Fr 08.04.2011
Gefährliche Entwicklung in Ungarn
Anfang dieses Jahres hat Ungarn den Vorsitz der EU übernommen. Der ungarische Premier Orbán und seine Politik sind damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Führung der EU versucht, die immer stärkere Kritik an seiner Regierung bezüglich der Behandlung von Roma, bezüglich der Einschränkung der Pressefreiheit und bezüglich der Sondersteuern gegen ausländische Unternehmen zu ignorieren. Es gibt beunruhigende Berichte über das Wachstum von rechtsextremen und faschistischen Gruppen, über eine Zunahme von rassistischen und antisemitischen Angriffen und sogar Morden. Ist es gefährlich, heute in Ungarn zu sein? Wiederholt sich die Geschichte und spielt Orbán die Rolle eines neuen Horthy – des mit dem NS-System kollaborierenden Diktators in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Oder gibt es eine Alternative, die diese Entwicklung aufhalten kann und die die Rechte von ArbeiterInnen und Jugendlichen aller Nationalitäten, inklusive der Roma, die in Ungarn leben, garantieren kann?
Hoffnungen und Versprechen sind nicht genug
Nach 1989 war Ungarn eines der ersten Länder, in denen der Kapitalismus wieder Fuß fassen konnte. Hand in Hand gingen damit enorme Hoffnungen der Massen, unterstützt von den Versprechungen der herrschenden Elite, dass der ungarische Lebensstandard rasch westeuropäisches Niveau erreichen würde. Das anfänglich hohe Investitionsvolumen half mit, die Illusion zu schüren, dass die Zukunft eine rosige sei. Aber für den/die „normalen“ Ungarn/in stellte sich rasch heraus, dass die Zukunft nicht rosig, sondern dunkelgrau ist.
Die Produktion bzw. das BIP schrumpften zwischen 1988 und 1993 um 20%. Die Reallöhne fielen 1990-1994 um 20% und um weitere 18% von 1995-1996. Tausende Unternehmen machten dicht, eine halbe Million Jobs verschwand einfach. Während Arbeitslosigkeit unter der staatlichen Planwirtschaft – trotz des Würgegriffs der stalinistischen Bürokratie – kaum existiert hatte, schoss diese nun auf Werte bis zu 12%. Heute liegt der Lebensstand in Ungarn noch 40% unter dem Durchschnitt der EU 25.
Seit 1989 haben alle unterschiedlichen Regierungen einen Privatisierungskurs vorangetrieben. Die Hälfte der ungarischen Unternehmen wurde in nur vier Jahren privatisiert. Aufgrund der hochqualifizierten Arbeitskräfte und der strategisch günstigen Position nahe an Westeuropa war Ungarn attraktiv für internationales Kapital und konnte daher mehr ausländische Investitionen anziehen als andere osteuropäische Staaten. Westeuropäische Banken nutzten den Aufkauf ungarischer Unternehmen, um etwas von ihrem überschüssigen Kapital anzulegen. Der Ausverkauf an ausländische Unternehmen führte dazu, dass die Mehrheit des Außenhandels und damit auch die dazugehörigen Profite nun in deren Kontrolle liegen.
75% der größten Unternehmen in Ungarn, 90% der Banken und 95% der Versicherungen sind in ausländischer Hand. Wie schnell die Umwandlung der Wirtschaft vor sich ging, zeigt sich u.a. daran, dass um die Jahrtausendwende bereits 80% des BIP aus dem Privatsektor stammten.
Ein Beispiel für die katastrophalen Auswirkungen der kapitalistischen Restauration ist die Giftkatastrophe in Kolontár im Oktober 2010. Als der Damm der Aluminiumfabrik MAL brach, vergiftete Rotschlamm die ganze Gegend. Zehn Menschen starben und 300 sind ernsthaft erkrankt. Auch die stalinistischen BürokratInnen, die die MAL verwalteten, als diese noch in Staatsbesitz war, haben viele Gesundheits- und Umweltfragen ignoriert. Aber als das Unternehmen privatisiert wurde, konnte die InvestorInnengruppe, die die MAL übernommen hat – ehemalige BürokratInnen, die zuerst mit den StalinistInnen, später mit der sozialdemokratischen MSZP verbandelt waren – das Werk sogar noch ohne die ohnehin schwachen gesetzlichen Sicherheitsauflagen führen. Zum Zeitpunkt der Katastrophe hatten die zwei Besitzer ein geschätztes Vermögen von €145 Millionen. Die Gier nach Profit ist wohl der Grund für den Dammbruch und die Giftkatastrophe.
Trotz der Privatisierungserlöse stiegen sowohl die Staatsschulden als auch die private Verschuldung dramatisch an. Ende 1994 musste bereits ein Drittel des Budgets für die Bedienung der Zinsen der Staatsverschuldung aufgewendet werden. 2008 war sie auf 80% des BIP gewachsen. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage konnte der private Konsum teilweise nur durch das Wachstum von Privatkrediten an ArbeiterInnen und Menschen mit niedrigem Einkommen gehalten werden – was allerdings zu einer Privatverschuldung in untragbarer Höhe geführt hat.
Zwanzig Jahre nach der Restauration des Kapitalismus fällt die Bilanz eindeutig negativ aus. Die Armut wächst und ein Drittel der Bevölkerung lebt unter dem Existenzminimum – die Hälfte davon sind Kinder. Unter den Roma, die systematisch unterdrückt und ausgebeutet werden, ist die Situation noch viel schlimmer. Die Mehrheit der UngarInnen kann heute nur mehr mit mehr als einem Job überleben.
Als die Krise auch in der ungarischen Wirtschaft zu greifen begann, konnte der Stellenabbau in der Privatwirtschaft für eine kurze Periode durch den hohen Beschäftigungsgrad im Öffentlichen Dienst aufgefangen werden. Aber als dann auch die Kürzungen im Öffentlichen Sektor zunahmen, war auch das vorbei. Das Kapital aus Westeuropa, das gekommen war, um von den billigen aber hochqualifizierten Arbeitskräften zu profitieren, zog weiter nach Osten und nahm die Jobs gleich mit.
Die Tatsache, dass sich die soziale Lage laufend verschlechtert, hat die Sichtweise vieler Menschen beeinflusst, wie sie die Lage heute und in der Vergangenheit einschätzen. 1991 meinten 40% der Bevölkerung, dass “das alte System (der Stalinismus, Anm.) besser war als das Neue”. Im Jahr 1995 war dieser Wert auf 54% angestiegen. Unter ungelernten ArbeiterInnen und den Beschäftigten in der Landwirtschaft lag der Anteil jener, die das alte System bevorzugten, bei 65%. Und auch unter UnternehmerInnen und Intellektuellen waren 29% für das “alte System”. Heute meinen 60% der UngarInnen dass der Systemwechsel eine Verschlechterung bedeutet hat.
