Mo 27.06.2016
Vor 450 Jahren starb der Astrologe und Prophet Nostradamus, heute Inbegriff belächelter Zukunftsdeuterei. Aber sind wir heute über solche Phantastereien hinaus? Leben wir nicht in einer Zeit, in der Rechte breiten Applaus bekommen für hanebüchene Prophezeihungen über den nahen Untergang des Abendlandes? Sind die, die heute vom drohenden Kalifat Europa fabulieren, nicht würdige Erben des Nostradamus?
Auch in der "seriösen Wissenschaft" sieht es nicht viel besser aus. Die jahrelange wirtschaftliche Stagnation Österreichs wird ebenso lange vom Mantra begleitet "Aber nächstes Jahr wird es dann wirklich aufwärts gehen" - und jedes Jahr kommt es anders. Formuliert werden diese in jedem neuen Jahr abgelieferten Fehlprognosen nicht von Jüngern des Nostradamus - sondern von höchst respektablen "WirtschaftsforscherInnen". Von ähnlicher Güte erweisen sich oft die in wissenschaftlichem Gewand daherkommenden Wahlprognosen von Meinungsforschungsinstituten. Seriöse Prognosen sind umso schwieriger, auf ein je kurzfristigeres Ereignis sie sich beziehen. Es gibt keine Glaskugel, die uns erlauben würde, konkrete politische oder ökonomische Ereignisse in einem oder fünf Jahren sicher vorherzusagen. Vorhersagen lassen sich aber die großen gesellschaftlichen Entwicklungen: Nicht, wie hoch das Wirtschaftswachstum 2018 sein wird, aber sehr wohl, dass der Kapitalismus in seiner schwersten Krise steckt und die Optionen bald lauten "Sozialismus oder Barbarei". Dafür braucht es keine Glaskugel und keinen Nostradamus.