisiert ist (ganz anders als der begrenzte Verfassungskonvent, den wir in Chile erlebt haben), würde die Grundlage schaffen, um die Forderungen des Volkes zu erfüllen und das politische und wirtschaftliche System zu ändern - der einzige Weg, um Peru aus der Dauerkrise zu führen, in der es sich befindet.

Argentinien: Fernández lagert die Regierung aus, um den Märkten zu dienen 

92. In Argentinien, das seit Dezember 2019 von den Peronisten Alberto Fernández als Präsident und Cristina Kirchner als Vizepräsidentin regiert wird, gibt es eine tiefe politische, wirtschaftliche und soziale Krise. Mehr als 40 % der Bevölkerung leben in Armut, die Inflation wird im Jahr 2022 voraussichtlich fast 100 % erreichen, und das Land steht kurz davor, seine Auslandsschulden nicht mehr bezahlen zu können. 

93. Die Vereinbarung mit dem IWF, die die Rückzahlung von 45 Milliarden Dollar an Schulden aufschiebt, hat das Problem nicht gelöst. Der politische und soziale Preis für die vom IWF auferlegten Maßnahmen ist zu hoch. Der Wirtschaftsminister, der die Vereinbarung unterzeichnet hatte, musste zurücktreten, und sein Nachfolger war nur 24 Tage im Amt. Der neue, von Fernández ernannte Minister, der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer Sergio Massa, ist ein rechter Politiker, der inzwischen zum Superminister aufgestiegen ist. Mit Massa vollzieht die argentinische Regierung einen noch stärkeren Rechtsruck, um das Vertrauen der Märkte zu gewinnen. 

94. Angesichts der Krise der peronistischen Regierung und einer traditionellen Rechten, die seit der Tragödie der Vorgängerregierung von Mauricio Macri ebenfalls erschöpft ist, ist ein Aufschwung rechtsextremer Alternativen zu beobachten, wie im Fall des Abgeordneten Javier Milei, der sich bereits als Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2023 aufstellt. 

95. Die Stärke der argentinischen Arbeiter*innenklasse, einschließlich der Gewerkschafts- und "Piquetero"-Bewegung, der Frauenbewegung, der Jugend usw. sind entscheidende Faktoren in diesem Prozess, trotz bürokratischer Irreführung. Es gibt auch Raum für eine radikale, von der Regierung unabhängige Linke, wie die Stimmenergebnisse der Links- und Arbeiterfront (FIT - Unidad) gezeigt haben. Die FIT-U und andere Sektoren der Linken und kämpferische soziale Bewegungen müssen den Kampf gegen die "Anpassungspolitik", die sich aus dem Abkommen mit dem IWF ergibt, vorantreiben und das Banner der Nichtbezahlung der Schulden zusammen mit der Verstaatlichung des Finanzsystems und der Schlüsselsektoren der Wirtschaft hochhalten. Es ist notwendig, eine sozialistische Opposition der Arbeiter*innenklasse gegen die Regierung von Fernandez/Cristina/Massa aufzubauen und auch den Aufstieg der extremen Rechten zu bekämpfen. 

Chile: die Niederlage des verfassungsgebenden Prozesses und der Rechtsruck von Boric 

96. In Lateinamerika haben die Wahlen neuer Mitte-Links- oder "progressiver" Regierungen Niederlagen für die Rechte und die extreme Rechte bedeutet und sich positiv auf die Arbeiter*innenklasse ausgewirkt. Aber in praktisch allen Fällen sind sie auch zu Mechanismen der Eindämmung und Institutionalisierung der potenziell revolutionären Elemente geworden, die in den Volksaufständen seit 2019 vorhanden waren. 

97. Diese Situation ist in Ländern wie Kolumbien zu beobachten, das 2021 Schauplatz einer mächtigen Massenbewegung war und schließlich im Juni 2022 den Mitte-Links-Kandidaten Gustavo Petro wählte. Der Fall Chile ist jedoch emblematisch und bietet zahlreiche Lehren. 

98. Um das revolutionäre Potenzial des Volksaufstandes vom Oktober 2019 in Chile einzudämmen, unterzeichneten Piñeras rechte Regierung und fast alle politischen Parteien einen "Friedenspakt", der den Beginn eines verfassungsgebenden Prozesses, d.h. eine Neufassung der Verfassung, vorsah, Piñera jedoch im Amt hielt und diesem Prozess eine Reihe von Beschränkungen und institutionellen Kontrollmechanismen auferlegte. Dennoch wurde der Wille, den Prozess des Wandels zu Ende zu führen, von der großen Mehrheit der Bevölkerung mehrfach bekräftigt. 

99. Die Niederlage des Entwurfs der neuen Verfassung in der Volksabstimmung im September 2022 war wiederum in erster Linie das Ergebnis von Abnutzung, Unzufriedenheit und Frustration über die Grenzen des verfassungsgebenden Prozesses. Für viele war es auch ein Protest gegen die Grenzen der Regierung Boric. Es handelte sich nicht einfach um einen Rechtsruck im Land. Während das „Nein“ zum neuen Verfassungstext 62% der Stimmen erhielt, zeigen Umfragen, dass 68% der Chilen*innen weiterhin der Meinung sind, dass eine neue Verfassung notwendig ist, und 72% mit der Situation im Land unzufrieden sind. 

100. Drei Jahre nach dem Volksaufstand von 2019 und nur sieben Monate nach dem Amtsantritt der neuen Regierung musste Gabriel Boric feststellen, dass aufgrund seiner Status-quo-Politik seine Popularität auf 27 % gesunken ist. Trotz der Rhetorik zur Verteidigung der Menschenrechte wurden die politischen Gefangenen des Aufstands von 2019 nicht freigelassen, und diejenigen, die die Repression durchgeführt haben, bleiben ungestraft. Boric hat die Militarisierung der Mapuche-Region Walmapu fortgesetzt und die Unterdrückung sozialer Bewegungen fortgesetzt. 

101. Die jüngste Kapitulation der Regierung war ihre Zustimmung zum transpazifischen Abkommen (TPP11), das die Souveränität des chilenischen Volkes zugunsten großer transnationaler Konzerne angreift. Boric hat sich auch in wichtigen internationalen Fragen wie dem Krieg in der Ukraine auf die Seite des US-Imperialismus gestellt. 

102. Der neue Verfassungstext enthält sehr positive Punkte, wie die grundlegende Verteidigung sozialer Rechte wie Gesundheit, Bildung, Wohnen, Arbeitsrechte und das Recht auf Abtreibung. Er garantierte jedoch nicht deren Umsetzung und übertrug dem konservativen chilenischen Kongress die Verantwortung, diese Grundrechte zu regeln. Außerdem billigte der Verfassungskonvent keine strukturellen Maßnahmen, die zur Gewährleistung dieser Rechte notwendig sind, wie z.B. die Verstaatlichung von Kupfer und anderen natürlichen Ressourcen. Natürlich wäre es letztlich eine bedeutende, aber begrenzte Reform im Rahmen des krisengeschüttelten Kapitalismus gewesen, die kein Rechtstext metaphysisch für die Resolution der brennenden sozialen Krisen anpassen könnte.

103. Die Rechte und die extreme Rechte wussten die Frustration und die Schwäche der Linken auszunutzen. Sie nutzten alle Mechanismen der Medienmanipulation, machten sich Fragen der öffentlichen Sicherheit zunutze, setzten Fake News und ideologischen Terrorismus ein und gingen in die Offensive gegen den neuen Verfassungstext, gegen die Regierung und den gesamten Geist des Wandels vom Oktober 2019 – und errangen einen Sieg. 

104. Trotzdem wurde die Kraft des chilenischen Oktober 2019 nicht gänzlich von den Kräften der Reaktion gebrochen und ist immer noch präsent. Im Kampf gegen die extreme Rechte wird es notwendig sein, eine politische Alternative der Arbeiter*innenklasse, der Frauen und der Jugend im Bündnis mit dem Volk der Mapuche und allen Unterdrückten aufzubauen, eine Alternative, die ein sozialistisches Programm als einzig möglichen Ausweg aufzeigt.

Mexiko, die Rezession und die Erosion des Reformismus

105. In Mexiko genießt Obrador auch vier Jahre nach seinem historischen Wahlsieg noch immer große Autorität in der Bewegung. Es wird jedoch immer deutlicher, dass die Kritik an seiner Politik in verschiedenen Sektoren gewachsen ist. Vor allem aber kommt der temporäre Charakter der politischen Autorität des Reformismus in der tiefgreifenden Diskreditierung und Desavouierung von Morena zum Ausdruck, die sich in einer tiefen internen Krise befindet, mit einem wachsenden internen Streit um die Kandidatur für 2024. Diese Verdrängung und der Verlust der Autorität von Morena stellen die Eröffnung eines wachsenden Raums für die Linke dar, der auch für uns Chancen eröffnet.

