Mi 11.05.2011
Die Debatte um die neue ungarische Verfassung – auch „nationales Bekenntnis“ genannt – erhitzt die Gemüter, nicht nur in Ungarn, sondern auch in vielen Teilen der Welt. Die am 18.04.11 beschlossene und zu Beginn des nächsten Jahres in Kraft tretende Verfassung spiegelt den Nationalismus und Chauvinismus der rechtsgerichteten FIDESZ wieder. So ist die autoritäre Einparteien-Verfassung nicht nur ein Abbild des nationalistischen FIDESZ-Parteiprogramms, sondern auch ein Ausfluss des offen in der Verfassung genannten Staatszieles „Ungarn von Neuem groß (zu) machen“. Die neue Verfassung ist auch ein Ausdruck einer Veränderung der Machtverhältnisse in Unga
Angriffe vor und nach Einführung der neuen Verfassung
Die seit dem letzten Jahr immer stärker ausgebaute autoritäre Diktatur Orbans wird besonders deutlich an den Straßenumbenennungen in Budapest. Es wird versucht unter Missachtung der Budapester Selbstverwaltung den Moskau Platz in Szel Kalman Platz umzuwidmen. Szel Kalman war ein rechter Politiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts der sich für die Magyarisierung Ungarns einsetzte. Auch Straßen und Plätze die nach den KämpferInnen der Ungarischen Räterepublik von 1918/19 benannt sind, werden umbenannt und durch Vertreter des nationalen Lagers ersetzt. Wenn sich Orban schon nicht um die Budapester Selbstverwaltung schert, dann wird er sich auch nicht um kritische Stimmen kümmern. Orban wird politischen Widerspruch – unabhängig ob dieser nun bürgerlich oder links ist - nicht auf Dauer dulden. So wird schon jetzt das ungarische Verfassungsgericht demontiert. Mißliebige MSzP-BeamtInnen werden abgesägt und durch FIDESZ-BürokratInnen ersetzt. Die restlichen kritischen Stimmen sollen durch das neue Mediengesetz „erstickt“ werden.
Kann sich Widerstand gegen die nationalistische Verfassung aufbauen?
Einige bürgerlichen Kommentatoren behaupten, dass die UngarInnen einen melancholischen und passiven Charakter haben und sie daher die kommenden Verhältnisse schon irgendwie ertragen werden. Doch was sollen die UngarInnen noch alles ertragen? Im Januar wurden die Gaspreise exorbitant erhöht. Dann wurde ab Februar die neue Flattax, die einen einheitlichen Steuersatz von 16 Prozent vorsieht, eingeführt. Schon vor März wurde begonnen alle InvalidInnen auf ihre Bedürftigkeit und Rentenansprüche hin zu überprüfen. Die seit April beginnenden Proteste zeigen, dass die neue Verfassung das Fass zum überlaufen brachte. Die Wut treibt die Leute auf die Straße. Auch am Wochenende 16./17. April mehrere tausend Menschen an verschiedenen Demonstrationen beteiligt. Schon von Freitag an gab es mindestens jeden Tag eine Demonstration, auf der die Ablehnung und Widerstand gegen die neue FIDESZ-Verfassung zum Ausdruck kam.
Und auch historisch stimmt das Bild der gemütlichen und duldsamen UngarInnen nicht - 1918/19 und 1956 sollten dafür Beweis genug sein!
Wie wird der bisherige Protest von den Liberalen organisiert?
Am Freitagabend (15. April) fand in der Verfassungsstraße (alkotmany utca), unweit vom ungarischen Parlament, eine Demonstration statt, die von der liberalen Organisation „eine Million Menschen für die ungarische Pressefreiheit“ (egymillióan a magyar sajtószabadságért) hauptsächlich über Facebook organisiert wurde. Wenn auch präsent in Facebook, so war diese Veranstaltung wenig kämpferisch. Dem Aufruf, der sich gegen das neue Mediengesetz richtet und für Redefreiheit ist, folgten etwa zwei bis drei tausend Menschen. Unter den DemonstrantInnen befanden besonders viele Liberale und Schwulenbewegte mittleren Alters, so wie auch Roma.
Wie rückschrittlich ist die neue ungarische Verfassung?
Die Teilnahme von AktivistInenn der Schwulenbewegung ist kein Zufall. Denn das „nationale Bekenntnis“ (neue Verfassung) ist ein Rückschritt der ohnehin nicht so positiven Gesetzeslage. Einige Schwulenbewegte verteilten rosafarbene Dreiecke mit der Aufschrift „Verfassung Artikel K1“ (alkotmany cikk K 1), die an die Symbole schwuler KZ-Insassen erinnern. Der Artikel K1 schreibt fest, dass es nur die „Ehe als eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau“ gäbe, deren Zweck die Zeugung von Kindern zum „Fortbestand der Nation“ ist. Andere Formen des Zusammenlebens wie schwule oder lesbische Lebenspartnerschaften werden dadurch ausgeschlossen und werden wohl auch in Zukunft stärker als bisher repressiv verfolgt. Die letzten Budapest Prides und LGBT-Demonstrationen zeigten dies schon zu genüge. Eine andere Gruppe „Patent“ kritisierte in ihrem Flugblatt die patriachalen Lebensverhältnisse in Ungarn die ebenfalls mit der neuen Verfassung gestärkt werden sollen.
Welche Befürchtungen gibt es von der sozialdemokratischen MSzP?
Neben dieser liberalen Demo, die von einer relativ jungen Bewegung organisiert wurde und viele verschiedene Menschen ansprach, gab es auch noch zwei weitere Demonstrationen. Die eine war vom früheren sozialdemokratischen MSzP-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany organisiert, die andere von der seit 2009 existierenden grünen LMP („Lehet Más a Politika“, auf deutsch „die Politik kann anders sein“). Auf der Demo am Samstag, zu der Gyurcsany über die von ihn gegründete Bewegung „Ungarische Demokratische Charta“ aufrief, kritisierte er Orban, dass er nach Alleinherrschaft strebe und Orban die Pressefreiheit mit Füßen treten würde. Auch befürchtet Gyurcsany, dass die Staatsanwalt für Orbans politische Ziele missbraucht werden könnte. Als ehemaliger MSzP-Ministerpräsident, der im Jahre 2006 die bekannte "Lügenrede" hielt, könnte er auch politischer Verfolgung – wie sie bei anderen MszP-nahen Leuten wie der Philosophin Agnes Heller schon passiert – ausgesetzt sein. An dieser Demo beteiligten sich etwa fünf tausend Menschen. Die meisten TeilnehmerInnen waren mittleren Alters.
Die grüne LMP befürchtet das Ende jeder Opposition
Auf der sehr aufwendig gestalteten Demo der grünen LMP fanden sich trotz starker Mobilisierung mit Infoständen im Stadtgebiet nur etwa 800 Menschen ein. Die LMP hob auf ihrer Demonstration besonders hervor, dass die neue Verfassung die Rechtssicherheit nicht garantiere könne und Orban versucht, jede Opposition aus der Regierung zu drängen. So sagt Andrass Schiffer (LMP) mit Bezug auf die Verfassung, dass sie die Arbeit aller jetzigen und kommenden Regierungen wegen der vielen Zweidrittelgesetze lähmen wird und diese dann nur noch nach Orbans „Pfeife tanzen“.
Wo steht die Bewegung in Ungarn?
Die Bewegung gegen die neue FIDESZ-Verfassung stützt sich besonders auf etablierte politische Kräfte. So kämpfen die meisten Gruppen für liberale Forderungen, wie Rechtsgarantien durch das Verfassungsgericht, Rede- und Meinungsfreiheit, gegen eine politische Polizei und gegen Diskriminierung. Diese Forderungen sind richtig, aber noch nicht weitgehend genug um die bestehenden Verhältnis maßgeblich zu verändern. Es ist richtig für den Erhalt und die Ausweitung demokratischer Rechte zu kämpfen. Es ist aber nicht verwunderlich, dass diese etablierten Parteien die soziale Frage bestenfalls streifen. Die MSzP ist verantwortlich für brutale Kürzungspolitik, die Liberalen setzen auf Wirtschaftsliberalismus und auch die Grünen betonen den Schutz des Privateigentums (Timea Szabo). Doch die letzten Wochen haben gezeigt, dass gerade die sozialen Probleme zehntausende Menschen auf die Straße treiben. Die gegenwärtigen Streiks der Polizei, Feuerwehr und anderer Staatsbeschäftigten machen dies deutlich.
Was könnte die Bewegung erreichen?
Zwanzig Jahre Kapitalismus haben die erhofften Verbesserungen nicht gebracht. Dafür aber wachsende Arbeitslosigkeit und Armut. Orban & Co. versuchen mit ihrer national-chauvinistischen Politik davon abzulenken. Die repressive neue Verfassung hat auch das Ziel, den Druck auf Gewerkschaften und ArbeiterInnen, die sich wehren, zu erhöhen.
Die Opposition wird zur Zeit von verschiedenen bürgerlich-liberalen Kräfte dominiert. Linke Organisationen sind schwach. Und faschistische Kräfte versuchen ganz bewusst auch in die Arbeitskämpfe einzugreifen, um ihre Basis zu verbreitern. Die Aufgabe, die in Ungarn vor SozialistInnen liegt ist groß. Zentral ist die Verbindung der Bewegung für demokratische Recht mit der sozialen Frage. Die Sparlogik von IWF, Orban und ungarischem Kapital muss zurück gewiesen werden und die Unfähigkeit des Kapitalismus, den UngarInnen eine Zukunft zu geben erklärt werden. Gerade in den aktuellen Kämpfen von ArbeiterInnen sind Forderungen nach demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Sozialistische Ideen können eine breite Basis gewinnen, wenn sie sich klar von den undemokratischen Strukturen des Stalinismus ungarischer Prägung distanzieren.