Moral und Gewalt in der Politik

Trotzki aktuell wie nie zuvor
Franz Breier jun.

Das im Klampen-Verlag neu aufgelegte Buch “Politik und Moral” (ISBN 392425991) umfasst vier Texte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es handelt von einer Auseinandersetzung in der sozialistischen Bewegung, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.
Der Autor von “Terrorismus und Kommunismus” (1919), Karl Kautsky, verfasste bis zum 1. Weltkrieg wichtige Beiträge für die Bewegung. Da Kautsky mit der Sozialdemokratie eng verbunden war, folgte er leider genauso ihrem Bankrott angesichts von Krieg, Krise und aufkommendem Faschismus. Leo Trotzki, vertreten mit 2 Texten, war Revolutionär, der bis zu seinem Lebensende gegen den Stalinismus und für ArbeiterInnen-Demokratie kämpfte.  Ihm sowie Lenin warf Kautsky vor, die Revolution 1917 mit Gewalt geführt und damit eine grundlegende Moral gebrochen zu haben. Diese “absolute Moral” hält Kautsky dem Argument Trotzkis entgegen, dass Moral eine Frage von sozialen und Klasseninteressen sei. Zu den Konsequenzen einer angeblich absoluten Moral schreibt Trotzki: “Eine Moral über den Klassen führt unvermeidlich ... zur Anerkennung von irgendetwas Absolutem, was nichts anderes ist als das philosophisch-feige Synonym für Gott.” (aus: “Ihre Moral und unsere”, 1938)
Die Philospohie des Marxismus ist der “dialektische Materialismus”. Die Dialektik ist dabei jene Form des Denkens, die alle Erscheinungen und Dinge in ihrer Bewegung, ihrem Entstehen und Vergehen sowie ihrer Widersprüchlichkeit begreift. Diese Herangehensweise erlaubt es Trotzki, “absolute Moral” als etwas sehr Instabiles zu begreifen: “Aber existieren denn keine elementaren moralischen Vorschriften, die sich in der Entwicklung der Menschheit als integraler Bestandteil ... herausgebildet haben? Solche Vorschriften existieren unzweifelhaft, aber ihr Aktionsradius ist äußerst begrenzt und unstabil. Je schärferen Charakter der Klassenkampf annimmt, desto wirkungsloser werden die Normen, die “für alle bindend sind.””
Trotzki wies nach, dass jeder gesellschaftliche Fortschritt sich mittels Gewalt bahnbricht oder besser gesagt gezwungen ist, gegen die Gewalt der Herrschenden Vorkehrungen treffen zu müssen. Eine ernsthafte Beurteilung von Gewalt ist unmöglich, ohne ihre Rolle in der geschichtlichen Entwicklung zu sehen. Z.B. bei der Durchsetzung bürgerlicher Besitzverhältnisse und der parlamentarischen Demokratie. In der Großen Französischen Revolution wandten alle gesellschaftlichen Kräfte Gewalt und Terror an. Die Gewalt des Adels und Teilen des Bürger- und Beamtentums richtete sich gegen den Fortschritt, während die besten Teile des Bürger- und Kleinbürgertums (u.a. die “Jakobiner”) die Grundlage für die moderne Gesellschaft und Wirtschaft legten. Was für das bürgerlich-kapitalistische System gegenüber dem Mittelalter gilt, gilt das nicht auch für die Epoche des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus?
Die Oktoberrevolution 1917 beendete den damals größten Gewaltausbruch (Weltkrieg), in dem auf ihr Drängen ein Separatfriede geschlossen wurde. Die Umgestaltung der Gesellschaft warf jedoch viele Probleme auf. Es kam zum offenen BürgerInnen-Krieg. Kautsky wies die Verantwortung für die Exzesse, die aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft hervorgingen, jenen zu, die sie bekämpften – den Bolschewiki. So war in den Augen Kautskys die Verteidigung des ersten ArbeiterInnen-Staates der Weltgeschichte durch die Sowjetregierung gegenüber 14 einfallenden Armeen imperialistischer Staaten und der inneren Sabotage bloßer “Terror”. Er setzte seine Hoffnung auf eine ruhige Evolution der “Demokratie”. Doch diese bürgerliche Demokratie konnte angesichts der Krise nicht mehr bestehen. Es war eine wesentliche Voraussetzung für den Sieg des Faschismus, dass die sozialdemokratischen Führer in den Industrieländern die Revolution ablehnten.
Der Dritte, der an dieser “Diskussionsrunde” teilnimmt, ist John Dewey. Einer größeren Öffentlichkeit wurde er als Leiter der “Dewey-Kommission” bekannt. Diese widerlegte 1937/38 die Anklagen des Stalinismus gegenüber Leo Trotzki. Als führender Reformpädagoge stellte Dewey das Ziel der “Selbstverwirklichung” des Kindes auf, durch das eine Grundlage des neuen sozialistischen Menschen geschaffen würde. Doch Dewey war kein Marxist, kein “dialektischer Materialist”. “Unakzeptabel im Rahmen von Deweys radikalem Liberalismus ist nicht die Anwendung von Gewalt generell, sondern ihre Legitimierung durch eine Geschichtsphilosophie, die den Klassenkampf als das einzige Mittel sozialer Konfliktlösung und gesellschaftlichen Fortschritts ausweist.”, so der Literaturkritiker Mechlenburg über Deweys Beitrag. Deweys Ansätze wurden von den Interessen des Imperialismus in der Periode des “Kalten Krieges” beiseite gewischt. Die Herrschenden konnten es sich nicht leisten, Kinder sich frei entfalten zu lassen. Der Militär-Apparat hatte auch in der Bildung das Sagen. Der Klassenkampf als “das einzige Mittel sozialer Konfliktlösung” setzte sich von der anderen Seite durch.

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