106. In diesem Szenario werden die zahlreichen Krisen, die sich weltweit abspielen, von großer Bedeutung sein, wobei die Wirtschaftskrise und die wirtschaftliche Rezession, mit der die Vereinigten Staaten 2023 konfrontiert sein werden, besonders relevant sind. 30 % des mexikanischen BIP hängen von den Exporten ab, von denen 80 % für den nordamerikanischen Markt bestimmt sind. Trotz der optimistischen Äußerungen Obradors haben verschiedene Analyst*innen seit Mitte des Jahres auf die enormen Risiken hingewiesen, denen die mexikanische Wirtschaft ausgesetzt sein wird.

107. In diesem Szenario haben wir seit Mitte des letzten Jahres eine Reihe von Kämpfen der Arbeiter*innen für Lohnerhöhungen erlebt, um die Auswirkungen der Inflation auf ihre Löhne und Lebensbedingungen rückgängig zu machen. Vom mehrstündigen Streik der Telmex-Arbeiter*innen Ende Juli bis zum Streik bei Arcelor Mittal in Lázaro Cárdenas, Michoacán, oder dem angedrohten Streik der Arbeiter*innen im Volkswagenwerk in Puebla sind dies Beispiele für eine Reaktivierung der Arbeiter*innenbewegung außerhalb und in einigen Fällen sogar gegen die versöhnliche Politik der Regierung Morena und 4T. Dies ist eine Lektion für Tausende von Arbeiter*innen über den grundlegenden Inhalt des Reformismus.

108. Dies hatte und wird natürlich Auswirkungen auf die Wahlen in verschiedenen Bundesstaaten im Jahr 2023 und die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 haben. Zwar ist Morena immer noch der Favorit, aber die Wahl rechter Elemente als Kandidat*innen von Morena und das völlige Fehlen interner Demokratie sorgen für neue bittere Siege oder sogar völlige Niederlagen, die sich auf die Stimmung der Massen auswirken werden. Die Niederlage bei der Elektrizitätsreform ist eines der dramatischsten Beispiele dafür. Gleichzeitig wird dieses Jahr die Präsidentschaftskandidatur von Morena für 2024 entschieden, die mit ziemlicher Sicherheit von Claudia Sheinbaum errungen werden wird, die den linken Flügel des Reformismus in Morena vertritt. Es ist daher unerlässlich, ein Programm mit Übergangsforderungen zu entwickeln, das es uns ermöglicht, eine Brücke zu den Millionen von Menschen zu schlagen, die Sheinbaums Kandidatur begrüßen werden, während wir gleichzeitig darauf hinweisen, dass ihre Wahl nicht ausreichen wird, dass es notwendig ist, zu kämpfen und zu mobilisieren, um diese Reformen zu gewinnen, während wir unser eigenes unabhängiges Profil um ein sozialistisches Programm herum aufbauen. 

Lulas Brasilien und das Fortbestehen der rechtsextremen Bedrohung 

109. Der Ausgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen ist ein entscheidender Faktor für die Dynamik der lateinamerikanischen Prozesse. Lulas Sieg bedeutet eine Erleichterung für Millionen von Arbeiter*innen und einen herben Rückschlag für das bolsonaristische Projekt, aber es wird nicht gelingen, die Rechtsextremen vollständig aus der brasilianischen Politik zu verdrängen. 

110. Der Bolsonarismus hat Stärke bewiesen, indem er im zweiten Wahlgang 49,1 % der Stimmen erhielt und mit einem Unterschied von weniger als 2 % gegenüber Lula verlor. Dieser knappe Sieg eröffnet Sektoren des Bolsonarismus die Möglichkeit, den Wahlprozess anzuprangern und trotz der Wahlniederlage eine Bedrohung zu bleiben, auch in den Straßen. 

111. Die einzige Möglichkeit, die Stärke der extremen Rechten einzudämmen, ist die Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse um ein Programm, das die Banner der sozialen Transformation mit demokratischen Forderungen vereint und auf radikale Veränderungen hinweist. Das Problem ist, dass Lulas Arbeiterpartei (PT) und die verbündeten Parteien genau dies im Wahlkampf nicht getan haben. 

112. Die Strategie, eine breite Front um Lula herum aufzubauen, die alle von der PSOL bis zur traditionellen neoliberalen Rechten (wie im Fall von Lulas Vizepräsident Geraldo Alckmin) vereint, erwies sich als wahltaktisch ineffektiv und aus Sicht eines linken Programms als Desaster. Im Wahlkampf machte Lula alle möglichen Zugeständnisse an die Kapitalist*innen und an rechte Politiker*innen, um deren Unterstützung gegen Bolsonaro zu gewinnen. Damit hat er die Linke falsch charakterisiert, dem Bolsonarismus, der die traditionellen Politiker*innen anprangert, Munition geliefert und die Verwirrung im Bewusstsein breiter Schichten gefördert. 

113. Die Unterstützung, die Bolsonaro trotz des kriminellen und katastrophalen Umgangs mit der Pandemie erhielt, kam nicht ausschließlich aufgrund einer rechtsextremen, rassistischen, gewalttätigen und autoritären Politik zustande Diese Politik hat zwar eine Basis in bedeutenden Teilen der weißen Mittelschicht, vor allem bei Männern im Süden und Südosten des Landes. Der Hauptteil der Ausweitung der Unterstützung für Bolsonaro ist jedoch aus zwei tiefer liegenden Gründen erfolgt. 

114. Zum einen, weil er sich auf zynische und offensichtlich betrügerische Weise für eine ultraliberal ausgerichtete Regierung unvorstellbare soziale Maßnahmen angemaßt hat, wie die Aufstockung und Ausweitung von "Auxílio Brasil", dem Nothilfepaket, und andere ähnliche Maßnahmen. Und zum anderen, entscheidender, die enorme Abnutzung und Ablehnung, die die PT nach ihrer Regierungserfahrung angesammelt hat. 

115. Bolsonaros hohe Wahlbeteiligung bedeutet also nicht, dass es unmöglich ist, die linken und sozialen Kämpfe im Land voranzubringen. Im Gegenteil, die immer noch vorhandene Bedrohung durch Bolsonaro könnte immer mehr Teile der Arbeiter*innenklasse und andere unterdrückte Sektoren ermutigen, Lehren aus den Grenzen der PT zu ziehen und auf einen Weg des Kampfes und nicht der Beschwichtigung und Aufrechterhaltung der Ordnung zu setzen. 

116. Die Situation in Brasilien, wie sie sich im Laufe der Wahlen und darüber hinaus entwickelt hat, hat die einzigartige Position bestätigt, die von der ISA sowohl innerhalb der PSOL als auch in der breiteren Arbeiter- und sozialen Bewegung vertreten wurde. Wir betonten die Notwendigkeit, die politische Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse im Kampf gegen den Bolsonaroismus zu bewahren und dabei große taktische Flexibilität sowie Sensibilität gegenüber der breiten Schicht derjenigen an den Tag zu legen, die Lula und die PT als "einzige Option" sahen, um Bolsonaro zu besiegen. Diese Position war Gegenstand intensiver interner Debatten in unserer Sektion, eine Debatte mit wichtigen Lehren für die gesamte Internationale. Unsere prinzipielle Position ist auch in einer Perspektive verwurzelt, die versteht, dass das Wachstum der extremen Rechten ein tief verwurzelter Prozess ist, der nicht durch eine Wahl gelöst werden kann, sondern eine langfristige Perspektive und Strategie des Klassenkampfes für eine politische Alternative erfordert. 

117. Wir müssen davor warnen, dass die Unmöglichkeit "fortschrittlicher" Regierungen, die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen, ohne tiefgreifende und radikale Veränderungen zu fördern, Raum für das Wiedererstarken rechter oder rechtsextremer Kräfte in der Region eröffnen könnte. Gleichzeitig könnte die Stärke, die sich in den Massenmobilisierungen gezeigt hat, auch die Bedingungen für eine Neuzusammensetzung der Linken auf einer radikaleren Grundlage schaffen, die aus den Erfahrungen mit den Grenzen dieser "progressiven" Regierungen lernt und sich auf neue Kämpfe der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Sektoren stützt.

118. Die Invasion des Kongresses, des Obersten Gerichtshofs und des Präsidentenpalastes durch eine bolsonaristische Horde am 8. Januar sollte eine Putschbewegung auslösen, die sich über die Bundesstaaten ausbreiten und ein Eingreifen der Streitkräfte anregen sollte. Das Scheitern dieser Bewegung zeigt, dass die Bedingungen für einen Staatsstreich zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben waren, aber es zeigt, dass der Bolsonarismus seine störende Rolle während der gesamten Regierung Lula fortsetzen wird.

