Fr 20.12.2024
In einer Welt, in der die Machthaber*innen verschiedener Staaten und Wirtschaftsblöcke immer mehr auf Kriegsfuß miteinander stehen und ihre Medien jeweils gegen den “degenerierten Westen” oder den “barbarischen Osten” Stimmung machen, scheint man sich in den Regierungsbänken von Moskau bis Washington und in den Redaktionsräumen vom “Standard” bis zum “Pragmaticus” wenigstens auf eines einigen zu können: Alle hassen Lenin.
Klar, dass 2024 zum 100. Todestag des russischen Revolutionärs die Rechten ausrücken, um längst widerlegte Schauergeschichten aus der antikommunistischen Mottenkiste zu holen. Doch auch Historiker*innen wie Verena Moritz und Bernhard Leidinger stimmen darin ein und behaupten z.B. allen Ernstes, Lenin hätte sich über Hungersnöte “gefreut”. Lenin als dämonischer Comic-Superbösewicht - das ist natürlich politisch opportuner als eine Analyse der widersprüchlichen Prozesse, die in Russland zunächst zur ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution, dann zu einem zermürbenden Bürger*innenkrieg und schließlich zur stalinistischen Diktatur führten.
Auch Putin erkennt in Lenin seinen Erzfeind. Zurecht. Denn nicht nur zerstörte die Russische Revolution das Zarenreich, welches Putin auferstehen lassen will - Lenins Kampf für das Recht auf nationale Selbstbestimmung bedeutete auch Autonomie für die Ukraine. Was er unter “Sowjetunion” verstand, war ein freiwilliger Zusammenschluss von Ländern, in denen die Herrschaft der Kapitalist*innen und Großgrundbesitzer*innen durch Massenbewegungen überworfen wurde - kein diktatorischer “Ostblock” unter russischer Führung, wie ihn Stalin schuf.
Lenin war weder der blutrünstige Diktator, als den ihn die Bürgerlichen aller Schattierungen gerne zeichnen, noch der unfehlbare Messias, als den ihn die stalinistische Propaganda darstellte, während sie seine Leiche in einen Glassarg sperrte und seine Ideen verriet.
Die Welle an Feindschaft, die sich von allen Fraktionen der Herrschenden heute über Lenin ergießt, sollte Interesse bei all jenen wecken, die sich ihnen entgegenstellen wollen. Denn eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Lenin zeigt: 100 Jahre nach seinem Tod ist er aktueller als je zuvor. Wer heute gegen die Ausbeutung und Unterdrückung ankämpfen will, kommt an Lenin nicht vorbei.
Lenin: aktueller denn je
von Sebastian Kugler
Seine politischen Ideen entwickelte Lenin nicht als allgemeine Wahrheiten, sondern als konkrete Antworten auf aktuelle Probleme: Wie können wir uns gegen die Bosse und ihre Politik organisieren? Wie können wir gegen Krieg und Unterdrückung kämpfen? Und wie kann ein tatsächlicher Sturz des Systems gelingen, das sie hervorbringt?
Lenin war Marxist. Das heißt: Er analysierte den Kapitalismus als ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem vor allem der Profit zählt. Dieser Profit wird von uns - Arbeiter*innen aller Art - erwirtschaftet, aber von den Besitzer*innen der Unternehmen - den Kapitalist*innen - eingesackt. Die Profitwirtschaft führt nicht nur zu extremer Ungleichheit, sie bringt auch immer schwerere und umfassende Krisen hervor, die mittlerweile den Fortbestand der Gesellschaft gefährden. Als Marxist wusste Lenin, dass dieses System gestürzt werden muss und kann - und zwar von jenen, die darunter leiden: die Arbeiter*innen aller Länder.
Klassenkampf und Kampf gegen jede Unterdrückung
Gleichzeitig arbeitete Lenin schärfer als andere Marxist*innen den politischen Charakter der kapitalistischen Herrschaft heraus: Arbeiter*innen werden nicht nur rein ökonomisch ausgebeutet, indem mit ihrer Arbeit Profit gemacht wird - sie werden auf vielfache Weisen unterdrückt, um das System aufrechtzuerhalten: Demokratie hört spätestens bei den Grundpfeilern des Kapitalismus auf - für den größten Teil der Weltbevölkerung schon viel früher. Entzug demokratischer Rechte, aber auch Rassismus, Sexismus, nationale und religiöse Diskriminierung - Lenin erkannte, dass all diese Unterdrückungsformen nicht sekundär gegenüber der “eigentlichen” ökonomischen Klassenausbeutung sind. Vielmehr sind sie damit untrennbar verbunden.
