Tübingen: Tausende stoppen Nazi-Demonstration

Wolfram Klein, CWI-Deutschland

Am 21. Juli hatten die Jungen Nationaldemokaten (JN), die Jugendorganisation der neofaschistischen NPD mit etwa 200 Leuten demonstrieren wollen. Die Jungnazis begründeten ihre Demonstration mit der angeblichen großen linken Szene in Tübingen. Es handelte sich also um eine bewusste Provokation.

Der vor einigen Monaten gewählte OB Palmer (Grüne) ließ den Naziaufmarsch verbieten, an vielen Stellen in der Stadt wurden Gegenaktionen angemeldet. Trotzdem genehmigte das Verwaltungsgericht Sigmaringen den Naziaufmarsch, allerdings mit einigen Auflagen.

Nach verschiedenen Auftaktveranstaltungen in verschiedenen Stadtteilen und auf dem Marktplatz sammelten sich die GegendemonstrantInnen am Omnibusbahnhof (Europaplatz), von der genehmigten Nazi-Demoroute nur durch Absperrgitter und Polizei getrennt. Die Beteiligung der Tübinger Bevölkerung war beeindruckend, Junge und Alte, Familien mit Kindern, sehr viele SchülerInnen kamen, um die Nazis nicht in Tübingen marschieren zu lassen. Die Polizei gab 10.000 GegendemonstrantInnen an. Etwa 100 DemonstrantInnen, die versuchten, schon auf dem Bahnhof das Aussteigen der Nazis zu verhindern, wurden von der Polizei abgedrängt und schlossen sich dann den anderen DemonstrantInnen an. Später kam die Nachricht, dass zwei DemonstrantInnen im Bahnhof festgenommen worden seien, die aber später wieder freigelassen worden sein sollen. Insgesamt sollen vier GegendemonstrantInnen vorübergehend festgenommen worden sein.

Grüner OB verteidigt Polizei

Als die Meldung kam, dass die Nazis auf dem Bahnhof ankamen und von der Polizei gefilzt wurde, nahm die Spannung zu. Es gab immer wieder Sprechchöre, von einem Lautsprecherwagen kam Musik und Reden wurden gehalten. Nach mehrmaliger Aufforderung redete auch OB Palmer. Er erklärte, dass der Aufmarsch vom Gericht genehmigt worden sei und die Polizei ihn deshalb gewährleisten müsse. Die Polizei würde nicht die Nazis schützen, sondern das Demonstrationsrecht und damit die Verfassung. (Wie es mit dem Demonstrationsrecht tatsächlich aussieht, haben wir in Rostock erlebt.) Er appellierte an die TeilnehmerInnen, nicht die Absperrungen zu übersteigen, da gewaltsame Auseinandersetzungen genau das seien, was die Nazis wollten. Der weitere Verlauf zeigte, dass es neben der von Palmer an die Wand gemalten Alternative, die Nazis marschieren zu lassen oder sich mit ihnen zu prügeln, noch eine dritte Möglichkeit gab.

Denn die Polizei hat sehr wohl die Möglichkeit, auch eine genehmigte Demonstration abzusagen, wenn sie die Sicherheit nicht gewährleisten zu können meint. Palmer hat mit seiner Abwiegelei die Chance verringert, dass die Polizei diesen Weg einschlagen würde. Erfreulicherweise argumentierten ein Kollege von ver.di und Heike Hänsel (Bundestagsabgeordnete der Linken) anders als Palmer. Natürlich riefen sie nicht zur Gewalt auf, aber sie wiesen darauf hin, dass es eine gewaltige Provokation darstellen würde, wenn die Neonazis direkt vor der Nase von Tausenden DemonstrantInnen vorbeimarschieren würden und dass die Folgen unkalkulierbar seien und forderten daher die Polizei auf, die Nazis nicht marschieren zu lassen.