119. Die Niederlage der Putschist*innen am 8. Januar bedeutet kurzfristig einen Rückschlag für den Bolsonarismus, einschließlich der Ablehnung durch die öffentliche Meinung und der strafrechtlichen Verfolgung vieler seiner Befürworter*innen. Außerdem hilft es der Regierung Lula, die Idee einer nationalen Union (d.h. eine Wiedervereinigung mit der Rechten und der Bourgeoisie) gegen die Bedrohungen der "Demokratie" zu stärken. Die Ereignisse des 8. Januar werden jedoch mittel- und langfristig ein Symbol und eine Referenz für die extreme Rechte bleiben, wenn sie erneut mobilisiert, insbesondere in einer Zeit, in der die Lula-Regierung in einer größeren Krise steckt und auf Verschleiß gefahren wird. Ohne die Bestrafung von Bolsonaro selbst, der Kapitalist*innen und der hohen Militäroffiziere, die an der Putschaktion beteiligt waren oder sie geduldet haben, wird die politische und militärische Krise fortbestehen und sich in Zukunft erneut manifestieren.

120. Die einzige Möglichkeit, die Rückkehr der extremen Rechten zu verhindern, besteht darin, die Organisationen der Arbeiter*innenklasse unabhängig von der Regierung und um ein Programm herum zu mobilisieren, das die wesentlichen und unmittelbaren Forderungen nach demokratischen Rechten, Löhnen, Arbeitsplätzen, Wohnraum, Bildung und Gesundheit, die Rücknahme aller von Bolsonaro und früheren Regierungen auferlegten Angriffe und Gegenreformen mit Maßnahmen antikapitalistischer und sozialistischer Natur verbindet.

Mittlerer Osten

121. Der Massenaufstand, der den Iran erschüttert hat, war das jüngste Kettenglied im regionalen System, das eine revolutionäre Krise hervorgebracht hat, nach mehr als einem Jahrzehnt von Prozessen der Revolution und Konterrevolution, die im Vergleich zu anderen Regionen verdichtet und verallgemeinert waren, seit dem Vorläufer der "Grünen Bewegung" im Iran im Jahr 2009 und der gewaltigen Explosion der revolutionären Welle von 2011. Wie wir auch nach den folgenden Phasen blutiger Konterrevolutionen erklärt haben, sind die herrschenden Klassen tiefgreifend unterminiert worden, und die globalen und regionalen allgemeinen Bedingungen im Kontext der globalen Krisen des Kapitalismus und Imperialismus hindern sie daran, das Massenbewusstsein mit einer entscheidenden Abschreckung zu versengen, die ein langfristiges Gleichgewicht für ihre Gesellschaftsordnung ermöglichen würde. Revolutionäre Prozesse sind in dieser historischen Epoche dazu bestimmt, sich im Allgemeinen in die Länge zu ziehen und sich erneut durchzusetzen, im Allgemeinen auf einer höheren Ebene, als Ausdruck der verdauten kollektiven Erfahrung, der jüngsten Kämpfe, über die nationalen Grenzen hinaus, und möglicherweise sogar, um den geschichtlichen Knoten mit der erlernten historischen Erfahrung neu zu knüpfen. Aus Angst vor neuen Massenrevolten verstärken die herrschenden Eliten in der ganzen Region die staatliche Repression und den Autoritarismus.

122. Auch wenn der Ausgang des iranischen Aufstands noch ungewiss ist, kann kein Zweifel an seiner historischen Bedeutung bestehen. Nach den wichtigen früheren Runden der Volksbewegungen, die das Regime im Entwicklungsprozess einer neuen iranischen Revolution herausgefordert haben, ist die jüngste Runde - die als Reaktion auf die Unterdrückung der Geschlechter und vor dem Hintergrund nationaler Unterdrückung und einer schweren Wirtschaftskrise ausbrach - nachhaltiger, mutiger und entschlossener und geografisch weiter ausgedehnt. Es ist auch ein Aufstand, der sich so eindeutig gegen das Regime richtet wie keiner seit der Gründung der Islamischen Republik.

123. Die Mobilisierung war zwar umfangreich, hielt sich aber in ihrem Umfang relativ in Grenzen.  Im Januar 2023 entwickelte sich unter dem konterrevolutionären Staatsterrorismus des Regimes eine gewisse Phase des Rückzugs der Bewegung. Dennoch kam es in der Erdölindustrie weiterhin zu umfangreichen Streiks, die sich über Unternehmen und Städte erstreckten, nicht nur als Teil eines wirtschaftlichen Kampfes um Löhne, Renten, Dienstleistungen und Steuersenkungen, sondern auch aus Protest und Trotz gegen die blutige Repressionswelle gegen Demonstrant*innen.

124. Dieser jüngste Aufstand im Iran hat wichtige Elemente einer organisierten Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse sowie einige im Entstehen begriffene revolutionäre Räte hervorgebracht. Wenn es jedoch nicht zu einem entscheidenden Ausbruch allgemeiner Aktionen der Arbeiter*innenklasse kommt, könnte der Dampf der Bewegung irgendwann abebben, was dem Regime die Chance für eine blutigere Gegenoffensive bieten könnte. Natürlich kann keine Massenbewegung unbegrenzt weitergehen, und da es an einer weitsichtigen revolutionären Führung fehlt, die der Aufgabe gewachsen ist, bringen komplexe Herausforderungen schließlich auch Phasen der Flaute und des Rückzugs mit sich. Doch selbst in diesem Fall bedeutet die Wirkung, die diese Proteste auf die Lebenseinstellung von Millionen von Iraner*innen, insbesondere von Frauen und jungen Menschen, hatten, dass ihr Vermächtnis wie eine Glut unter der Asche bleiben und wieder aufflammen wird - genau wie nach den blutig niedergeschlagenen früheren Runden und nicht zuletzt, weil sich die Bedingungen weiter verschlechtern, während bisher keine einzige größere Reform als Zugeständnis erreicht wurde. Das Regime der Ayatollahs mag in dieser Phase über Zugeständnisse taktisch gespalten sein, ist sich aber durchaus bewusst, dass größere Zugeständnisse das Vertrauen der fortgeschrittenen Teile der Massen, die mit dem politischen Regime als solchem unversöhnlich geworden sind, nicht befrieden, sondern stärken würden. Das Regime verlässt sich immer noch darauf, seine begrenzte konterrevolutionäre soziale Basis durch falsche "antiimperialistische" Rhetorik und religiöse Demagogie aktiv zu mobilisieren, aber selbst in dieser Basis hat die jüngste Krise wahrscheinlich Zweifel und Spaltungen verstärkt.

125. Die allgemeine Tendenz geht in Richtung einer langwierigen Periode von Revolution und Konterrevolution, in der beide Seiten darum ringen, sich entscheidend durchzusetzen, wobei der Kampf mit Höhen und Tiefen und unterschiedlicher Intensität über einen längeren Zeitraum andauern wird, während dessen der Sturz des Regimes eine inhärente Möglichkeit bleibt.

126. Der Krieg in der Ukraine hat das Szenario einer Wiederbelebung des Iran-Atomabkommens und die Aufhebung des Ölembargos und anderer imperialistischer Wirtschaftssanktionen, die das Elend der Massen verschlimmert haben, stark behindert. Während der westliche Imperialismus aufgrund der Energieentkopplung einen gesteigerten Durst nach fossilen Brennstoffen hat, würde ein erneutes Abkommen die Zustimmung des russischen Imperialismus erfordern. Letzterer ist stattdessen dazu übergegangen, den Iran im Gegenzug für überschüssige Militärprodukte mit mehr Geld zu versorgen. Dies folgt dem strategischen Wirtschafts- und Militärabkommen zwischen China und dem Iran aus dem Jahr 2021 mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Dies konnte jedoch die Auswirkungen der von den USA verhängten Wirtschaftssanktionen nicht überwältigend ausgleichen.

127. Die wiederauflebende militärische Drohung Israels gegen iranische Nuklearanlagen, wobei die vorherige israelische Regierung stark in die militärische Vorbereitung investiert hat, war nicht nur rhetorisch. Das israelische Regime hat den US-Imperialismus unter Druck gesetzt, den Druck auf Teheran wirtschaftlich, "diplomatisch" und durch eine "glaubwürdige" militärische Drohung zu verstärken, hat aber auch angedeutet, dass es seine eigene militärische Offensivoption vorbereitet. Die neue israelische Regierung von Netanjahu und den Rechtsextremen hat lauter gebellt als zuvor. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sich auch ohne die Zustimmung Washingtons zu einem solchen Schritt entschließt, auch wenn dieser militärische Schritt weitaus komplexer ist als die früheren israelischen Angriffe auf Nuklearanlagen im Irak und in Syrien und das Atomprogramm des iranischen Regimes, das noch nicht in den militärischen Bereich vorgedrungen ist, nur stören, aber nicht torpedieren könnte. Das wäre ein kompliziertes Szenario für die regionalen Perspektiven, das leicht einen regionalen Krieg auslösen könnte, der unter anderem die konterrevolutionären Bemühungen des Mullah-Regimes unterstützen könnte, seine Basis gegen einen imperialistischen Angriff zu mobilisieren.