Die globale Wirtschaftskrise trifft Ungarn hart
Obwohl die Situation ohnehin schon schwierig war, hat die globale Wirtschaftskrise zu noch größeren Problemen in Ungarn geführt. Innerhalb eines Jahres stieg die Arbeitslosigkeit um 25%, die Firmenbankrotte um ein Drittel. 2009 schrumpfte die Wirtschaft um 6,3%.
Die Kombination eines doppelten Defizits bei Budget und Außenhandel mit der hohen Privatverschuldung (und davon auch noch der Großteil in Fremdwährungskrediten in Euro) hat dazu geführt, dass der ungarische Forint im Oktober 2008 auf den internationalen Finanzmärkten starke Verluste hinnehmen musste. Weil das nationale Finanzsystem nicht über ausreichend Ressourcen verfügte, um die Situation zu stabilisieren, organisierten EU, IWF und die Weltbank Kredite im Ausmaß von über 20 Milliarden Euro, um Ungarn zu “retten”.
Ungarn war der erste Mitgliedsstaat, der einen Kredit von der EU erhielt. Doch die Kreditgeber verlangten als Vorbedingung, dass das Defizit von damals über 10% auf den Wert der Maastricht-Kriterien von 3% gesenkt werden müsste. Das bedeutete weitere Angriffe auf den Lebensstand der ungarischen ArbeiterInnenklasse.
Die Forint-Abwertung war ein weiterer Schritt, um die Kosten der Krise auf die Schultern der ArbeiterInnenklasse abzuwälzen. 70% aller Privatkredite waren in Euro abgeschlossen, sodass sie mit der Forintabwertung um 40% stiegen. Heute haben bis zu 40% aller SchuldnerInnen einen Zahlungsrückstand von mehr als 30 Tagen, viele sogar von 90 Tagen und mehr. Über 700.000 UngarInnen haben massive Probleme dabei, ihre Schulden überhaupt zurück zu zahlen. Zehntausende Familien haben, weil sie die Kreditraten nicht zahlen können, ihre Wohnungen bzw. Häuser verloren.
Den internationalen Kreditgebern ist die soziale Katastrophe, die all das widerspiegelt, herzlich egal. Sie sind besorgt darüber, wie hoch die Schulden sind und darüber, ob sie ihr Kapital zurück bekommen oder nicht – und darüber, ob weitere Zusammenbrüche die europäische Wirtschaft und die Weltwirtschaft ernsthaft bedrohen können. Gerade vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die 2008 begann, bedeutet das große finanzielle Engagement westeuropäischer Banken in Osteuropa und das befürchtete hohe Niveau fauler Kredite eine ernsthafte Gefahr und kann weitere Zusammenbrüche im Bankensektor auslösen.
Die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise und die Forderungen der internationalen Märkte, die von der sozialdemokratischen Regierung der MSZP (Sozialistische Partei Ungarn) umgesetzt wurden, sind weitreichend. Die Arbeitslosigkeit steigt. Von den rund 10% Arbeitslosen sind 30% Jugendliche. Nur 54,5% der Beschäftigten haben sichere Jobs – der niedrigste Wert in der ganzen EU. Das bedeutet, dass 3,8 Millionen UngarInnen, die arbeiten können – und wollen – keinen regulären Job haben.
Zu den Kürzungen, die umgesetzt wurden, gehören Lohnkürzungen im Öffentlichen Dienst, die Anhebung des Pensionsantrittsalters von 62 auf 65 Jahre, die Kürzung bzw. Streichung einer Reihe von Sozialleistungen und die Anhebung der Mehrwertsteuer von 20% auf 25%. Die Kürzungen im Budget 2009-10 machten 5% des BIP aus. Diese Angriffe wurden unter der angeblich „linken“ MSZP durchgeführt und haben zu Enttäuschung und Verzweiflung geführt. Bei gleichzeitigem Fehlen einer echten Alternative für ArbeiterInnen hat das zum Erstarken von rechten und rechtsextremen Parteien geführt.
Regierungen wechseln – die Politik bleibt die gleiche
Nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Ein-Parteien-Systems in Ungarn im Jahre 1989 wurden 1990 die ersten Wahlen in der neuen kapitalistischen „Demokratie“ abgehalten. Seither war eine ständig wechselnde Abfolge von Koalitionsregierungen an der Macht (nur einmal wurde eine Regierung wiedergewählt). Aber trotz der unterschiedlichen Parteien hat sich die Politik in ihrem Kern kaum unterschieden. Die zwei Hauptakteure waren und sind die MSZP und Fidesz.
Die MSZP ist die Nachfolgerin der stalinistischen Staatspartei. Natürlich ist sie keine revolutionäre sozialistische Partei, sondern sie versucht, sich selbst als sozialdemokratische Partei westeuropäischer Prägung zu präsentieren. Aber sie hat keine der Traditionen der sozialdemokratischen Massenparteien der ArbeiterInnenklasse, die früher einmal die Massen der ArbeiterInnenklasse vertreten haben und in denen sich oft, trotz des pro-kapitalistischen Charakters ihrer Führung, die Wünsche und Hoffnungen der ArbeiterInnenklasse widergespiegelt haben.
Die MSZP ist ein Abklatsch dessen, wozu die sozialdemokratischen Parteien heute geworden sind. Sie ist wie New Labour in Britannien oder wie die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und Österreich, die sich de facto vollständig von der ArbeiterInnenklasse abgewandt haben, offen pro-kapitalistisch sind und neo-liberale Politik umsetzen. Sie war zweimal in einer Koalitionsregierung mit den liberalen Freien Demokraten (SZDSZ), von 1994-98 und 2002-10. Beide male hat die MSZP im Interesse des Kapitalismus agiert und sie ist verantwortlich für scharfe „Reformen“ gegen die ArbeiterInnenklasse.
Fidesz (Bund Junger Demokraten – jetzt Ungarischer Bürgerbund) wurde 1988 gegründet. Der Anführer Viktor Orbán, ein ehemaliges Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, erlangte weite Bekanntheit bei der Massenkundgebung am 16. Juni 1989, die den Beginn vom Ende der stalinistischen Diktatur kennzeichnete. Als jüngster Redner war er jener mit der schärfsten anti-kommunistischen Rhetorik.
Seit damals hat sich Fidesz immer weiter nach rechts entwickelt. Fidesz kombiniert nationalistische, chauvinistische und rassistische Propaganda mit populistischer Rhetorik und autoritären Methoden. Von 1998-2002 regierte Fidesz mit der Unterstützung rechter Parteien wie z.B. der Kleinen Landwirtepartei, die sich auf Blut-und-Boden-Ideologie stützt. Heute haben Orbán und Fidesz die Unterstützung der christlichen Kirchen, von großen Teilen der Medien sowie der reichsten Kapitalisten im Land. In manchen Teilen des Landes ist es schwer, ihr Programm von jenem der neofaschistischen Jobbik zu unterscheiden.
