Woher kam der Stalinismus?

Moritz Erkl

Wer heute von der Notwendigkeit spricht, den Kapitalismus abzuschaffen, bekommt noch immer häufig zur Antwort, dass das in einer Diktatur enden müsse – wie man in der Sowjetunion gesehen habe. Doch der Stalinismus war keine zwangsläufige Folge der Russischen Revolution und der Politik der Bolschewiki. Es waren konkrete historische Umstände, die den Aufstieg einer bürokratischen Kaste ermöglichten, die heute zurecht allen Arbeiter*innen verhasst sein sollte.

Nach dem Sturz des Kapitalismus in Russland brach ein Sturm der Konterrevolution über die junge Rätedemokratie herein. 21 imperialistische Armeen versuchten, die Revolution aus Angst vor ihrer internationalen Ausbreitung im Keim zu ersticken. Obwohl es der hastig aufgestellten Roten Armee gelang, die neue Ordnung zu verteidigen, waren die Opfer immens. 6 Millionen Menschen starben im Bürger*innenkrieg bzw. an seinen Folgen, darunter viele der aufopferungsvollsten bolschewistischen Revolutionär*innen. Die internationale Ausbreitung der Revolution wurde verhindert – nicht nur durch Militär und Polizei, sondern auch mithilfe der sozialdemokratischen Führungen. Die junge UdSSR blieb isoliert.

Um die wirtschaftliche Rückständigkeit im Vergleich zum kapitalistischen Westen auszugleichen, wurde kleinbäuerlichen Schichten kapitalistischer Handel im Rahmen der NÖP (neue ökonomische Politik) gewährt. Die Plätze der verstorbenen Revolutionär*innen wurden von ehemaligen Beamt*innen des Zarismus und von Karrierist*innen aufgefüllt. Aus ihnen wurde die bürokratische Kaste, welche zunehmend an Macht gewann. Ihr Repräsentant wurde ausgerechnet Josef Stalin, welcher – bekannt für sein organisatorisches Talent – an die Spitze einer innerparteilichen Untersuchungskommission zur Bekämpfung des Karrierismus gesetzt wurde.

Die Bürokratie führte in den folgenden Jahren die Sowjetunion nicht mehr im Interesse der Arbeiter*innenklasse, sondern in ihrem eigenen. Danach richtete sich auch ihre Ideologie, wie der antistalinistische Revolutionär Leo Trotzki analysierte:

„Stalins Fraktion hat nicht im mindesten die unvermeidlichen Resultate der Entwicklung vorhergesehen, die ihr jedes Mal über den Kopf wuchsen. Sie reagierte darauf mit administrativen Reflexen, Die Theorie ihrer jeweiligen Wendung schuf sie nachträglich, ohne sich viel darum zu kümmern, was sie am Tage zuvor lehrte.“ (Leo Trotzki: Verratene Revolution, 1936)

Auch wenn der Stalinismus das Ergebnis von Faktoren war, die die Revolutionär*innen nur unzureichend beeinflussen konnten, heißt das nicht, dass es keine Lektionen für revolutionäre Organisationen gibt: Nur konsequente innerparteiliche Demokratie kann bürokratische Tendenzen im Zaum halten, nur eine internationale Revolution ermöglicht echte sozialistische Demokratie.


Zum Weiterlesen:

Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?
z.B. Mehring Verlag, 2016 (4. Auflage)

Erscheint in Zeitungsausgabe: