Mi 28.10.2020
Spricht man mit Arbeiter*innen über die Gewerkschaftsführung, wird diese oft - und oft zu Recht - als „die da oben“, die es sich selbst irgendwie richten und die Beschäftigten verkaufen, angesehen. Doch warum verhält sich die Gewerkschaftsführung so wie sie es tut? Anstatt Charakterschwäche einzelner stellt das Arrangieren der Gewerkschaften mit dem kapitalistischen System das Hauptproblem dar. Gewerkschaften stehen in unmittelbaren betrieblichen Auseinandersetzungen – sei es um Löhne, Arbeitszeit, oder Arbeitsbedingungen und vor dem Hintergrund der Krise auch gegen Arbeitsplatzabbau und andere Verschlechterungen. Hierbei liegt aber auch das Problem, welches Gewerkschaften haben: Sie kämpfen unmittelbar für Verbesserungen innerhalb des Systems. Ohne tiefer gehende Analyse des Kapitalismus und Perspektive außerhalb desselben, bleibt aber nur die Illusion, die Probleme von Arbeiter*innen könnten im Kapitalismus gelöst werden. Die sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften Österreichs stellen hierfür ein gutes Beispiel dar, die schon mit Ende des 19. Jahrhunderts dem Kurs der Sozialdemokratie folgten und immer stärker auf Reformen setzten, den Kapitalismus aber zunächst de facto und später auch offiziell verteidigten (was sich in der Begeisterung für „Keynesianismus“ ausdrückt).
Diese Ideologie hatte in einer Schicht materiell begünstigter Funktionär*innen, welche persönlich kein Interesse an der Überwindung des Systems mehr hatten, auch eine sehr materielle Basis. Nach 1945 verschrieben sich SPÖ und ÖGB dem Wiederaufbau des Kapitalismus. Gewerkschaftsführer*innen verstehen sich bis heute als Vermittler*innen zwischen Unternehmen und Arbeiter*innen. Letztere wurden so ihrer Kampforganisationen beraubt und sollten durch Krümel abgespeist werden.
Mit einer derartigen Politik geraten Gewerkschaften in einen Widerspruch: Verbesserungen sollen in einem Wirtschaftssystem aufrechterhalten werden, welches sie aufgrund der Profitlogik nicht dauerhaft dulden kann. Wer in der Logik des Kapitalismus denkt und agiert, landet letztlich bei „Sachzwängen“, „Standortlogik“ und stimmt Verschlechterungen zu. Dass sich Beschäftigte deswegen unabhängig von der Gewerkschaftsführung und teilweise sogar unabhängig von den Gewerkschaften organisieren, ist verständlich und begrüßenswert. Doch wäre es ein Fehler, den Gewerkschaften komplett den Rücken zu kehren. Die von Lenin in „Der Linke Radikalismus“ verwendete Formulierung: „Die Gewerkschaften … sind aber gerade Organisationen, die Massen erfassen“ ist nach wie vor gültig. Sozialist*innen müssen dies aufgreifen und dürfen die Gewerkschaften und ihre Mitglieder nicht der Gewerkschaftsbürokratie überlassen, sondern müssen diese wieder zum Kampfmittel der Arbeiter*innenklasse machen. Kämpferische und demokratische Gewerkschaften müssen letztlich auch betriebliche Forderungen mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbinden.
- Zum Weiterlesen: Wladimir Iljitsch Lenin, „Linker Radikalismus“. Die Kinderkrankheit im Kommunismus