Der in Österreich lebende ungarische Autor Paul Lendvai scheibt, dass nur jene, die genau hinschauen, wissen, dass die engsten Freunde von Orbán, also die reichsten ungarischen Forint-Milliardäre, die Spitzenbanker, Topmanager und Ölbarone “nahezu alles kontrollieren”. Einer dieser reichen Männer in Ungarn ist Sándor Csányi, Vorsitzender und Miteigentümer von Ungarns größter Bank, der OTP. Sein Vermögen wird auf 600 Millionen Euro geschätzt. Er betreibt seinen eigenen kleinen Geheimdienst, von dem vermutet wird, dass er Fidesz mit Informationen versorgt.
Die Grundlage für den Aufstieg von Fidesz und der Rechten ist die Tatsache, dass die MSZP-Regierungen für die härtesten Angriffe auf den Lebensstand der ArbeiterInnenklasse verantwortlich sind. Z.B. wurde 1995-98 im Zuge des „Bokros Pakets“ das Defizit von 10% auf 4,2% des BIP durch die Reduzierung der Staatsschulden von 21 auf 8,7 Milliarden Euro abgesenkt. Die internationalen Märkte waren mit dieser scharfen Kürzungspolitik glücklich; die Menschen in Ungarn waren es allerdings nicht. Ähnlich war die Lage 2008, als die MSZP-Regierung sich als verlässlicher Partner des internationalen Kapitals erwies und drastische Kürzungen umsetzte. In beiden Fällen konnte Fidesz bei den Wahlen vom Unmut der ArbeiterInnen über die Kürzungen bei Löhnen und Sozialleistungen profitieren, als die WählerInnen sich entschlossen, gegen die MSZP-Regierung zu stimmen.
Obwohl beide Parteien klar kapitalistisch sind, gibt es doch Unterschiede in ihrer Politik. Viele der ehemaligen staatlichen Apparatschiks wurden gegen Ende der stalinistischen Ära “Reformer” und transformierten sich selbst in “neue” ungarische Kapitalisten, während sie gleichzeitig ihre Verbindung zur MSZP beibehielten. Die MSZP ihrerseits ist der wichtigste Partner für internationales Kapital im Land, während Fidesz stärkere Verbindung zu jenem Teil des Kapitals hat, der gegen die Dominanz der Multis steht. Das spiegelt sich manchmal in der vermeintlich scharfen Rhetorik von Orbán gegen das “internationale Kapital”, den IWF und andere wieder.
Ihre Politik unterscheidet sich nicht wesentlich und beide Parteien versuchen, in Wahlzeiten die Stimmen der ArbeiterInnen zu bekommen, indem sie Reformen beschließen, die – vorübergehend - den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse verbessern. Sie haben die Löhne im öffentlichen Dienst erhöht, wie auch den Mindestlohn oder Pensionen – nur um dann in einer scharfen Kehrtwende zu einem späteren Zeitpunkt neue Angriffen zu fahren. Dazu gehör(t)en u.a. Privatisierungen, Kürzungen bei Sozialleistungen und im Öffentlichen Dienst, neue Steuern oder die Erhöhung der Mehrwertsteuer, Einführung von Studiengebühren bzw. die Erhöhung von Selbstbehalten im Sozial- und Gesundheitswesen und Preiserhöhungen bei Gas, Strom und den Öffentlichen Verkehrsmitteln. Alle Parteien in Ungarn ordnen die Interessen und Bedürfnisse der ArbeiterInnenklasse den Profiten der Unternehmen – großer internationaler wie auch nationaler – unter.
Der Grund dafür ist das Fehlen einer echten ArbeiterInnenpartei in Ungarn. Die Führungen der bestehenden Parteien haben ihre Wurzeln im stalinistischen Staatsapparat. Sie haben, ebenso wie viele der reichsten BankerInnen und KapitalistInnen, die Grundlage für ihren Reichtum schon zu Zeiten des Stalinismus gelegt. Sie haben die marktwirtschaftlichen Reformen zu ihren Gunsten genutzt und sich massiv bereichert. Und als der stalinistische Staat dann zusammenbrach, wurden sie – oft mit Unterstützung der alten stalinistischen Kaste – die neue kapitalistische Klasse. Sie nützten nach ‘89 ihre „Netzwerke“ um von den Privatisierungen ganz privat zu profitieren.
Diese Aasgeier gibt es in allen Parteien – in der MSZP genauso wie bei Fidesz. Ferenc Gyurcsány von der sozialdemokratischen MSZP war von 2004-2009 ungarischer Premierminister. Er ist bekannt als „Ungarischer Blair“. Seine Wurzeln sind in der kommunistischen Jugendorganisation. Er machte seine erste Million im Zuge des Privatisierungsprozesses. Nachdem er in eine der wichtigsten Familien Ungarns, die Aprós, eingeheiratet hatte, stieg er noch weiter auf, wurde Milliardär und einer der reichsten Männer Ungarns. Als er an die Macht kam, lebten 20% oder mehr der UngarInnen in Armut – er selbst besaß damals bereits ein Vermögen von 14 Millionen Euro. Er war also alles andere als ein Vertreter der ArbeiterInnen!
Derselbe Ferenc Gyurcsány hielt im Jahr 2006 als Premier im Zuge einer Konferenz der MSZP seine berühmte „Lügenrede“, in der er sagte, dass er und die Partei die WählerInnen in den letzten Jahren belogen haben, um ihre Stimmen zu bekommen. Die Folge waren Massenproteste. Die Enttäuschung von 20 Jahren falscher Versprechen explodierte. Es kam zu wochenlangen Protesten, Demonstrationen und sogar Besetzungen. Es waren ganz normale Menschen und viele Jugendliche, die ihrem Ärger Luft machten. Auch Studierende waren Teil und protestierten gegen den „Bologna Prozess“, der gegen ihren Willen eingeführt worden war. Aber es gab keine linke Organisation in dieser Bewegung, die eine führende Rolle hätte spielen können – und so entstand im Zuge der Demonstrationen und der Erstürmung der Budapester Fernsehzentrale ein Vakuum, das, zumindest zum Teil, von der ungarischen Rechten und von FaschistInnen gefüllt werden konnte.