Deswegen polemisierte Lenin in seiner ersten wichtigen Schrift “Was tun” heftig gegen die sogenannten Ökonomist*innen. Diese predigten zwar den Kampf gegen die Kapitalist*innen in den Betrieben, lehnten es aber ab, um solche allgemeinen politischen Fragen, die jenseits des Lohnzettels liegen, zu kämpfen. Für Lenin endet der Klassenkampf jedoch nicht am Fabriktor. Im Gegenteil: Der wirkliche Klassenkampf ist ein politischer Kampf, der alle Bereiche der Gesellschaft umfasst. Darum schreibt er: “Das Bewußtsein der Arbeiterklasse kann kein wahrhaft politisches sein, wenn die Arbeiter nicht gelernt haben, auf alle und jegliche Fälle von Willkür und Unterdrückung, von Gewalt und Missbrauch zu reagieren”.
Erst alle gemeinsamen Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung zusammen ergeben den politischen Klassenkampf, durch den die Arbeiter*innenklasse die herrschende Klasse und ihr System stürzen kann. Gerade heute ist dieser Zugang von unglaublich großer Bedeutung. Denn viele der wichtigsten Bewegungen gegen dieses System der letzten Jahre haben sich gerade auf dieser Ebene bewegt: von den antiimperialistischen Massenprotesten gegen das Massaker in Gaza, der weltweiten Klimabewegung, der Massenbewegung gegen nationale Unterdrückung in Katalonien und der weltweiten feministischen Revolte inklusive der “Frau, Leben, Freiheit”-Bewegung im Iran. All diese Bewegungen sind Teil des Klassenkampfes und gerade im Iran zeigte sich, wie der Aufstand von jungen Frauen und nationalen Minderheiten das ganze Land mitreißen kann.
Gleichzeitig wusste Lenin, dass unterdrückerische Ideologien nicht mit dem Sturz des Kapitalismus einfach verschwinden. Auch nach der Revolution bezeichnete er diese “Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft” als “die fürchterlichste Macht”. Besonders patriarchales Denken prangerte er an: “Das alte Herrenrecht des Mannes lebt versteckt weiter”, zitiert Clara Zetkin Lenin. Und weiter: “Unsere kommunistische Arbeit unter den Frauenmassen, unsere politische Arbeit schließt ein großes Stück Erziehungsarbeit unter den Männern in sich ein. Wir müssen den alten Herrenstandpunkt bis zur letzten, feinsten Wurzel ausrotten.” Nicht im Traum wäre es Lenin eingefallen, die Schärfung des eigenen Bewusstseins für verinnerlichte Vorurteile oder Verhaltensweisen und den kollektiven Kampf gegen die systemischen Ursachen von Rassismus, Sexismus usw. gegeneinander auszuspielen.
Imperialismus und Krieg
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, stimmten die reformistischen Anführer*innen der internationalen Arbeiter*innenbewegung in das nationalistische Kriegsgeheul ein. Lenin jedoch legte dar, dass es für keine der kriegführenden Mächte um “Freiheit”, “Demokratie” oder “Selbstverteidigung” ging - sondern um den imperialistischen Kampf um Ressourcen und Märkte. Er war der Wortführer einer kleinen Minderheit, die sich weigerte, gemeinsam mit den Kapitalist*innen der “eigenen” Nation die Arbeiter*innen anderer Nationen zu ermorden. Heute leben wir wieder in einer Zeit intensivierter imperialistischer Konflikte. Und wieder glauben viele Linke, sie müssten sich auf die Seite “ihres” Machtblocks stellen bzw. unter dem konkurrierenden Imperialismus (USA, EU, Russland, China…) das kleinste Übel wählen. Von Lenin können wir dagegen lernen, dass es die Aufgabe von Sozialist*innen ist, eine internationale Bewegung gegen alle Kriegstreiber aufzubauen. Lenin wusste aber auch, dass Frieden im Kapitalismus nur die Abwesenheit des Krieges ist - und dass imperialistische und neokoloniale Unterdrückung gerade auch durch “Frieden” verfestigt werden, wenn er nach den Spielregeln der Kriegsherren geschlossen wird. Heute wird das in der Ukraine und in Gaza mehr als deutlich. Der Kampf gegen den Krieg kann darum für Lenin nicht darin bestehen, pazifistische Appelle an die Herrschenden zu richten. 1915 hielt er fest, „dass die imperialistischen Mächte keinen demokratischen Frieden schließen können. Diesen muss man suchen und erstreben, aber nicht in der Vergangenheit, in der reaktionären Utopie eines nicht-imperialistischen Kapitalismus, sondern in der Zukunft, in der sozialistischen Revolution des Proletariats.”
