Mo 07.06.2010
„Antideutsch“ – das klingt radikal und kämpferisch (in Österreich wird meist der Begriff "Antinational" verwendet, Anm.). Man ist nicht nur gegen Staat und Kapital, sondern steht in Totalopposition gegen das Land, das die Nazi-Herrschaft hervor brachte. Doch in der Realität sind die Positionen der „Antideutschen“ und der Herrschenden in diesem Land nicht weit voneinander entfernt.
„Die Antideutschen“ als bundesweiten Zusammenhang gibt es nicht. Die Szene besteht aus einer Vielzahl von Gruppen mit einer Bandbreite von Inhalten. So tendieren unter anderem die Zeitschriften „Bahamas“, „konkret“ und „jungle world“ in die Richtung. Örtliche Gruppen des Spektrums bezeichnen sich zum Teil als Antifa. Auch in der Linksjugend ["solid] gibt es mit dem „Bundesarbeitskreis Shalom“ einen „antideutschen“ Zusammenhang (in Österreich gibt es v.a. in der Grünen Jugend, diversen Gruppen der Autonomen aber z.B. auch in der Redaktion des "Standard" Antinationale, Einfluss haben sie auch in diversen sozialdemokratischen Jugendorganisationen wie SJ und VSSTÖ sowie der ÖH).
Verachtung der ArbeiterInnenklasse
Am Anfang der „antideutschen“ Ideologie steht die Einschätzung, dass der moderne Antisemitismus erstens den Holocaust als historisch unvergleichliche Katastrophe hervor gebracht hat und zweitens, unter Verwendung der „Kollektivschuldthese“, Produkt des gesamten deutschen Volkes war.
Ausgehend davon wird die Verhinderung eines neuen Holocaust zur obersten Priorität erklärt und daraus die bedingungslose Verteidigung des Staates Israel abgeleitet. So schreibt der antideutsch dominierte Beauftragtenrat der Linksjugend ["solid] in Sachsen: „Die einzig mögliche Antwort auf den modernen Antisemitismus ist zur Zeit die sichere Existenz eines jüdischen Staates.“
Dabei verkennen sie die tatsächlichen Ursachen für die Machtergreifung der Nazis und damit der Ermöglichung des Holocaust. Und sie beantworten nicht die Frage, wie Antisemitismus effektiv bekämpft werden kann.
Die Kollektivschuldthese verschleiert, dass es die deutschen KapitalistInnen waren, die Hitler finanziert und ausgerüstet haben. Dass die Nazi-Bewegung an die Macht gebracht wurde, um die organisierte ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen. Die Nazis sollten damit die Gefahr einer sozialistischen Revolution bannen und den Weg zum Krieg bereiten.
Die Faschisten hatten 1933 keine Mehrheit bei freien Wahlen und vor allem keine Massenbasis in der ArbeiterInnenklasse. Der Antisemitismus war der ideologische Klebstoff, um die Massenbasis der NSDAP in anderen Teilen der Bevölkerung zusammen zu halten. Er bot den von Existenzverlust bedrohten KleinbürgerInnen die Illusion, sowohl gegen Kapitalismus als auch gegen Sozialismus zu kämpfen. Dabei konnten sich die Nazis auf historisch gewachsene Vorurteile und antisemitischen Rassismus stützen. Erst die brutale Zerstörung der ArbeiterInnenbewegung, der permanente Gestapo-Terror und die ideologische Gleichschaltung der Gesellschaft ließen die Nazis auch in Teile der ArbeiterInnenklasse vordringen.
Die „Antideutschen“ verkennen, dass es die kapitalistische Stufe der Entwicklung von Produktivkräften war, die es ermöglichte, dass die Eroberung eines Staatsapparates durch eine fanatisch-antisemitische Diktatur zur industriellen Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung führte, dem größten und beispiellosen Verbrechen in der Menschheitsgeschichte.
Die Kollektivschuldthese wurde nach Kriegsende genutzt, um die Verantwortung der Kapitalisten für Hitlers Machtergreifung zu verschleiern und Forderungen nach Verstaatlichung der Industrie und Abschaffung des Kapitalismus abzulenken. Die „Antideutschen“ haben die These vom tendenziell antisemitischen Charakter des deutschen Volkes in die heutige Zeit gerettet und sehen in den heutigen Deutschen die Erben der Nazis. Unterschiede zwischen den Klassen sehen sie nicht.
Der Staat Israel
Das gilt auch für ihre Haltung zum Staat Israel. Sie negieren die Existenz einer Klassengesellschaft in Israel und machen keinen Unterschied zwischen der herrschenden Klasse und der Masse der ArbeiterInnen und Erwerbslosen.
Fast jede ihrer Diskussionen dreht sich um Israel und dessen Bedrohung. Aber sie schweigen zu Streiks und gemeinsamen jüdisch-arabischen Demos gegen Wohnungsnot. Sie haben geschwiegen, als bei einem schwulenfeindlichen Bombenanschlag in Tel Aviv zwei junge Menschen ermordet wurden. Sie denunzieren israelische KriegsdienstverweigererInnen, RegierungskritikerInnen und Linke.
Ganz abgesehen davon, dass die Mehrheit der Jüdinnen und Juden auf der Welt nicht in Israel lebt und das auch nicht will, ist Israel alles andere als ein sicherer Ort für sie.