Wirtschaftliche Verheerungen

128. Abgesehen von den Golfmonarchien – für die die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste globale Energiekrise eine Gelegenheit darstellte, ihre reichhaltigen Öl- und Gasreserven zu nutzen, um ihre Position auf der Weltbühne zu stärken – wurde die Region von den Auswirkungen dieses Krieges besonders hart getroffen, vor allem weil die meisten Länder sehr stark von Weizenimporten aus Russland und der Ukraine abhängig sind (im Falle Ägyptens zu 80 %). 

129. Der Krieg hat jedoch eine ohnehin schon kritische Situation nur noch verschlimmert. Laut der Umfrage des Arabischen Barometers gaben schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine mehr als 50 % der Befragten in mehr als der Hälfte der MENA-Länder an, dass ihnen die Lebensmittel ausgingen, bevor sie Geld hatten, um weitere Lebensmittel zu kaufen. Der IWF geht davon aus, dass die Inflation in der Region im Jahr 2022 bei 14,1 % liegen wird - weit über dem weltweiten Durchschnitt. 

130. Der massive Anstieg der Brotpreise war ein wichtiger Grund für die Streikwelle in Ägypten in den Jahren 2007-8 – die größte in der Geschichte des Nahen Ostens –, die den Weg für den Massenaufstand von 2011 ebnete, der das Regime von Hosni Mubarak stürzte. Ganz allgemein waren die steigenden Preise für Lebensmittel und Grunderzeugnisse vor dem Hintergrund der geringen Beschäftigungsmöglichkeiten für die stark unterdrückte Jugend ein zentraler Auslöser für die revolutionäre Welle, die damals die Region erfasste.

131. Da mehrere regionale Regierungen mit einer Schuldenspirale zu kämpfen haben, drängt der IWF sie dazu, im Gegenzug für neue Kredite brutale Sparmaßnahmen zu ergreifen, darunter auch die äußerst heikle Frage der Kürzung von Subventionen für Grundgüter. Vor dem Hintergrund einer enormen Lebenshaltungskostenkrise könnte dies Millionen von Menschen an den Rand des Abgrunds bringen und die Lebensfähigkeit einer Reihe der derzeitigen Regime und Regierungen in Frage stellen. 

132. Das extremste Beispiel ist der dreijährige wirtschaftliche Zusammenbruch im Libanon, der 2020 zahlungsunfähig wurde und im April 2022 eine vorläufige Einigung mit dem IWF über magere 3 Mrd. USD an bedingter "Hilfe" erzielte. Das hochgradig korrupte politische Regime, das auf einer konfessionellen Teilung der Macht basiert und sich in einer chronischen Sackgasse befindet, setzt solche Maßnahmen um, würde aber den Reichtum der herrschenden Elite nicht beschlagnahmen oder auch nur ankratzen, obwohl sich die Steuereinnahmen seit 2019 mehr als halbiert haben. Der geschäftsführende Ministerpräsident Najib Mikati ist ein Telekommunikationsmagnat, der reichste Mann im Libanon und der viertreichste in der arabischen Welt. Die Situation ist so grotesk, dass selbst der IWF erkannte, dass jenseits der fiskalischen Berechnungen jegliches Vertrauen in das Steuersystem verloren gegangen ist, und rief aus: "Die Unterbesteuerung der Wohlhabenden, hauptsächlich der Nicht-Lohnempfänger*innen, schwächt die Einnahmen, die Rolle der Steuerpolitik bei der Einkommensumverteilung und die Steuermoral. Auch die Defizite bei der Unternehmensbesteuerung sollten angegangen werden". Natürlich ruft der IWF dazu auf, die regressive Besteuerung über die Mehrwertsteuer und die Verbrauchssteuer auf Diesel zu erhöhen. 80 % der Bevölkerung leben offiziell in Armut, und mehr als 2 Millionen Menschen, d. h. mehr als ein Drittel der Bevölkerung, sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Etwaige magere Einkünfte werden durch die Hyperinflation, die auf fast 200 % in die Höhe geschnellt ist, zunichte gemacht. Die Basisinfrastruktur, einschließlich Wasser- und Stromversorgung, ist äußerst mangelhaft. Kinderarbeit und Kinderheirat sind auf dem Vormarsch. Die Menschen sind mit strengen Beschränkungen bei der Abhebung von Bankguthaben konfrontiert, und viele haben sich in dieser schwierigen Lage ihr Geld mit Gewalt geholt. Der öffentliche Sektor wurde durch Streiks wegen der Hungerlöhne erschüttert. Insbesondere Lehrer*innen mobilisierten zu Protesten und Streiks, darunter auch organisierte Proteste, bei denen die UNICEF, die predigte, Kinder wieder in die Schule zu bringen, aufgefordert wurde, die Löhne und Gehälter für Lehrer*innen syrischer Geflüchteter zu erhöhen und in US Dollar zu bezahlen. So mischt sich Verzweiflung mit militanten und aufrührerischen Elementen.

133. Seit dem Krieg in der Ukraine hat eine neue Welle von Protesten bereits Teile der Region erschüttert. Neben Jordanien und Ägypten auch Libyen, ein Land, das in den letzten zehn Jahren durch wiederholte Bürgerkriege zerrissen wurde. Im Juni 2022 stürmten Tausende das Parlament im Osten des Landes und setzten es in Brand, während in der Hauptstadt Tripolis große Proteste gegen die ständigen Stromausfälle, den Mangel an Arbeitsplätzen und die steigenden Preise für grundlegende Güter stattfanden, bei denen alle herrschenden Eliten aufgefordert wurden, die Macht abzugeben. Es war das erste Mal seit dem Sturz von Muhamar Gadafi vor 12 Jahren, dass sich die libyschen Massen in dieser Weise auf der politischen Bühne zurückmeldeten. 

134. Während diese explosive Bewegung das Potenzial für einen kollektiven Kampf über territoriale und stammesbedingte Grenzen hinweg erkennen ließ, führte das Fehlen einer Führung dazu, dass sie relativ schnell wieder verpuffte. Gegenwärtig entbrennt zwischen den Führern der beiden konkurrierenden Regierungen des Landes erneut ein Machtkampf, der in ein komplexes Geflecht regionaler Machtinteressen eingebettet ist und zu größeren militärischen Zusammenstößen und sogar zu einem neuen Bürgerkrieg führen könnte. 

135. Die sich verschlimmernde Sackgasse, in der sich die Region durch die Fortführung der kapitalistischen Verhältnisse befindet, und das Fehlen einer klaren Alternative haben dazu geführt, dass eine Schicht der Massen, die durch den ausbleibenden Wandel nach dem so genannten "Arabischen Frühling" desillusioniert ist, den Blick in die Vergangenheit richtet. In Libyen schwenkten einige Demonstrant*innen die grünen Fahnen des ehemaligen Gaddafi-Regimes, während im Irak Berichten zufolge eine bedeutende Minderheit sich nach der Ära Saddam Hussein sehnt. In Tunesien liegt die Freie-Destur-Partei (PDL), eine unverhohlene Pro-Ben-Ali-Partei, die nostalgisch die Tugenden der vorrevolutionären Epoche preist, in den Umfragen vorn, wobei sie von der Verzweiflung der meist älteren Menschen profitiert. 

136. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der gesamten Region unter der Masse der Arbeiter*innen und jungen Menschen eine tiefe soziale Wut und Ablehnung des gesamten verrotteten Establishments vorherrscht. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung (30 %) bei den Wahlen für eine neue Verfassung, die die Ein-Mann-Herrschaft des tunesischen Präsidenten Saied stützen soll, hat gezeigt, dass die starke Unterstützung, die dieser zum Zeitpunkt seines Putsches vor einem Jahr auf der Straße hatte, bereits stark geschwunden ist. Die tunesische Presse ist voll von Hinweisen auf eine bevorstehende soziale Explosion. 

137. Vor allem in Zeiten, in denen sich die Kämpfe auf einem Tiefpunkt befinden und prominente linke Reaktionen ausbleiben, können sich die Spannungen auch auf reaktionäre Art und Weise entladen. Sowohl in der Türkei als auch im Libanon, wo die arbeitende Bevölkerung und die Armen mit einer Masseninflation zu kämpfen haben, nimmt die demagogische, rassistische „Sündenbock“-Bezeichnung für syrische Flüchtlinge zu. Dies wird von den herrschenden Eliten angeheizt, welche versuchen, die Wut über die tiefe Wirtschaftskrise von sich wegzulenken. In beiden Ländern wurden vor diesem Hintergrund groß angelegte Abschiebungen von syrischen Flüchtlingen zurück nach Syrien eingeleitet. 