Reform und Revolution
Und tatsächlich führten die Bolschewiki, in denen Lenin eine wichtige - aber keineswegs allmächtige - Rolle spielte, 1917 die erste erfolgreiche sozialistische Revolution an. Lenin und die Bolschewiki waren keine revolutionären Fanatiker*innen. Sie stellten sich als einzige Partei konsequent gegen den Krieg. Sie forderten die notwendigsten Reformen: “Land, Friede, Brot”. Sie erklärten, dass dies nur dadurch erreicht werden kann, indem die Arbeiter*innenräte (“Sowjets”), die sich bereits im Zuge der Februarrevolution überall im Land gebildet hatten, die Kontrolle übernehmen: “Alle Macht den Räten!” Der Sturz der völlig morschen provisorischen Regierung im Oktober verlief fast ohne Konfrontationen, niemand wollte mehr für sie kämpfen. An ihre Stelle trat der Kongress der Arbeiter*innenräte, die bis heute demokratischsten politischen Strukturen der Geschichte. In den Räten saßen nicht abgehobene Politiker*innen, die auf den Gehaltslisten der Superreichen stehen, sondern Arbeiter*innen und Bauern. Unter ihnen hatten die Bolschewiki nun aufgrund ihres konsequenten Kampfes für die Rätedemokratie die Mehrheit - von wegen “Putsch”! Lenins Politik war entscheidend für die erfolgreiche Taktik der Bolschewiki 1917 - und sie bleibt das wichtigste Lehrstück dafür, wie eine Revolution auch heute gelingen kann.
Marx aktuell
von Julia Hauzmayer
Von vielen Seiten wird die Vermutung oder gar der Vorwurf geäußert, der totalitäre Stalinismus sei eine zwangsläufige Folge des Leninismus gewesen (und Kommunismus müsse daher immer in einer stalinistischen Diktatur enden). Doch wie hat sich der Stalinismus tatsächlich entwickelt und in welchem Verhältnis steht er zu den Ideen Lenins?
Nach der Russischen Revolution 1917 übernahmen jederzeit (ab-)wählbare Arbeiter*innenräte („Sowjets“) die Macht. Die Bolschewiki sahen diese Revolution als Beginn einer notwendigen internationalen Revolution - für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft weltweit.
Die Russische Revolution hatte auch eine Vorbildwirkung für die Arbeiter*innenbewegungen in europäischen Ländern nach dem Ende des I. Weltkriegs. Allerdings versagte die Führung dieser Bewegungen, während die Spitze der Sozialdemokratie offenen Verrat beging und sich an der gewaltsamen Niederschlagung des Arbeiter*innenaufstandes beteiligte - so blieb die Russische Revolution isoliert. Gleichzeitig führten die Kapitalist*innen in Russland - unterstützt von ausländischen Mächten - einen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki. Die verheerenden Verluste des drei Jahre dauernden Krieges schwächten das Land und die Rätedemokratie stark und der herrschende Mangel an allem Lebensnotwendigen wurde zentral.
Diese Umstände begünstigten die Entwicklung bürokratischer Tendenzen und einer privilegierten Verwaltungselite, deren Repräsentant Stalin wurde. Dieser konnte die Bürokratisierung und seine Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ gegen Lenin und Trotzki durchsetzen und seine Macht durch massenhafte Verhaftungen und Ermordungen der übrig gebliebenen Revolutionär*innen erhalten. Das undemokratische und bürokratische System des Stalinismus erstickte und stand im Gegensatz zu Lenins Ideen einer proletarischen, von Sowjets angeführten Demokratie und seiner Vorstellungen über den Aufbau einer revolutionären Partei bzw. die Notwendigkeit eines demokratischen Zentralismus.
Was ist Bolschewismus (heute)?
von Christoph Glanninger
Eine der wichtigsten Beiträge Lenins zur internationalen Arbeiter*innenbewegung waren seine Ideen zur revolutionären Partei und demokratischem Zentralismus. Aber gerade diese Ideen werden teilweise am missverständlichsten interpretiert.
Was tun?