Die SAV tritt für das Recht der jüdisch-israelischen Bevölkerung auf einen eigenen Staat ein und lehnt alle pseudo-linken Positionen ab, die eine „Zerstörung Israels“ fordern. Gleichzeitig ist aber Kritik an der Politik der herrschenden kapitalistischen Klasse in Israel und die Verteidigung des Selbstbestimmungs- und auch des Widerstandsrechts für die PalästinenserInnen nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen. Die israelische Schwesterorganisation der SAV (und der SLP, Anm.), Maavak Sozialisti, die mehrheitlich aus jüdischen AktivistInnen besteht, tritt für die Einheit jüdischer und arabischer ArbeiterInnen und Jugendlichen im Kampf gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg ein. Nur durch eine solche Politik kann die nationale Spaltung, und damit auch der Antisemitismus, zurück gedrängt werden.
Islamophobie von links
Theoretisch wenden sich die „Antideutschen“ gegen die Herrschenden im eigenen Land. Doch ihr Feindbild ist nicht der deutsche Imperialismus, sondern der Islamismus beziehungsweise die gesamte islamische Religion.
Der Islamismus, manchmal auch die gesamte islamische Religion, wird von ihnen als „Islamo-Faschismus“ und als Wiedergänger des völkermörderischen Antisemitismus der Nazis beschrieben. Sie definieren den Kampf gegen den Islamismus als antifaschistischen Kampf. In Ermangelung anderer Kräfte müsse dieser Kampf von den bürgerlich-kapitalistischen Ländern USA und Israel ausgefochten werden.
Mit der Zuschreibung eines irrationalen, mittelalterlichen „antisemitischen Vernichtungswillen“ islamischer Organisationen und Staaten, haben viele „Antideutsche“ die Massaker der israelischen Armee in Libanon und Gaza gerechtfertigt.
Auch innenpolitisch stimmen die „Antideutschen“ in den islamophoben Chor mit ein und begeben sich so in eine eindeutige Nähe zu liberalen Islam-Hassern und rechtsextremen Gruppen wie „Pro NRW“.
Die „Antideutschen“ machen einen Denkfehler. Sie denken, sie könnten gnadenlos auf die islamische Religion eindreschen und am Ende würde damit nur die „Islam-Kritik“ gestärkt. Tatsächlich führt die aggressive „Islam-Kritik“ zur Ethnisierung der gesamten politischen Debatte und trägt Antisemitismus und Rassismus im Huckepack.
Kapitalismus forever?
Hinter ihrer Unterstützung der Herrschenden in Israel und den USA steckt, dass die „Antideutschen“ die Hoffnung aufgegeben haben, Kapitalismus und Imperialismus abzuschaffen und eine Welt frei von Ausbeutung und Unterdrückung zu erreichen. Daher konstruieren sie einen Gegensatz zwischen den entwickelten kapitalistischen Ländern, allen voran Israel und USA, und den „feudalen“ islamischen Staaten. „Kommunismus“ sei zwar im Prinzip besser als Kapitalismus, aber zur Zeit nicht im Angebot. Daher wäre der „aufgeklärte“, „kosmopolitische“ Kapitalismus den islamischen Gesellschaften vorzuziehen.
Staaten mit feudalen Elementen und entwickelte kapitalistische Länder sind aber feste Bestandteile eines globalen Kapitalismus. Die Herausbildung imperialistischer Staaten in Europa und Nordamerika hat zur Aufteilung des Weltmarktes und zur kapitalistischen Durchdringung des Rests der Welt geführt. Den zu spät im Kapitalismus angekommenen Ländern ist der Weg zur Herausbildung einer stabilen bürgerlichen Demokratie versperrt, gerade weil sie von den entwickelten kapitalistischen – imperialistischen – Staaten dominiert, ausgebeutet, unterdrückt werden. Nur durch den Kampf für Sozialismus werden auch die reaktionären feudalen Überreste in diesen Gesellschaften überwunden werden können.
„Regressive“ Kapitalismuskritik?
Viele „Antideutsche“ sehen Massenbewegungen von unten, die soziale Forderungen aufstellen, als reaktionär an. Proteste gegen die Macht der Banken und Konzerne werden als „regressive“ (rückschrittliche) „Kapitalismuskritik“ bezeichnet, angeblich ist jede Benennung einzelner Konzerne im Kern „antisemitisch“.
„Ein Antikapitalismus, der immer wieder Personen für die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Verhältnisse verantwortlich macht und ihnen Eigenschaften zuschreibt, die im Antisemitismus Jüdinnen und Juden zugeschrieben werden, ist kein linker“ (Beauftragtenrat Linksjugend ["solid] Sachsen). Soll heißen: Alle, die sagen, dass die Klasse der KapitalistInnen aus einzelnen Menschen und Gruppen von Menschen besteht, deren Handeln Folgen für andere Menschen hat, sind „antisemitisch“. Ein typisches Beispiel für die absurde Argumentationsweise der „Antideutschen“.
Die „Antideutschen“ sehen Kapital und ArbeiterInnenklasse nicht als gegensätzliche Klassen, sondern lediglich als notwendige Bestandteile des Kapitalverhältnisses. Eine Auflösung desselben kann demnach nicht durch den Klassenkampf, sondern … wodurch auch immer!? … erreicht werden.
Was bleibt, wenn man die „kommunistischen“ Phrasen abzieht? Die „Antideutschen“ halten Massenbewegungen für reaktionär. Zur Zeit ist nur Kapitalismus möglich, der US-Kapitalismus ist die fortschrittlichste Variante desselben. Die Massen auf der Welt, Muslime und Deutsche sowieso, andere auch, sind antisemitisch und müssen von den Kräften, die dies erkannt haben, im Zaum gehalten werden.
Unter ihrer dünnen „kommunistischen“ Tarnfarbe sind sie eine spezifisch deutsche Variante von Neokonservativen, die sich für eine Seite im kapitalistischen Konkurrenzkampf entschieden haben und die konsequente militärische Durchsetzung von Herrschaftsinteressen fordern.