138. Im Irak und im Libanon haben die politischen und institutionellen Krisen, die Lähmung und die internen Machtkämpfe an der Spitze eine neue Qualität erreicht. Die Massenaufstände des Jahres 2019 waren zwar erfolglos, haben aber das enorme Ausmaß der Wut auf die korrupten herrschenden Eliten und die schwindende soziale Basis der dominierenden sektiererischen Gruppierungen offenbart. Die sinkende Wahlbeteiligung bei jeder Wahl in diesen Ländern und der Durchbruch unabhängiger Kandidat*innen, die mit der Bewegung 2019 in Verbindung gebracht werden, bei den letzten Wahlen (Mai '22) im Libanon (trotz einer Minderheitsbeteiligung) zeigen, dass eine wachsende Schicht nach Antworten außerhalb der traditionellen Kanäle der sektiererischen Parteien und Koalitionen sucht, die die politische Szene in den letzten Jahrzehnten dominiert haben. 

139. In einem zutiefst destabilisierten regionalen Umfeld ist auch der israelische Kapitalismus in eine tiefere politische Krise geraten, die in der Instabilität der barbarischen Besatzung, der Belagerung, der nationalen Unterdrückung und der kolonialen Enteignung von Millionen Palästinenser*innen, den regionalen Spannungen und dem relativen Niedergang des US-Imperialismus sowie einer unterminierten sozialen Basis für die bürgerliche "Mitte" vor dem Hintergrund einer Reihe sozialer Krisen wurzelt. Das Comeback von Netanjahu im Bündnis mit einer ermutigten extremen Rechten auf der Grundlage von weniger als der Hälfte der Stimmen bei den Wahlen im November '22 - den fünften in weniger als vier Jahren - und die schlechtesten Ergebnisse, die die so genannte "zionistische Linke" je erzielt hat, stellen eine neue Etappe in einer historischen politischen Krise dar, in der die herrschende Klasse weiter die Kontrolle über den politischen Prozess verliert.

140. Die autoritäre Gegenreform der Justiz, die die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs beschneiden und mehr Macht in der Regierung konzentrieren soll, ist ein versuchter Schritt in eine bonapartistische Richtung, aber eher eine Karikatur seiner Parallelen in der Türkei oder Osteuropa. Dies wird nicht nur vom Großteil der herrschenden Klasse abgelehnt, die dies derzeit als Verlust von Sicherheitsventilen betrachtet, sondern hat sich auch bei der Basis von Netanjahus Block als unpopulär erwiesen. Es hat einen noch nie dagewesenen offenen Machtkampf zwischen der Regierung und dem Obersten Gerichtshof ausgelöst und den bürgerlichen Anti-Netanjahu-Block dazu veranlasst, sich außerhalb des Parlaments zu versammeln, um die Stimmung des massenhaften Widerstands gegen die Regierung zu nutzen, mit Mobilisierungen von über 100.000 Menschen, den größten seit vielen Jahren.

141. Die Bürokratie der Histadrut hat sich geweigert, hier einzugreifen, und überließ das Feld der bürgerlichen Führung, der es definitiv gelungen ist, mit ihrer engstirnigen, etablierungsfreundlichen und national-chauvinistischen Tagesordnung die unterdrückteren Schichten der Arbeiter*innenklasse und der arabisch-palästinensischen Gemeinschaft fernzuhalten.

142. Die Idee eines Generalstreiks wurde nicht von der rechten, pro-kapitalistischen, streikfeindlichen Führung der Histadrut auf die Tagesordnung gesetzt, sondern von der verzweifelten Anti-Netanjahu-Bourgeoisie, die sich plötzlich gezwungen sah, implizit die Macht der organisierten Arbeiter*innen anzuerkennen, die sie auf zynische Weise für den Kampf um ihre eigene Tagesordnung nutzbar machen wollte.

143. Die Lebenshaltungskostenkrise ist eine noch größere Achillesferse für diese Regierung, die selbst die Hisatdrut-Bürokratie seit letztem Jahr zu einer schleppenden, aber eskalierten Konfrontation mit der Regierung und dem Großkapital getrieben hat, mit begrenzten Protesten, die jedoch zum ersten Mal seit Jahren Delegationen aus den Betrieben für einen landesweiten Kampf mobilisiert haben.

144. Die frühere Bennett-Lapid-Koalition der "Regierung des Wandels" brach vor allem aufgrund des von der anhaltenden Krise des Besatzungsregimes ausgehenden Zersetzungsdrucks zusammen. Um die Besatzung aufrechtzuerhalten, tötete das "Change Government" im Jahr 2022 mehr Palästinenser*innen im Westjordanland als in jedem anderen Jahr der vorangegangenen zehn Jahre der Netanjahu-Regierungen. Vor dem Hintergrund zunehmender nationaler Spannungen kam es vermehrt zu wahllosen Angriffen auf Israelis. Für die wieder erstarkende israelische extreme Rechte öffnete sich ein Raum, in dem sie die chauvinistische Sicherheitsdemagogie, die Logik der "militärischen Lösung" und die staatliche Repression für "Sicherheit" weiter ausbauen konnte.

145. Jetzt, da die israelische extreme Rechte die Macht in der Regierung stärker denn je in den Händen hält, sind weitere Gräueltaten im Gazastreifen, im Westjordanland, in Ostjerusalem, innerhalb der Grenze von vor 1967 und in der Region im Gange. Dies hat jedoch auch Auswirkungen auf den israelischen Kapitalismus, nicht nur im Hinblick auf destabilisierende Effekte vor Ort, sondern auch, weil diese Entwicklung den geostrategischen israelisch-arabischen "Normalisierungs"-Prozess untergräbt, der militärische und wirtschaftliche Beziehungen und eine gewisse Zusammenarbeit in der Rivalität mit dem iranischen Regime beinhaltet. Der saudi-arabischen Monarchie würde es unter den gegenwärtigen Umständen schwer fallen, trotz jahrelanger "inoffizieller Normalisierung" von ihrer offiziellen Haltung abzurücken, die Normalisierung von der Anerkennung eines palästinensischen Staates abhängig zu machen. Angesichts neuer Angriffe auf die Palästinenser*innen und rund um die Al-Aqsa-Moschee sind Spannungen zwischen der neuen israelischen Regierung und anderen Regimen in der Region - mit oder ohne offizielle Beziehungen - unvermeidlich und werden sich auch in Zukunft fortsetzen.

146. Die unpopuläre Palästinensische Autonomiebehörde (PA) unter dem fast 90-jährigen autokratischen Präsidenten Abbas befindet sich in einer immer tieferen Legitimationskrise. Der Biss der Wirtschaftskrise hat Anfang letzten Jahres die "Wir wollen leben"-Proteste (Bidna N`ish) ausgelöst, und die Wut über die israelische Offensive hat die Stimmung gegen Abbas und die PA, die letztlich als Subunternehmer der israelischen Besatzung und des Kapitalismus gilt, mit der verhassten "Sicherheitskollaboration" und dem wirtschaftlichen Pariser Protokoll weiter angeheizt. Im September kollidierte eine Verhaftungsaktion der PA-Kräfte in Nablus mit einem heftigen bewaffneten Protest der Jugend. In den wichtigsten palästinensischen Städten im Westjordanland gären Elemente des Volkskampfes, zusammen mit kleinen fraktionsübergreifenden unabhängigen bewaffneten Jugendgruppierungen wie der "Höhle der Löwen" in Nablus, dem "Hornissennest" im Flüchtlingslager von Jenin und Berichten zufolge ähnlichen beginnenden Formationen anderswo. Diese neuen Formationen stehen für den entschlossenen Kampf einer neuen, sich radikalisierenden Generation, die die falschen Versprechungen "diplomatischer Lösungen" satt hat und mutige Initiativen ergreift, um die Notwendigkeit des organisierten Kampfes und der Selbstverteidigung anzusprechen und letztlich eine Revolution der nationalen und sozialen Befreiung anzustreben. Neben dem Partisanenkrieg und der Einbindung in die Mobilisierung des Volkskampfes gibt es offenbar auch Elemente, die sich dem Staatsterrorismus und den Angriffen der Siedler mit wahllosen Angriffen entgegenstellen und mit Repressalien zu kämpfen haben. Dies verdeutlicht die Gefahren und die Bedeutung einer verstärkten Vorbereitung, indem Lehren aus vergangenen Kämpfen gezogen werden, insbesondere wenn Phasen des Massenkampfes, selbstorganisiert über Volkskomitees, am bemerkenswertesten in der mächtigen ersten Intifada, die Besatzung wirksam herausgefordert haben, während isolierte Geheimmilizen unterdrückt wurden und Methoden des individuellen Terrorismus als Vorwand für noch brutalere Gräueltaten gegen die Palästinenser*innen dienten.