In “Was tun?” entwickelt Lenin seine Vorstellungen für eine revolutionäre Partei - den demokratischen Zentralismus. Er beginnt dabei mit den politischen Aufgaben - dem Kampf gegen den Ökonomismus. Für den Kampf zum Sturz des Systems braucht es eine landesweite Organisation, theoretische Auseinandersetzung, ein gemeinsames revolutionäres Programm, eine landesweite Zeitung, um dieses zu verbreiten, und Mitglieder*innen mit der theoretischen und praktischen Grundlage, diese Aufgaben zu erfüllen. Natürlich waren die konkreten Ausführungen in “Was tun?” zugespitzt auf die Arbeit unter einer Diktatur, aber die dahinter liegende Methode ist noch immer relevant.
Lenin schreibt davon, dass die Partei die Avantgarde der Bewegung sein muss. Aber er meint damit nie einen kleinen elitären Zirkel, sondern vor allem die kämpferischsten Teile der Arbeiter*innenklasse. Während die Arbeit am Anfang des 20. Jhd. unter einer Diktatur eine sehr straff organisierte Organisation aus “Berufsrevolutionär*innen” benötigte, war es zum Beginn der ersten russischen Revolution 1905 notwendig und möglich, die Organisation zu öffnen. Lenin argumentierte für eine Erneuerung der Partei durch die tausenden Arbeiter*innen, die gerade neu aktiv geworden waren, und stellte sich dabei gegen einen konservativen Zugang vieler alten “Berufsrevolutionär*innen”. Genau diese Arbeiter*innen stellten 1917 das Rückgrat der Partei und Revolution dar und korrigierten auch gemeinsam mit Lenin die ursprünglich falsche Orientierung der bolschewistischen Führung. Nur durch die jahrelange Organisierung der fortgeschrittensten Teile der Klasse rund um ein revolutionäres Programm konnte die Oktoberrevolution im Gegensatz zu anderen Revolutionen siegen.
Und heute?
Heute sind wir als Sozialist*innen mit anderen Herausforderungen konfrontiert: einer sich verschärfenden kapitalistischen Krise - Teuerung, Femizide, Krieg, Rechtsruck usw. Gleichzeitig hinkt das Niveau an Klassenkampf noch hinterher und eine Perspektive auf eine sozialistische Veränderung ist nicht absehbar. Das kann auch zu Frustration und Ohnmacht führen. Hier können Lenins Ideen von demokratischem Zentralismus und der revolutionären Partei eine große Rolle spielen. In der ISA schulen wir uns anhand politischer Theorie und der Analyse aktueller Entwicklungen und entwickeln ein Programm. Wir sind international organisiert und nutzen diese Erfahrungen. Wir entwickeln Perspektiven für die politische Situation und den Weg zu einer revolutionären Systemveränderung - und welche Bereiche des Klassenkampfes und des Widerstandes am fortgeschrittensten sind. Darauf konzentrieren wir dann unsere Kräfte (demokratischer Zentralismus). Z.B. haben wir vor mehreren Jahren als unsere Schwerpunkte die Arbeitskämpfe im Care-Bereich (Gesundheit, Bildung, Soziales) und sozialistischen Feminismus gewählt. Das hat es uns trotz enorm beschränkten Kräften ermöglicht, gemeinsam mit anderen dazu beizutragen, den Sozialbereich zum kämpferischsten Sektor der Gewerkschaftsbewegung zu machen und die größten linken, feministischen Solidaritäts-Proteste mit der “Frau, Leben, Freiheit”-Bewegung im Iran zu organisieren. Das zeigt, welche Rolle sogar im kleinen, noch immer relativ ruhigen Österreich eine revolutionäre Partei und ein demokratisch-zentralistischer Ansatz für Sozialist*innen spielen kann. International hat z.B. unsere auch sehr kleine Schwesterorganisation in Irland durch diesen Zugang eine zentrale Rolle beim erfolgreichen Kampf um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und gegen die unsoziale Wassersteuer gespielt. Noch entscheidender ist so eine Organisation natürlich in einer Zuspitzung des Klassenkampfes und einer revolutionären Situation - gerade in den letzten Jahren haben wir unzählige beeindruckende Bewegungen - Iran, Sudan, Chilé - erlebt, die unter anderem am Fehlen so einer Partei gescheitert sind. Umso dringender ist der Aufbau einer Organisation mit diesem Zugang international - nicht als elitäre Sekte, sondern als Ausdruck der wichtigsten Kämpfe der Klasse rund um ein sozialistisches Programm.