Rechtsextreme und FaschistInnen – eine gefährliche Mischung
Schon als die StalinistInnen begannen, marktwirtschaftliche Reformen einzuführen, ging mit diesem Prozess der Aufstieg von rechtsextremen Ideologien einher. Die erste Regierung nach der Wende wurde von der MDF, der Demokratischen Front, gebildet. Der alte stalinistische Apparat hatte den Aufbau der MDF in der Hoffnung unterstützt, so Einfluss zu behalten. Führende UnterstützerInnen dieser Partei fielen immer wieder durch antisemitische Aussprüche und ihre Blut-und-Boden Ideologie auf. Sie organisierten die „Heimholung“ und das Begräbnis des Diktators Miklós Horthy im Jahr 1993. An den Feierlichkeiten nahmen neben 50.000 TeilnehmerInnen auch sieben VertreterInnen der Regierung teil.
Alle rechten Parteien – inklusive Fidesz – haben ihre ideologischen Wurzeln beim Horthy-Regime und der Idee eines Großungarns. Nach dem 1. Weltkrieg verlor Ungarn im Zuge des Vertrages von Trionon große Gebietsteile. Die „Heimholung“ der rund 2,6 Millionen „UngarInnen“, die in Rumänien, der Slowakei, Kroatien und der Ukraine leben, ist zentraler Bestandteil all dieser Organisationen. Fidesz spielt ganz bewusst mit dem Symbol der Stephanskrone und hat in den Jahren 2001 und 2010 Gesetze erlassen, die den ungarischen Minderheiten in diesen Ländern spezielle Rechte zusprechen – inklusive dem Recht auf die ungarische Staatsbürgerschaft.
Die neofaschistische Jobbik führt dieses Konzept nur zu einem logischen Schluss, wenn sie argumentiert, dass sie „plant, die von Ungarn bewohnten Gebiete außerhalb der Grenze zu einem Teil einer vereinigten und geschützten ungarischen Wirtschaftszone zu machen“.
Die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wird als Deckmantel für reaktionäre Veränderungen benützt. Der Europarat hat den Entwurf der Fidesz für eine neue ungarische Verfassung zugestimmt, weil er oberflächlich zustimmt, die europäische Menschenrechtscharta zu achten. Tatsächlich beinhaltet der Text aber ernsthafte Gefahren für die Rechte der ArbeiterInnenklasse – nicht zuletzt dadurch, dass die „christlichen Wurzeln Ungarns“ hineingeschrieben werden sollen. Das ist ein Angriff auf die Rechte der jüdischen Bevölkerung und der Roma und zielt auch auf das Verbot der Abtreibung ab.
Der wahre Charakter der Fidesz zeigt sich in ihren Angriffen auf die Pressefreiheit und in ihrem „System der Nationalen Zusammenarbeit“, auch bekannt als „Orbán Bulle“. Sie ruft zur „nationalen Einheit“ von Menschen ungarischen „Blutes“ auf, was UngarInnen mit jüdischem oder Roma Hintergrund ausschließt. Die Fidesz Regierung wird mit Sicherheit noch weiter in eine autoritäre Richtung gehen, wenn die ArbeiterInnenklasse nicht aktiv wird, um sie zu stoppen.
Ein weiterer Teil der Fidesz-Ideologie ist ein ein in der ungarischen Gesellschaft tief verwurzelter Antisemitismus. Bereits 1920 war Ungarn das erste europäische Land, das eigene Gesetze gegen Juden/ Jüdinnen erließ. Sie wurden erlassen, nachdem General Horthy über die blutige Niederschlagung der ungarischen Räterepublik von Béla Kun an die Macht gekommen war. Und in der relativ kurzen Periode der direkten Kontrolle durch das deutsche NS-Reich in den Jahren 1944-45 wurde mehr als eine halbe Million ungarische Jüdinnen und Juden ermordet. Auch die StalinistInnen setzten in der Periode danach auf antisemitische Vorurteile. Auch nach 2008 wurden wieder verstärkt die antisemitischen Stereotypen vom jüdischen Finanzkapital, das „die Zukunft der hart arbeitenden Ungarn ruiniert” benützt. Heute gibt es laufend Berichte über Angriffe auf Jüdinnen und Juden, insbesondere in Budapest.
In den letzten Jahren ist eine Zunahme von rassistischer und antisemitischer Propaganda sowie von gewalttätigen Angriffen zu verzeichnen. Rechtsextreme und faschistische Organisationen werden immer stärker. Der Erfolg der neofaschistischen Jobbik, die bei den Parlamentswahlen 2010 auf 17% der Stimmen kam, brachte diese in die Schlagzeilen der internationalen Presse. Zur Jobbik gehört auch die „Ungarische Garde“, eine faschistische SA-ähnliche Formation. Sie organisiert einige tausend UngarInnen, die in martialischen Aufmärschen insbesondere durch jene Ortschaften ziehen, in der eine große Romabevölkerung lebt – sie setzen auf Einschüchterung und drohen damit, „aufzuräumen“ und „zu säubern“. Die Ungarische Garde wurde 2007 gegründet und ihre Mitglieder tragen Uniformen und Symbole mit Anlehnung an die faschistischen Pfeilkreuzler, die Träger des Terrorregimes von 1944-45.
Bei der ersten Angelobungszeremonie der Ungarischen Garde, über die die Medien groß berichteten, wurden die Fahnen von katholischen, evangelischen und Priestern der Reformkirche gesegnet. Die Garde wurde 2009 verboten und bereits 2010 als „Neue Ungarische Garde“ wieder gegründet. Roma werden in der Propaganda der Jobbik als Schädlinge bezeichnet, von denen Ungarn „gesäubert“ werden müsse. Sie fordern spezielle Lager mit doppelter Umzäunung – ähnliches existierte nur zwischen 1944-45. Sie fordern auch, dass Romafamilien ihre Kinder weggenommen werden sollen und rufen nach Arbeitszwang. Die Abgeordnete der Jobbik zum Europäischen Parlament, Krisztina Morvai, hat den "liberal-bolschewistischen Zionisten" „geraten“, darüber nachzudenken, "wohin sie flüchten und sich verstecken können“. Wie auch andere rechtsextreme und faschistische Organisationen setzt Jobbik auf antisemitische Stereotypen indem sie das „Finanzkapital“ (gemeint ist „jüdisches Finanzkapital“) für die Krise und die miese Situation in Ungarn verantwortlich machen.