147. In jüngster Zeit ist als Reaktion auf die Aggressionen des israelischen Staates die Tradition der Proteststreiks des Volkes stärker in den Vordergrund getreten, neben einem verstärkten Element von Arbeitsstreiks in israelischen Unternehmen - mit dem erstaunlichen Beispiel des gesamtpalästinensischen "Streiks der Würde" auf beiden Seiten der Grenze von 1967 im Mai '21 und einer Reihe von Proteststreiks in jüngerer Zeit. Die Verknüpfung von Volksmobilisierungen mit demokratischer Selbstorganisation würde die Bewegung in die Lage versetzen, Strategie und Taktik besser zu entwickeln und ihre eigene koordinierte bewaffnete Verteidigung zu kontrollieren, und könnte die Methoden des kollektiven, klassenbasierten Widerstands durchsetzen.

148. Das völlige Scheitern des "Jeder-gegen-jeden"-Ansatzes im Kampf gegen Netanjahu in Israel enthält wichtige politische Lehren für andere Länder. Dies gilt insbesondere für die Linke in der Türkei, da ein Teil der Führung der pro-kurdischen und linksreformistischen Demokratischen Volkspartei (HDP) um den inhaftierten Ex-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş bei den kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 faktisch für einen "Jeder-außer-Erdoğan"-Ansatz plädiert. Dies würde bedeuten, dass die HDP den wichtigsten bürgerlichen Oppositionskandidaten unterstützt, anstatt eine*n eigene*n Kandidat*in aufzustellen und eine unabhängige linke Alternative zu fördern.

149. Natürlich wird das Bedürfnis, mit Erdoğans Regime Schluss zu machen, ein treibendes Element in der Stimmung vieler Arbeiter*innen und junger Menschen sein. Einige der sechs Parteien, aus denen sich der derzeitige pro-kapitalistische Oppositionsblock (die "Allianz der Nationen") zusammensetzt, stehen jedoch objektiv rechts von der regierenden AKP, sind für Angriffe auf demokratische Rechte bekannt (einschließlich - ironischerweise - der Unterstützung des Regimes bei der Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der HDP) und treten für türkischen Chauvinismus und die Militäroperationen des Staates gegen die Kurd*innen ein.

150. Die HDP könnte immer noch daran gehindert werden, zu kandidieren - da eine vom Regime geleitete Gerichtsanklage ihr völliges politisches Verbot anstrebt -, was die Versuchung der Führung verstärken könnte, Kandidat*innen auf den Listen der großen bürgerlichen Parteien aufzustellen, anstatt als unabhängige zu kandidieren. Sollte dieses Szenario eintreten, würde es die politische Identität der HDP ernsthaft verwässern und gefährden. In Verbindung mit einer wahrscheinlichen Verschärfung der staatlichen Repression würde dies den Prozess des Wiederaufbaus einer eindeutig linken Kraft mit einem Massenpublikum in der Türkei ernsthaft zurückwerfen (obwohl die Nachricht vom Verbot auch eine Explosion der Wut auslösen könnte, insbesondere in den kurdischen Gebieten). Unter diesen Bedingungen ist es umso wichtiger und dringlicher, dass sich die HDP zusammen mit den anderen linken Parteien (wie der Arbeiterpartei der Türkei, TIP), linken Gewerkschaften und pro-kurdischen Organisationen zusammenschließt, um sich aktiv gegen die Auflösung der HDP zu wehren und zu mobilisieren, ein von allen pro-kapitalistischen Oppositionsparteien unabhängiges Profil anzunehmen und ein kämpferisches Programm und Kandidat*innen zu präsentieren, die während und nach den Wahlen einen Weg für die Arbeiter*innenklasse, die Jugend und die Unterdrückten aufzeigen können.

Brisante Spannungen

151. Die zunehmenden militärischen Angriffe und Luftangriffe der israelischen Armee auf vom Iran unterstützte Ziele in Syrien, die groß angelegten Bombardierungen des iranischen Regimes in Irakisch-Kurdistan, die zunehmenden Angriffe und Bombardierungen des türkischen Staates gegen die kurdischen Gebiete im Nordosten Syriens, die erneute Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen Algerien und Marokko wegen der Westsahara-Frage, die eskalierenden militärischen Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei im Mittelmeer – all dies deutet darauf hin, dass sich die Risiken und potenziellen Krisenherde für neue regionale Kriege häufen. Dies und die zunehmende Schwere der Klimakrise in der Region erhöhen die Dringlichkeit einer revolutionären sozialistischen Antwort, die unter den Arbeiter*innen, Unterdrückten und Armen in der Region Fuß fassen muss. 

152. Nach einem sechsmonatigen Waffenstillstand wütet der gnadenlose Krieg im Jemen wieder. Der Presidential Leadership Council (PLC), der im April 2022 von Riad und Abu Dhabi gebildet wurde, um zu versuchen, das Anti-Houthis-Lager zu vereinen, ist bereits von Krisen und Machtkämpfen zerrüttet und hat einmal mehr unterstrichen, dass das saudische und das emiratische Regime nicht demselben Drehbuch folgen. Dies, die Zunahme von Terroranschlägen durch Al-Qaida-Gruppen im Südjemen, und die Tatsache, dass die Huthis in der Lage sind, Drohnen- und Raketenangriffe auf Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate durchzuführen, zeigen, dass der von Saudi-Arabien geführte Krieg trotz der Flut von Zerstörungen und Gräueln, die er im Jemen ausgelöst hat, keines seiner Ziele erreicht hat. 

153. Die Beziehungen zwischen Bidens Regierung und der saudischen Führung, die von der Bezeichnung Mohamed Bin Salmans als Paria über die Umwerbung und die Androhung einer Überprüfung der Zusammenarbeit zwischen den USA und Saudi-Arabien bis hin zur Gewährung rechtlicher Immunität im Zusammenhang mit der Ermordung Khashoggis reichten, waren eine steinige Angelegenheit, die beispielhaft für die extreme Fluidität der gegenwärtigen regionalen Beziehungen im Kontext wichtiger globaler geopolitischer Neuausrichtungen ist. Wie bei den Gesprächen zwischen Peking und Riad über die Festsetzung der Preise für einige Ölverkäufe an China in Yuan bedeutet die Absprache der saudischen und emiratischen Herrscher mit Russland im Rahmen der Opec+ zur Drosselung der Ölproduktion nicht, dass erstere sich entschlossen in die Umlaufbahn Russlands und Chinas begeben; es ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass sie ihre strategischen Energiereserven nutzen, um sich eine unabhängigere Rolle zu sichern. 

Afrika südlich der Sahara 

154. Die afrikanischen Länder südlich der Sahara befinden sich im Zentrum der globalen Krisen des Kapitalismus und Imperialismus. Die ohnehin schon extremen Ungleichheiten, die Verschuldung und die Ernährungsunsicherheit haben sich durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine noch verschärft (Afrika insgesamt bezog vor Ausbruch des Konflikts fast die Hälfte seines Weizens aus Russland und der Ukraine). 

155. Aufgrund seiner besonderen Anfälligkeit für imperialistische Handelsbeziehungen und den Klimawandel sind die Auswirkungen der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara weltweit am stärksten. Nach Angaben der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation sind 33 afrikanische Länder auf Nahrungsmittelhilfe von außen angewiesen. Allein am Horn von Afrika stehen Dutzende Millionen Menschen am Rande des Hungertodes, da die Auswirkungen einer verheerenden Dürre durch den tödlichen Krisencocktail des Kapitalismus' und jahrzehntelange bewaffnete Konflikte noch verstärkt werden. 

156. Trotz des jüngsten prekären Friedensabkommens (wohl eine "dauerhafte Einstellung der Feindseligkeiten"), das zwischen der Zentralregierung von Abiy Ahmed und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) geschlossen wurde, ist der äußerst brutale Krieg in Äthiopien, der zum Teil durch die militärische Unterstützung des Regimes durch regionale Akteure und imperialistische Mächte wie China, die Türkei, den Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und Eritrea genährt wird, noch nicht vorbei und droht weiterhin, das Land zu zerreißen, was weitreichende Folgen hat. Darüber hinaus ist Tigray nicht mehr die einzige militärische Front für das Regime, da es auch gegen das Wiederaufleben eines bewaffneten Aufstandes in Teilen der Region Oromia kämpft.