Reichskriegsflagge akzeptiert

Schließlich sammelten sich etwa 230 Neonazis an einem Ende des Bahnhofs und die Polizei ließ sie von den GegendemonstrantInnen weg, entgegen der genehmigten Demorichtung laufen. Wie der Lautsprecherwagen den GegendemonstrantInnen mitteilte, führten die Neonazis auch eine „Reichskriegsflagge“ mit sich, obwohl das in den gerichtlichen Auflagen ausdrücklich verboten worden war. Die Polizei schritt nicht ein, um den Gerichtsbeschluss durchzusetzen.

Weit kam der Marsch aber nicht, weil etwa 150 GegendemonstrantInnen die Straße blockierten. Das führte nicht zu den von Palmer an die Wand gemalten Gewaltszenen, sondern dazu, dass die Nazis wieder umdrehen mussten, auf die Masse der GegendemonstantInnen am Omnibusbahnhof zu, aber auch auf den Bahnhof zu.

Jetzt musste es sich entscheiden: würde die Polizei die Nazis an der Gegendemonstration vorbeimarschieren lassen, oder würde sie sie zum Bahnhof zurücklotsen? Angesichts der Zahl und Stimmung der DemonstrantInnen sah sich die Polizei zu letzterem gezwungen. Mit Sprechchören, Liedern etc. versuchten die DemonstrantInnen, der Entscheidung nachzuhelfen. Vom Lautsprecherwagen erhielten die Nazis praktische Lebenshilfe, indem ihnen die Abfahrtszeit des nächsten Zuges mitgeteilt wurde.

NPD-Verbot?

In weiteren Redebeiträgen wurde von anderen erfolgreichen Antifaaktionen berichtet. Gut war auch, dass ein Kollege der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) darauf hinwies, dass Tübingen nicht ganz so nazifrei sei, wie es Palmer & Co darstellten. Immerhin gibt es dort seit mehr als einem halben Jahrhundert einen der berüchtigtsten rechtsradikalen Verlage („Grabert“). Weniger gut war sein Orientieren auf ein staatliches NPD-Verbot. Gerade an einem Tag, an dem die Polizei demonstriert, dass sie nicht willens oder fähig ist, eine so einfache Maßnahme wie das Verbot des Mitführens einer Reichskriegsflagge auf einer Demonstration durchzusetzen, sollte man nicht die Illusion schüren, dass dieser Staatsapparat etwas so viel aufwendigeres wie ein wirksames NPD-Verbot umsetzen würde. Wenn wir die Nazis stoppen wollen, dürfen wir uns nicht auf den Staat verlassen, sondern müssen auf Massenmobilisierung von unten setzen. So können die Nazis gestoppt werden, selbst wenn ihnen Gerichte freie Bahn geben, wie Tübingen gezeigt hat.

Eine weitere gravierende Schwäche war, dass die Nazis in Redebeiträgen etc. einfach als Idioten abgetan wurden. Wie der Staat durch seinen Rassismus Wasser auf die Mühlen der Nazis leitet, wie der neoliberale Sozialkahlschlag den Nazis Propagandathemen liefert wurde in den Beiträgen, die ich hörte, nicht thematisiert. Damit hat man sich zwar Konflikt mit einem Teil der Demoaufrufer einschließlich OB Palmer (dessen Partei „Hartz“ ja mit verbrochen hat) erspart (es herrschte trotzdem nicht eitel Harmonie unter den DemonstrantInnen, weil z.B. gemäßigte TeilnehmerInnen radikaleren TeilnehmerInnen eskalierende Redebeiträge vorwarfen), aber auch die Chance vertan, Tausenden von Menschen, von denen viele sicher zum ersten Mal auf einer Demonstration waren, neue Ideen zu vermitteln.

Erfolg

Trotz dieser Schwächen war es natürlich ein großartiger Erfolg, dass die Nazis nur ein paar Schritte marschieren konnten und dann Tübingen wieder verlassen mussten. Sie wollten nach ihrem Fiasko eine Spontandemo in Hechingen weiter südlich organisieren. Ein Teil der DemonstrantInnen wollte ihnen nachfahren, was die Polizei zum Anlass nahm, wesentlich massiver vorzugehen als bisher. Laut Medien gelang es dann nur einer kleinen Gruppe von GegendemonstrantInnen, nach Hechingen durchzukommen.