Neben den Angriffen auf Jüdinnen und Juden hetzen rechtsextreme und faschistische Gruppen gegen die Roma-Minderheit in Ungarn. Ein großer Teil der 6-700.000 Roma lebt in Slums und hat kaum Chancen, Arbeit zu finden oder Zugang zu einer besseren Ausbildung. Der Zusammenbruch der Industrie hat gerade die Roma besonders betroffen und sie weiter auf den Boden der Gesellschaft gedrückt. Vier von fünf Roma haben keinen Job. Jobbik und andere rechtsextreme und faschistische Gruppen kombinieren ungarischen Nationalismus mit brutaler anti-“Zigeuner“ Rhetorik. Sie versuchen, die verarmte Roma-Minderheit für die steigende Kriminalität verantwortlich zu machen, indem sie Horrorgeschichten über ihre hohen Geburtenraten und die Gefahr einer „demographischen Katastrophe“ zeichnen. Aber sie beschränken sich nicht auf Propaganda, sondern setzen auf Drohungen und Einschüchterung. Die Zunahme von brutalen Angriffen gegen Roma steht in direktem Zusammenhang mit den Aktivitäten und der Politik von Jobbik und der Ungarischen Garde.
Neben Jobbik gibt es auch noch eine Reihe anderer faschistischer Organisationen die sich selbst in der Tradition der Pfeilkreuzler präsentieren – jener faschistischen Organisation, die eng mit Hitlers Drittem Reich verbunden war und die verantwortlich für das Terrorregime unter dem Nazi-Kollaborateur Szalsi war.
Alle Teile der Rechten in Ungarn setzen auf die Propaganda von „Wir Ungarn“ gegen „Die Anderen“ - Jüdinnen und Juden, Roma, Homosexuelle. Während Jobbik eine klar neofaschistische Organisation ist, ist Fidesz viel schwieriger zu charakterisieren. Orbán ist zwar der Vizevorsitzende der “Europäischen Volkspartei”, doch Fidesz ist keine klassische, westeuropäische „konservative“ Partei. Fidesz und Orbán distanzieren sich höchst selten von rassistischer, antisemitischer und faschistischer Propaganda bzw. Aktionen. Im Gegenteil, Orbán setzt immer wieder auf Formulierungen, die nicht nur zur Jobbik, sondern sogar zu den Pfeilkreuzlern passen würden. Die Orbán nahestehenden Medien setzen ebenfalls auf aggressive rassistische und antisemitische Rhetorik. Ein Sohn des Chefredakteurs von Orbáns Lieblingszeitung “Magyar Demokrata” ist in der Ungarischen Garde.
Es ist offensichtlich, dass es Verbindungen zwischen Fidesz und Jobbik gibt. Einerseits sind viele der Vorschläge von Fidesz so rechts, dass Jobbik keinerlei Probleme damit hat, sie zu unterstützen. Andererseits setzt Fidesz Jobbik als Stoßtruppe ein, während sie gleichzeitig beunruhigt ist, dass die Entwicklung zu weit gehen könnte. Als im Jahr 2006 die Massen die Budapester Fernsehzentrale stürmten, organisierte Fidesz zu Beginn Busse, um ihre UnterstützerInnen nach Budapest zu den Protesten zu bringen. Aber als der Einfluss der organisierten FaschistInnen immer offensichtlicher wurde, und die Gefahr bestand, dass die ganze Bewegung außer Kontrolle geraten könnte, zog sich Fidesz zurück und konzentrierte sich auf die kommenden Wahlen. Es ist offensichtlich, dass die Situation gefährlich ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Fidesz, wenn sie aufgrund der Angriffe auf den Lebensstand der ArbeiterInnenklasse an Unterstützung verliert, versucht, mit einem weiteren Rechtsruck zu verhindern, dass Jobbik ihr einen Teil der WählerInnen abspenstig macht. Bereits jetzt versucht Jobbik, von der wachsenden Enttäuschung zu profitieren und kritisiert Fidesz dafür, nicht hart genug aufzutreten.
2010 ist sehr deutlich geworden, wie Fidesz arbeitet. Es kam zu einer Einschüchterungs- und Hetzkampagne gegen den liberalen Autor Paul Lendvai und sein neues Buch, in dem er sich kritisch gegenüber Jobbik und Fidesz äußert. Es kam zu Aktionen gegen einige Veranstaltungen mit dem Autor in der Schweiz und in Deutschland und mit dem Mittel der Einschüchterung wurde versucht, die Abhaltung der Veranstaltungen zu verhindern. Das zeigt, dass Fidesz die Methoden der extremen Rechten einsetzt. Allerdings scheint es auch, als ob offizieller „diplomatischer“ Druck von ungarischer Seite genutzt wurde, um zu erreichen, dass eine Veranstaltung, die in der österreichischen Botschaft in Deutschland geplant war, abgesagt wurde.
Der Einfluss von RassistInnen und der extremen Rechten im Staatsapparat ist weit fortgeschritten. Während antifaschistische Mobilisierungen mit Einschüchterungsversuchen von Seiten der Polizei konfrontiert sind (die Polizei behauptet einfach, sie könne die Sicherheit von AntifaschistInnen nicht gewährleisten) marschieren Rechtsextreme und FaschistInnen offen. Das spiegelt auch den starken Einfluss der extremen Rechten und von faschistischen Kräfte in der Polizei wieder. Ca. 5.500 PolizistInnen (etwa 10% der gesamten Polizeikräfte) sind in einer speziellen Polizeistruktur der Jobbik. Die wachsende staatliche Repression wurde auch deutlich, als eine Demonstration von EinwohnerInnen von Kolontár verboten wurde, die staatliche Unterstützung verlangten, weil sie durch die Rotschlammkatastrophe alles verloren hatten.
Auch die Art und Weise, wie Gesetze gegen Roma eingesetzt werden, ist ein weiteres Beispiel für den rassistischen Charakter des Orbán-Regimes. Paragraph 174/B des bürgerlichen Gesetzbuches soll gegen jene eingesetzt werden, die „Gewalt gegen die Gemeinschaft“ ausüben. Ursprüngliches Ziel des Gesetzes war es, gegen rassistische Angriffe benützt zu werden. Nun zeigt sich allerdings in der konkreten Anwendung, dass es keine universellen Rechte in einer kapitalistischen Gesellschaft gibt. Gesetze können - je nach dem Kräfteverhältnis in der Gesellschaft - sehr unterschiedlich interpretiert und zum Nutzen unterschiedlicher Gruppen eingesetzt werden. Roma in Miskolc hatten sich, als es nur zwei Wochen nach den rassistischen Morden in Tatárszentgyörgy auch noch zur Androhung weiterer faschistischer Attacken kam, in Selbstverteidigungsgruppen organisiert. In ihrer Angst attackierten sie unglücklicherweise die völlig unschuldigen Insassen eines Autos. Zwei wurden dabei leicht verletzt. Während nun die faschistischen Schläger und Mörder weiterhin frei herumlaufen, wurden elf Roma verhaftet und zu einer Gesamtstrafe von 41 Jahren verurteilt – mit dem Argument der „rassistisch motivierten Gewalt“.