157. Die meisten afrikanischen Länder sind in hohem Maße vom Rohstoffexport abhängig, so dass die weltweite Rezession ihnen weitere schwere Schläge versetzen wird. In Verbindung mit der Verschärfung der Kreditaufnahmebedingungen auf den Finanzmärkten signalisiert dies eine Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher Turbulenzen und verschärfter Klassengegensätze in Afrika. Eine wachsende Zahl von Staaten sieht sich mit dem Schreckgespenst der Zahlungsunfähigkeit konfrontiert. Um die Verluste auszugleichen, zwingen die Regierungen auf dem gesamten Kontinent die Massen zu weiterer Verarmung, was Oxfam treffend als "Austerität auf Steroiden" bezeichnet hat. 

158. Vor diesem Hintergrund wird eine Reihe afrikanischer Länder, die von bürgerlichen Analysten einst als relativ "stabil" gepriesen wurden, von Umwälzungen erschüttert. Dies gilt sowohl im sozialen Bereich (die Proteste in Sierra Leone im vergangenen Jahr sind ein Beispiel dafür) als auch im politischen Bereich. Sowohl Burkina Faso als auch Mali, die vor nicht allzu langer Zeit noch als die politisch stabilsten Länder Westafrikas galten, wurden seit 2020 von gleich zwei Militärputschen erschüttert. Zusammen mit den Putschen im Tschad, in Guinea und im Sudan verdeutlicht diese Häufung von Putschen die Sackgasse, in der sich die herrschenden Eliten befinden, und die zunehmende Zersetzung der (ohnehin schon schwachen) bürgerlich-demokratischen Herrschaftsformen in der gesamten Region, sofern es solche Formen gibt. Das Gleiche gilt für die immer wiederkehrenden Versuche amtierender Präsident*innen, die Verfassungen zu manipulieren, um ihre Amtszeit zu verlängern, wie es in Côte d'Ivoire im Jahr 2020 geschah und worauf die Entwicklungen nun auch im Senegal und in der Zentralafrikanischen Republik hindeuten. 

159. In einer Reihe afrikanischer Länder zeigt sich dieser Verfall auch darin, dass die regierenden Parteien und Politiker*innen zunehmend auf Straßenschläger zurückgreifen, die sie aus dem großen Pool entfremdeter und arbeitsloser Jugendlicher und des Lumpenproletariats rekrutieren, um politische Gegner einzuschüchtern und die repressive Rolle der staatlichen Kräfte zu ergänzen, von den sogenannten "Zogos" in Liberia bis zu den "Mikroben" in Côte d'Ivoire.

160. Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krise, die ihre Herrschaft beeinträchtigt, schüren die herrschenden Klassen auch tribalistische und fremdenfeindliche Gefühle, wie sie vielleicht am dramatischsten in Südafrika in der wachsenden Flut staatlich geförderter Sündenbock-Zuweisungen für arme schwarze Migrant*innen und Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern zum Ausdruck kommen. 

161. Diese Elemente deuten auf verschiedene Wege hin, mit denen die herrschenden Klassen versuchen, dasselbe allgemeine Merkmal einzudämmen: eine massenhafte Desillusionierung und überschäumende Wut gegenüber den korrupten herrschenden Parteien und Führer*innen auf dem ganzen Kontinent. Diese Stimmung spiegelt sich in allen jüngsten Wahlen wider, wie im Senegal, wo zum ersten Mal überhaupt eine Regierungskoalition keine absolute Mehrheit im Parlament hat, oder in Kenia, wo die Präsidentschaftswahlen eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen in der Geschichte verzeichneten. 

162. In Nigeria spiegelt der rasante Anstieg der Unterstützung für den Präsidentschaftskandidaten der Labour Party, Peter Obi, und die "Obidient"-Bewegung, auch wenn sie voller Widersprüche ist (Obi ist selbst ein reicher Geschäftsmann mit einem Hintergrund im Establishment), eine verwirrte Ablehnung der beiden großen bürgerlichen Parteien wider, die bereits in dem populären Slogan "weder PDP noch APC" zum Ausdruck kam, der während der #EndSars-Bewegung geäußert wurde, die Obi angeblich unterstützt.

163. In Südafrika steht das Dreierbündnis zwischen der SACP, dem Gewerkschaftsverband COSATU und dem ANC, das die Herrschaft des ANC seit dem Ende der Apartheid gesichert hat, kurz vor dem Zusammenbruch, da sich die Widersprüche in der Regierungspartei rapide verschärfen. Die Delegierten des COSATU-Kongresses im August 2022 verweigerten dem ehemaligen ANC-Generalsekretär Gwede Mantashe das Wort und erzwangen eine Resolution zur Abstimmung über den Verbleib im Dreierbündnis. Die Weigerung, die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst um mehr als 3 % zu erhöhen, zeigt, dass der ANC nicht in der Lage ist, seine Rolle als Vertreter der Unternehmer*innenklasse mit seiner Abhängigkeit von der Arbeiter*innenklasse zu vereinbaren. Obwohl bestimmte Teile der COSATU-Führung versuchen, weiterhin die Rolle zu spielen, auf die sich der ANC verlässt - die Unzufriedenheit der Arbeiter*innen im Keim zu ersticken und sie kontrolliert freizusetzen -, wird es schwieriger denn je.  

164. Im Dezember 2022 verteidigte der Milliardär Cyril Ramaphosa seine Präsidentschaft auf dem turbulenten 55. Kongress des ANC. Ramaphosa besiegte den ehemaligen Gesundheitsminister und ANC-Generalschatzmeister Zweli Mkhize, obwohl er wegen eines Raubskandals auf seiner Phala-phala-Wildfarm angeklagt wurde und beinahe zurückgetreten wäre. Der COSATU, der zumindest symbolisch die Stimme der Arbeiter*innen im Dreierbündnis vertritt, wurde zum ersten Mal vollständig aus dem Nationalen Exekutivausschuss des ANC ausgeschlossen. Die neue ANC-Führung hat den Schleier der Mehrklassenpartei, als die sie sich ausgibt, effektiv abgelegt und wird die neue Ära möglicher Koalitionsregierungen anführen, mit denen der ANC konfrontiert sein wird, um an der Macht zu bleiben.

165. Das Ergebnis dieses Kongresses wird nicht nur die Krise des ANC vertiefen, sondern auch die der wichtigsten politischen Parteien des Kapitalismus, insbesondere der DA und der EFF. Das Wachstum und die Wahlgewinne dieser Parteien in den letzten zehn Jahren basierten auf den inkompetenten, unverschämten und unverfrorenen Elementen der Korruption in Zumas Regierung. Für die Kapitalist*innenklasse und weite Teile der Mittelschicht ist Ramaphosa jedoch die einzige brauchbare Alternative dazu. Dies hat das Wachstum der DA gebremst und sie teilweise in ihre derzeitige Implosion gestürzt.

166. Die so genannte Radical Economic Transformation-Fraktion um Zuma im ANC und andere Populist*innen und Parteien wie Operation Dudula und ActionSA nutzen das Fehlen einer echten Alternative für die Arbeiter*innenklasse, um sie zu spalten. Solche reaktionären Elemente nutzen fremdenfeindliche Gefühle im Kontext von Massenarbeitslosigkeit und Verzweiflung aus und schüren sie.

167. Die zunehmenden Stromausfälle aufgrund von Plünderungen und Korruption in der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft ESKOM und das Versäumnis, eine höhere Stromerzeugung und notwendige Wartungsarbeiten zu planen, werden zu weiteren Arbeitsplatzverlusten bei einer verheerenden Arbeitslosenquote von 43,1 % und einer weiteren Stagnation des Wirtschaftswachstums führen. Darüber hinaus haben die im Januar angekündigten Erhöhungen der Stromtarife um 18,65 % eine massive Wut ausgelöst. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hat die organisierte Arbeitnehmerschaft diesen Moment nicht genutzt, um positive Forderungen nach einem raschen Ausbau der erneuerbaren Energien zur Deckung des Kapazitätsbedarfs vorzubringen. Es wird immer wahrscheinlicher, dass rechtsliberale Parteien wie die Demokratische Allianz die Massenunzufriedenheit in eine beschleunigte Privatisierungskampagne lenken werden.

168. Die Misserfolge des ANC nehmen rapide zu und spiegeln die unüberbrückbaren Differenzen innerhalb der Regierungspartei wider. Dies bedeutet, dass eine Spaltung der Regierungspartei und ihres Bündnisses zu erwarten ist. Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation, zusammen mit den Klassenkonflikten um die Löhne im öffentlichen Dienst und den von den Gewerkschaften geführten Kampagnen gegen die Krise der Lebenshaltungskosten, bedeutet, dass diese neue Periode wahrscheinlich von verschärften Konflikten zwischen der Arbeiter*innenklasse und der Kapitalist*innenklasse geprägt sein wird, wobei letztere vom ANC angeführt wird. Es ist klar, dass die einzige Kraft, die einen Ausweg aus der politischen Krise des Establishments bieten kann, die organisierte Arbeiter*innenbewegung ist.

Der französische Imperialismus in der Krise 

169. Die dramatische Ausbreitung der Gewalt in der Sahelzone im letzten Jahrzehnt, die durch die NATO-geführte Intervention in Libyen im Jahr 2011 und die "Operation Barkhane" (die militärische Intervention französischer Streitkräfte in der Sahelzone) ab 2014 noch verstärkt wurde, war ein wichtiger Faktor, um die Wut der Massen in West- und Zentralafrika auf die zivilen Regime zu schüren, die nachweislich versagt haben, die besagte Gewalt einzudämmen – und um die Illusion zu nähren, dass die "Männer in Uniform" die Dinge anders handhaben würden. 

170. Dies weist auf ein kontinentweites Problem hin: Neben den imperialistischen Interventionen nähren der fehlende Zugang zu Land, Wasser und anderen Ressourcen sowie die sehr hohe Arbeitslosigkeit verschiedene Formen der Gewalt: Zusammenstöße zwischen Hirten und Ackerbäuer*innen, das Aufkommen von bewaffnetem Banditentum, dschihadistischer Terror, usw. Zusammen mit Kriegen und dem Klimawandel haben all diese Faktoren dazu beigetragen, dass die Zahl der Binnenvertriebenen in den letzten Jahren in ganz Subsahara-Afrika explosionsartig angestiegen ist. 

171. In Burkina Faso, Mali und Niger (wo es im vergangenen März auch einen gescheiterten Staatsstreich gab) haben sich die Terroranschläge seit 2016 verfünffacht. Diese Situation hat auch die Unzufriedenheit in den Reihen der Streitkräfte dieser Länder geschürt, die gezwungen sind, gegen islamistische Aufständische und andere bewaffnete Gruppen zu kämpfen, ohne eine angemessene militärische Ausrüstung oder eine angemessene Bezahlung zu erhalten. Die Putsche sind auch ein Versuch, diese Stimmung zu kanalisieren und größeren Meutereien vorzubeugen. 

172. Der französische Imperialismus befindet sich in einer tiefen Krise seines Einflusses auf dem Kontinent, vor allem in seinen ehemaligen Kolonien. Diese Krise wurde durch das katastrophale Ergebnis der Operation Barkhane, die Macron Anfang letzten Jahres beenden musste, noch beschleunigt. Sie hat zu weiterer Gewalt, Vertreibung und Elend geführt und dazu beigetragen, dass sich in der gesamten Region eine Stimmung gegen den französischen Imperialismus herausgebildet hat. Lokale Militäroffiziere haben diese Stimmung ausgenutzt, um die Macht an sich zu reißen, wobei sie sich einer "patriotischen" und "antiimperialistischen" Rhetorik bedienten, um von den wachsenden sozialen Widersprüchen abzulenken, mit denen sie konfrontiert waren. 

173. Anders als im Sudan und im Tschad, wo die Militärputsche von Personen angeführt wurden, die in direktem Zusammenhang mit der heruntergekommenen herrschenden Elite standen, genoss die Armee in Guinea, Mali und Burkina anfangs eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung, die des Versagens der politischen Eliten, der Korruption, der wirtschaftlichen Not und der Unsicherheit überdrüssig war. Im Grunde genommen waren diese Putsche jedoch eine Reaktion der Militärs, die darauf abzielten, die sich in der Gesellschaft aufbauende Massenunzufriedenheit zu unterbrechen, zu kontrollieren und in Bahnen zu lenken, die für das System nicht bedrohlich sind. In Mali und Burkina Faso hat die Unfähigkeit der Militärs, die Versprechen einzulösen, die sie an die Macht gebracht hatten, bereits zu einem "Putsch im Putsch" geführt. Da die neuen Militärjuntas nichts grundlegend anderes zu bieten haben, steht ihnen ein langwieriger Prozess der politischen Instabilität bevor. 

Neuer Kalter Krieg 

174. Diese Instabilität ist sowohl ein Nebenprodukt als auch ein Verstärker der imperialistischen Rivalitäten auf dem Kontinent, die sich seit dem Krieg in der Ukraine verschärft haben. Die neuen Juntas haben versucht, ihre Loyalitäten auszugleichen, indem sie Frankreich gegen Russland ausspielten, wobei letzteres in der Destabilisierung des französischen Imperialismus in dessen ehemaligem kolonialen Hinterhof eine Chance für sich gesehen hat. 

175. Die ungewöhnlich zahlreichen Besuche, die Macron, Blinken, Lawrow usw. in letzter Zeit in Afrika abgestattet haben, zeigen, dass alle großen Imperialist*innen versuchen, die afrikanischen Regierungen in einer Zeit wachsender globaler Spannungen zu umwerben. Der große Vormarsch Chinas auf dem Kontinent in den letzten Jahrzehnten ist ein weiterer wichtiger und wachsender Grund zur Sorge für die westlichen Mächte. Die bedeutenden Gas-, Kohle- und Ölvorkommen des Kontinents rücken ihn in den Mittelpunkt der verstärkten Bemühungen der europäischen Regierungen, neue Energiequellen außerhalb Russlands zu erschließen, und sind ein wesentlicher Bestandteil dieser erneuerten zwischenimperialistischen Rivalität. Auch die neokolonialen Staaten versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen imperialistischen Blöcken herzustellen, um möglichst viele Zugeständnisse von beiden Lagern zu erhalten.

176. So sind beispielsweise die Kohleexporte aus Südafrika nach Europa im ersten Halbjahr 2022 um 720 % gestiegen - von einer halben Million Tonnen im ersten Halbjahr 2021 auf 4,1 Millionen Tonnen im ersten Halbjahr 2022. Gleichzeitig hat Südafrika sein Engagement für die Stärkung der Beziehungen in der BRICS-Koalition verstärkt, insbesondere durch die Ankündigung geplanter Marineübungen mit russischen Kriegsschiffen in Südafrika, um nach Angaben der südafrikanischen Streitkräfte "die bereits florierenden Beziehungen" zwischen Russland, China und Südafrika zu stärken. Kurz darauf besuchte der Hohe Vertreter der EU, Josep Borrel, Südafrika, und es wurde ein massiver Greenwashing-Deal abgeschlossen, der besagt, dass "die EU-Mitgliedstaaten 280 Millionen Euro an Zuschüssen in Südafrika investieren werden, darunter 87,75 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt, um politische Reformen für einen grünen Aufschwung zu unterstützen, grüne Investitionen freizusetzen und einen wissensbasierten Übergang im Rahmen der Just and Green Recovery Team Europe Initiative für Südafrika zu schaffen".

177. In diesem Zusammenhang steigt die Wahrscheinlichkeit, dass verschiedene Konflikte wieder aufflammen und sich neue Teile des Kontinents in Gebiete verwandeln, in denen die wichtigsten Supermächte stellvertretend miteinander konkurrieren, und dass in jedem Land die Kämpfe zwischen den verschiedenen Flügeln der herrschenden Klassen je nach ihrer Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Block zunehmen. Dies kann einen chaotischen und unberechenbaren Charakter annehmen, wie das Beispiel Kenias zeigt, wo William Ruto, der neu gewählte Präsident des Landes, seinen Wahlkampf auf einer chinafeindlichen Plattform führte, jedoch eine völlige Kehrtwende vollzog, sobald er sein Amt angetreten hatte, und für eine Ausweitung der Beziehungen zu China plädierte. 

178. Vom laufenden revolutionären Prozess im Sudan bis zum Massenkampf gegen die Monarchie in Swasiland im Jahr 2021, von der so genannten "Hungerrevolution" in Kenia bis zum zunehmenden Konflikt zwischen den Arbeitern*innen des öffentlichen Dienstes und dem ANC in Südafrika, vom achtmonatigen Streik der nigerianischen Universitätsdozent*innen bis zu den zahlreichen Streiks der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Simbabwe - es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Region südlich der Sahara in den kommenden Jahren von immer mehr Kämpfen überschwemmt werden wird, die vor allem von der extrem jungen Bevölkerung ausgehen. Aber im Allgemeinen bleibt auf der linken Seite der Politik ein sehr großes politisches Vakuum, das von allen möglichen populistischen und reaktionären Kräften besetzt werden kann. 

179. Da diese Kämpfe auch in einem Kontext stattfinden, in dem es in unterschiedlichem Maße erhebliche Illusionen in der Bevölkerung gibt, dass Russland und China ein kleineres Übel oder ein Gegengewicht zu den "traditionellen" neokolonialen Mächten darstellen könnten, gewinnt der Aufbau von kämpfenden Parteien von Arbeiter*innen und Jugendlichen, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm, die nicht nur von allen prokapitalistischen Politiker*innen, sondern auch von allen imperialistischen Blöcken völlig unabhängig sind, erneut an Bedeutung.