Der autoritäre Charakter von Fidesz zeigt sich immer häufiger. Als Orbán 1998 zum ersten Mal an die Macht kam, machte er rasch klar, dass er die Beschränkungen der bürgerlichen Demokratie als lästig empfand. Unter seiner Herrschaft wurde die Bedeutung des Parlaments eingeschränkt und im Jahr 2010 veränderte er das Wahlgesetz derartig, dass es nun für kleinere Parteien weit schwieriger geworden ist, zu kandidieren. Um z.B. für den Budapester Gemeinderat zu kandidieren, muss eine Partei nun innerhalb von nur 15 Tagen 26.000 gültige Unterschriften sammeln.
Fidesz ist eine Ein-Mann-Show unter der Führung von Orbán. Das letzte Jahrzehnt hat er damit zugebracht, ein Medienimperium aufzubauen. Heute kontrollieren seine FreundInnen und UnterstützerInnen große Teile der Printmedien, des Fernsehens und Radios. Das hat dazu geführt, dass KommentatorInnen nicht nur Vergleiche zwischen Orbán und Horthy aufgrund von ideologischen Überschneidungen und des autoritären Stils ziehen, sondern auch mit Berlusconi wegen der Kontrolle über die Presse.
Die jüngste Attacke auf die Pressefreiheit in Form des neuen Mediengesetzes markiert eine neue Qualität in Orbáns weitreichender Kontrolle über die Medien. Eine neue Medienkontrollbehörde (NHHM), die ausschließlich mit Fidesz-Leuten besetzt ist, hat de facto Zensuraufgabe. Strafen von bis zu 700.000 Euro sollen oppositionelle Stimmen zum Schweigen bringen. Quer durch alle Medien findet ein brutaler Säuberungsprozess statt. Auf allen Ebenen – vom Management bis zum Putzpersonal – werden Beschäftigte durch Fidesz-AnhängerInnen ersetzt. In Zusammenhang damit steht auch ein weiteres neues Gesetz, das die Kündigung von Öffentlich Bediensteten auch ohne Grund erleichtert.
Das ungarische Regime hat heute starke autoritäre Elemente. Der Prozess ist allerdings noch nicht so weit fortgeschritten wie in den noch weiter östlich liegenden Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es wäre falsch, Ungarn zum momentanen Zeitpunkt eine Diktatur zu nennen. Sogar die zentralasiatischen Republiken müssen als Feigenblatt für ihren autoritären Charakter den Schein von Wahlen und Parlamenten aufrecht erhalten. Aber Ungarn muss als EU-Mitgliedsstaat an zentralen Elementen einer parlamentarischen Demokratie festhalten. Es ist eine offene Frage, wie weit sich die autoritären Züge weiter entwickeln können. Es ist absolut möglich, dass die rechten Kräfte in der Gesellschaft angesichts von harten Schlägen einer neuen wirtschaftlichen oder sozialen Krise versuchen, ihre Herrschaft zu stärken – insbesondere bei dem Versuch, Proteste zu unterbinden. Allerdings können die zunehmend repressiven Maßnahmen auch Reaktionen provozieren. Bei Demonstrationen wird dann nicht nur Gerechtigkeit in wirtschaftlichen und sozialen Fragen gefordert, sondern auch die Verteidigung demokratischer Rechte wird dann ein zentrales Thema.
Die ungarische ArbeiterInnenklasse hat noch nicht gesprochen
Im April 2010 gelangte Fidesz mit einem Erdrutschsieg an die Macht. Sie erhielt 2/3 aller Sitze im Parlament. Dieser Wahlerfolg ist das Ergebnis der Enttäuschung mit den MSZP-Regierungen in weiten Teilen der Bevölkerung und das Ergebnis des Fehlens einer linken Alternative. Wir sehen aber, wie auch in anderen Ländern, dass WählerInnenstimmen für rechtsextreme oder auch faschistische Organisationen nicht unbedingt einen Rechtsruck in der Gesellschaft bedeuten, sondern oft mehr das Ergebnis von Frust und dem Wunsch nach grundlegenden Veränderungen reflektieren.
Für die überwältigende Mehrheit der Fidesz-Sitze im Parlament benötigte diese nur knapp über 50% der Stimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 64% bedeutet dass, dass nur knapp ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung tatsächlich für Fidesz gestimmt hat. Das spiegelt die wütende, aber v.a. auch verwirrte Stimmung in der Gesellschaft wieder.
Anfang der 1990er Jahre gab es in großen Teilen der Bevölkerung Illusionen in „Marktwirtschaft“ und Kapitalismus – diese Illusionen sind heute verschwunden. Drei von vier ungarischen Jugendlichen meinen z.B., dass es einen neuen „Systemwechsel“ geben könnte. Sie sind für die Wieder-Verstaatlichung der wichtigsten Unternehmen und fordern, dass jene für die Krise zahlen sollen, die für sie verantwortlich sind.
Doch zur Zeit haben diese Ideen heute keine Organisation, durch die sie sich ausdrücken können. Trotz seiner nationalistischen pseudo anti-kapitalistischen Rhetorik zeigt die Politik von Orbán, dass er zu 100% ein kapitalistischer Politiker ist. Obwohl er seine Ziele hinter populistichen Maßnahmen versteckt, unterscheidet sich sein Wirtschaftsprogramm nicht wesentlich von jenen früherer Regierungen. Zur Zeit versucht er wohl, v.a. die Wirtschaftskrise zu ignorieren und zeichnet ein rosiges Bild der Zukunft. Z.B. gehen die Wirtschaftsprognosen von Fidesz von einem weit höheren Wachstum aus, als die Einschätzungen der EU und internationaler Institutionen. Schon in der Vergangenheit konnte mensch solchen Vorhersagen nicht vertrauen. Und nun ist offensichtlich, dass Orbán ganz bewusst das Potential für Wachstum zu hoch angibt. Und wer es wagt, seine Zahlen in Frage zu stellen, wird von seinem/ihrem Posten entfernt und Kontrollbehörden werden einfach geschlossen.
Anfang 2011, als Ungarn den EU-Vorsitz übernahm, gab es aus einer Reihe von EU-Mitgliedsstaaten Proteste und Kritik wegen des neuen Mediengesetzes in Ungarn. Es ist ganz klar, dass dieses Gesetz die Pressefreiheit ernsthaft beschneidet. Tatsächlich steckt aber hinter der Sorge von Teilen der EU um demokratische Rechte (die sich in anderen Ländern herzlich wenig darum kümmert) etwas ganz anderes: nämlich die tiefe Sorge um die wirtschaftliche Zukunft von Ungarn, seine Stabilität und damit die Sicherheit der Investitionen aus dem Westen. Ganz besonders gilt ihre Sorge der speziellen „Krisensteuer“, die für Handelsunternehmen, Telekommunikationsunternehmen, Energiekonzerne und Banken gilt, und speziell ausländische Firmen betrifft. Orbán nennt die Krisensteuer „Neues System“, weil, so argumentiert er, es nach 2011 keine Krise gibt. Es ist eine v.a. populistische Maßnahme, die allerdings zusätzliche Steuereinnahmen von rund 1% des BIP des Budgets bringt. Zentrales Ziel ist es, der ungarischen Bevölkerung zu demonstrieren, dass er gegen das „internationale Kapital“ aufsteht. Tatsächlich ist die Steuer aber relativ gering und es geht v.a. Darum, von den enormen Kürzungsplänen abzulenken, die nun umgesetzt werden sollen.
Begleitet wird das Säbelrasseln gegen EU und IWF von weitreichenden neoliberalen Angriffen auf den öffentlichen Sektor und die ArbeiterInnen. Konkret geht es u.a. um „strukturelle Reformen“ (also Kürzungen) bei den Pensionen, Gesundheit, Regionalverwaltungen und dem Öffentlichen Verkehr. Die Regierung argumentiert, dass „Tabus gebrochen werden müssen“ (d.h., dass es sehr tief greifende Kürzungen geben soll). Die IWF-Delegation hat das Budget „mutig aber riskant“ genannt. Das alles findet vor einem historisch niedrigen Beschäftigungsgrad statt. Die Einkommensschere öffnet sich weiter und von der neuen Flat-Tax profitieren nur die Wohlhabenden. 700.000 Menschen können ihre Schulden nicht mehr bezahlen und mit Ende 2010 kam es zu weiteren Einschnitten bei den Realeinkommen.
Veränderungen in der Verfassung machen es jetzt auch möglich, Steuern im Nachhinein einzuführen. Und während es lautstarke internationale Proteste gegen die „Krisensteuer“ gibt, wird nicht erwähnt, dass künftig auch alle öffentlichen Ausgaben im Nachhinein besteuert werden können – das gilt auch für Pensionen, die Löhne im Öffentlichen Sektor und Sozialleistungen. Für die ArbeiterInnenklasse entsteht dadurch eine enorme Unsicherheit. Die Regierung setzt darauf, große Teile der ArbeiterInnen, insbesondere im Öffentlichen Sektor, einzuschüchtern. Ganz nach dem Motto: „Wer protestiert kriegt die Sondersteuer drauf“. Aber es ist gut möglich, dass diese Angriffe zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Unruhen und sozialen Explosionen führen können.
Manche westlichen KommentatorInnen bezeichnen einige der Maßnahmen von Orbán wie die Wieder-Verstaatlichung der Pensionen als „links“. Doch an diesen Maßnahmen ist nichts links oder sozialistisch. Vielmehr geht es der Regierung darum, Zugriff auf die geschätzten 12 Milliarden Euro zu bekommen, die in den privaten Pensionsfonds liegen. Dieses Geld im Ausmaß von rund 10% der gesamten ungarischen Wirtschaftsleistung wird ins Budget fließen und wohl auch verwendet werden. 1997 wurden die ArbeiterInnen, denen dieses Geld gehört, gezwungen, ihr Geld in private Pensionsfonds zu stecken. Ob bzw. wie sie dieses Geld überhaupt als Pensionen bekommen darf hinterfragt werden. Auch das kann ein Brennpunkt für künftige Proteste werden.
Jene Maßnahmen von Orbán, die von westlichen KommentatorInnen zurückgewiesen werden, sind nichtsdestotrotz kein wirklicher Bruch mit pro-kapitalistischer Politik: die Besteuerung von großen und internationalen Unternehmen wie auch die Wiederverstaatlichung sind Maßnahmen, die gerade in Krisenzeiten typisch sind für autoritäre kapitalistische Regimes. Und obwohl das CWI keinerlei Sympathie für Orbán hat, so zeigen diese Schritte doch in gewissem Sinne auch, was eine linke, sozialistische Regierung im Interesse der ArbeiterInnenklasse tun könnte.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es offen, wie sich Ungarn weiter entwickeln wird. Ausgeschlossen ist, dass Orbán die sozialen Probleme lösen kann. Es ist auch höchst unwahrscheinlich, dass er sein Versprechen, 400.000 neue Jobs zu schaffen, einhalten wird. Die neue Flat-Tax nützt nur den reichsten 20%. Und auch trotz all seiner Rhetorik gegen IWF und EU wird Orbán doch weiterhin die Kredite zurückzahlen und will die ArbeiterInnenklasse dafür zahlen lassen.
Auch wenn die ArbeiterInnenklasse ein schlafender Riese ist, der die Bühne noch nicht betreten hat, gibt es doch Anzeichen dafür, dass die ungarischen ArbeiterInnen schon recht bald ihren KollegInnen in anderen Ländern folgen werden, die gegen die Kürzungspläne ihrer Regierungen kämpfen. Doch die Situation in den Gewerkschaften ist alles andere als gut: sie sind überaltert und es gibt kaum Jugendliche. Der Organisationsgrad ist in den letzten Jahren auf knapp über 10% gesunken. Und die meisten Gewerkschaften stehen in einem Naheverhältnis zur MSZP und haben in der letzten Periode keine Proteste organisiert. Und doch zeigen die Streiks bei den Budapester Verkehrsbetrieben zu Beginn des Jahres 2010 sowie die Streiks und Proteste im Öffentlichen Sektor, bei der Fluglinie Malev sowie auf regionaler Ebene und die Warnstreiks in einer Reihe von Sektoren, was ArbeiterInnen erreichen können, wenn sie entschlossene Aktionen setzen. Die Verkürzung der Schulpflicht hat zu heftiger Gegenwehr der LehrerInnengewerkschaft geführt. Auch die Proteste der ArbeiterInnen der Hankook Fabrik in Dunaújváros zeigen auch, was passiert, wenn ArbeiterInnen die Geduld verlieren.
Nicht vergessen werden dürfen auch die kämpferischen bzw. die sozialistischen und kommunistischen Traditionen der ungarischen ArbeiterInnenklasse. Dazu gehört die ungarische Räterepublik im Jahr 1919 und der Kampf gegen den Faschismus in der Periode vor der stalinistischen Machtergreifung. Dazu gehört aber auch der heroische Ungarnaufstand im Jahr 1956 gegen Stalinismus und für echten Sozialismus. Auch heute noch sind diese Traditionen im Bewusstsein von Jugendlichen zumindest teilweise verankert. Bei den Protesten 2006 wurde, bevor die extreme Rechte dominant wurde, immer wieder positiv auf die anti-stalinistische ArbeiterInnenrevolution von 1956 Bezug genommen.
Die wichtigsten Gewerkschaften und der Europäische Gewerkschaftsbund organisieren am 9. April anlässlich des Treffens der EU-Finanzminister in Budapest eine Demonstration gegen die Kürzungspolitik. Wenn das richtig organisiert wird, kann es dabei helfen, das Ruder herumzureißen und den Widerstand gegen die reaktionäre Politik von Fidesz und seiner neofaschistischen Bündnispartner zu beginnen. Auf dieser Demonstration darf es keinen Raum für Rassismus geben. Um die Kürzungspolitik zurückschlagen zu können, braucht es den gemeinsamen Kampf all jener, die darunter leiden. Im Kampf für Jobs, ordentliche Löhne und für Pensionen für alle braucht es die Einheit von ungarischen ArbeiterInnen und solchen mit einem Roma-Background, von Jugendlichen und Arbeitslosen.
Die Forderung der Gewerkschaften für ein „soziales Europa, faire Löhne und gute Jobs“ ist in Wirklichkeit ziemlich abstrakt. Um diese Forderung mit Leben zu erfüllen muss mensch viel konkreter werden. Das CWI fordert die Rücknahme der Flat Tax. Die Steuerlast soll auf die Schultern der Reichen und Großunternehmen verlagert werden. Ungarn soll die Rückzahlung der Kredite an die internationalen Finanzinstitute und Banken verweigern und das gesparte Geld verwenden, um Jobs zu schaffen, um den Sozialstaat aus- und nicht abzubauen und um ordentliche Wohnungen für alle zu gewährleisten.
Bei den letzten Wahlen hat sich das Potential für eine fortschrittliche linke Kraft gezeigt. Die Grünen mit ihrer „Politik kann anders sein“ Partei erhielten 7,5% der Stimmen. Die LMP, wie auch die MSZP und die Liberalen greifen Themen wie Rassismus, den Abbau demokratischer Rechte und das Wachstum der extremen Rechten auf. Und angesichts des Vakuums auf der Linken können sie rund um diese Themen auch Unterstützung bekommen. Aber sie haben keine Antworten, keine Lösungen, weil sie nicht an die Wurzel der Probleme gehen. Anstatt ein Programm vorzuschlagen, das wirklich gegen Arbeitslosigkeit, Hungerlöhne und die sich ständig verschlechternde soziale Situation kämpft – alles Probleme die die extreme Rechten zum Aufbau nutzt – schlagen sie nur das Verbot von Jobbik und anderen rechtsextremen/faschistischen Gruppen vor.
Es ist notwendig, dass Linke, dass echte SozialistInnen und die ArbeiterInnenbewegung an der Spitze der Kämpfe gegen die Angriffe auf demokratische Rechte und gegen den Rechtsextremismus stehen. Und es ist absolut notwendig, den Zusammenhang zwischen diesen Fragen und den ernsten sozialen Problemen im Land aufzuzeigen und eine echte demokratische sozialistische Alternative zu dem Horror, den das kapitalistische System erzeugt hat, aufzuzeigen.
Zweifellos war es für echte MarxistInnen in der letzten Periode schwierig, in Ungarn zu arbeiten. Die brutale Niederschlagung der Revolution von 1956 durch stalinistische Panzer, der Übergang zum Kapitalismus unter der Regie der selben Bürokraten, die vorher noch behauptet hatten, KommunistInnen zu sein und die Korruption der angeblich „sozialistischen“ MSZP-Apologeten des Marktes hat bestenfalls zu enormen Verwirrungen unter ArbeiterInnen geführt. Die Gewerkschaftsbewegung muss sich von den beschämenden Traditionen der Staatsgewerkschaften während der „sowjetischen Ära“ befreien. Sie hatten nicht die Aufgabe, die Rechte der ArbeiterInnen zu verteidigen, sondern waren vielmehr Instrumente des stalinistischen Staates sowie der Betriebsleitungen, um jeden Versuch von Selbstorganisierung der ArbeiterInnen zu verhindern.
Sowohl in den traditionellen, als auch in den neuen Gewerkschaften werden große Veränderungen nötig sein, um diese in echte demokratische Kampforganisationen der ArbeiterInnenklasse zu verwandeln. Es reicht dabei nicht, sich auf den Europäischen Gewerkschaftsbund zu verlassen, da die Gewerkschaftsbürokratie eng verbunden ist mit den sozialdemokratischen Parteien, die ihrerseits verantwortlich sind für massive Kürzungen in den jeweiligen Ländern. Auch in Ungarn spitzt sich die Lage zu und es wird, wie in vielen anderen Ländern, zu starken Bewegungen der ArbeiterInnen kommen. Eine solche Bewegung kann erfolgreich sein und die Rechte der ArbeiterInnen effektiv verteidigen, wenn die zentralen Forderungen die bedingungslose Opposition zu allen Kürzungen bei Jobs, Löhnen und Sozialausgaben sind.
Viele Liberale und Linke haben Ungarn aufgegeben und meinen, es sei an die extreme Rechte gefallen. Das CWI stimmt dem nicht zu. Die mächtigste Kraft in der ungarischen Gesellschaft – die ArbeiterInnenklasse – hat die Bühne bisher noch gar nicht betreten. Es ist unvermeidlich, dass in der Zukunft Kämpfe um eine Reihe verschiedener Fragen – für demokratische Rechte, gegen Rassismus und Antisemitismus – entstehen werden. Die ArbeiterInnenklasse wird immer weniger die Wahl haben und muss sich gegen die Angriffe von Orbán auf Rechte und Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse verteidigen.
Dabei wird auch die Notwendigkeit einer Alternative zum neuen kapitalistischen Ungarn aufgeworfen werden. Die Privatisierungen müssen gestoppt und stattdessen müssen zentrale Bereiche der Wirtschaft und die Banken wieder verstaatlicht werden. Aber sie dürfen nicht wie in der Vergangenheit durch eine Staatsbürokratie geführt werden, sondern wie es die ArbeiterInnen auch 1956 verlangten, unter der Kontrolle und Verwaltung von demokratisch gewählten ArbeiterInnenkomitees stehen. Nur so ist es möglich, dass die Wirtschaft im Interesse von allen, und nicht einer kleinen Minderheit, geplant wird. Ein solcher Prozess findet natürlich nicht in einem Land isoliert statt, sondern wird Teil einer Bewegung auch in anderen EU-Staaten sein, den Kapitalismus zu beenden und auf demokratischer Grundlage die vereinigten sozialistischen Staaten von Europa zu errichten.
SozialistInnen müssen sich auf diese Kämpfe vorbereiten, ein Programm und Forderungen entwickeln, die Antworten auf die brennenden sozialen Fragen geben und so die Basis für Jobbik, Fidesz und andere untergraben. Das CWI möchte jede mögliche praktische Unterstützung in dieser Entwicklung leisten.