Di 01.12.1998
Präsident Jelzin empfing Ende November den chinesischen Präsidenten Jiang Zemin - an seinem Krankenbett. Dieses Bild ist bezeichnend für Rußland. Es fehlt dem Land Arbeit, Essen und eine politische Kraft, die den Ausweg zeigt.
In Meinungsumfragen hält Jelzin gerade noch bei 1 % Unterstützung, Vertrauen in den Staat haben nur noch 14 %. Im Bewußtsein der Massen wird immer klarer, daß die Krise im August auch mit der Politik des IWF zusammenhängt, die anfänglichen Illusionen in den kapitalistischen Markt sind dahin. So manch bürgerlicher Kommentator erkennt, daß der Kapitalismus in Rußland für den Kapitalismus weltweit enorme Gefahren birgt.
Bezeichnend ist die Schlagzeile einer großen Moskauer Tageszeitung: „Die Regierung hat noch immer kein Wirtschaftsprogramm - sie verspricht es für nächste Woche!“
Wahrscheinlich sind in der kommenden Zeit auch „Albanische Verhältnisse“. Der Unterschied: In Albanien waren es private mafiöse Verbrecher und ein Teil der Politiker, die die Leute um ihr Geld betrogen, in Rußland ist es vor allem die Regierung selbst. Dabei machen die „Staatsanleihen“ nur einige Millionen Dollar aus. Viel schwerer wiegt der Lohnauszahlungsstopp. Während Löhne teilweise seit weit über einem Jahr ausstehen, verschwendete Jelzin 30 Milliarden Dollar, um seinen letzten Wahlsieg zu finanzieren.
Heute ist Jelzin für die Bourgeoisie nicht mehr länger von Vorteil. Entweder ist er besoffen oder er liegt im Spital. Wer aber an seine Stelle treten soll, ist noch unklar. Da gäbe es Premier Primakow, der aus der Sichtweise der Bourgeoisie „vertrauenswürdig" wäre. Auf General Lebed wird wohl (noch) weniger gesetzt, ist dieser doch zu unberechenbar und könnte den Interessen von Teilen der herrschenden Elite im Weg stehen. Ein Militärputsch seinerseits ist zwar denkbar, praktisch aber aufgrund des Chaos in und damit der Schwäche der Armee kaum möglich. Luschkow, Oberbürgermeister von Moskau wurde des öfteren als Kronprinz gehandelt. Aber auch er hat mit Problemen zu kämpfen: Erstens befindet sich auch Moskau nun voll in der Krise, zweitens stützt er sich ebenfalls auf Mafia-Kreise. Luschkows Hauptstoßrichtung bei den kommenden Wahlen wird, wie die seiner Kontrahenten, der großrussische Chauvinismus sein, der allgemein im Aufwärtstrend liegt.
Die Korruption ist fixer Bestandteil des Alltages: Sobald jemand auch nur die Vermutung über Korruption innerhalb des Parlaments äußert, steht er auf der Todesliste. Politische (Auftrags)Morde stehen auf der Tagesordnung. Letzter Höhepunkt war die Ermordung der Abgeordneten Starowoitowa, Vorstandsmitglied der radikal-kapitalistischen Organisation „Demokratisches Rußland“ und frühere Jelzin-Beraterin.
Ein Sprecher der Duma (Parlament) meinte, es bestehe die „Gefahr, daß Banditen die Macht ergreifen“. Nur das ist eben schon längst der Fall. Der Staat ist die Mafia, die Mafia ist der Staat!
Die Rolle der KP
Das entscheidende Problem, das die ohnehin trostlose Situation für die ArbeiterInnenschaft noch schlimmer macht, ist das Fehlen einer ArbeiterInnenpartei. Es gibt in Rußland keine annähernd linke Partei in größerem Umfang.
Die „Kommunistische“ Partei der russischen Föderation, stärkste Fraktion in der Duma, ist weder eine linke noch eine ArbeiterInnenpartei, noch Opposition. Sie vereint die reaktionärsten Elemente der ehemaligen stalinistischen Bürokratie. Das sind vor allem jene Teile, die in der Privatisierungswelle 1990 leer ausgegangen sind.
Antisemitische KRPF
Die KPRF ist von rechtsextremen bürgerlichen Kräften nur schwer zu unterscheiden. Das wohl deutlichste Beispiel ist die antisemitische Hetze führender KPler vor wenigen Wochen. Der Abgeordnete Makaschow sagte, „Juden gehören ins Grab“ und er selbst werde „mindestens ein Dutzend Juden in den Tod schicken“. Das ist der Gipfel eines Eisberges. Viele schlossen sich an: So erklärte sich der Chef der Moskauer KP, Alexander Kuwajew, mit Makaschow „solidarisch“. Und KP-Chef Sjuganow dankte Makaschow, da er auf das „jüdische Thema“ aufmerksam machte, das „uns alle beunruhigt“. Wen verwundert es da noch, daß Bündnisse der KP mit diversen Nazi-Splitter-Gruppen oder orthodoxen Popen keine Seltenheit sind. Die KP-Stadtregierung von Voronesch schloß vor kurzem einen Vertrag mit einer faschistischen Security-Agentur. Ihre Aufgabe: In Schulen für „Ordnung“ zu sorgen.
JedeR kann sich vorstellen, unter welch schwierigen Bedingungen SozialistInnen dort zu arbeiten haben. Der Antisemitismus in der (ex-)stalinistischen KP reicht übrigens bis zu Stalin zurück, der selbst, vor allem in den Schauprozessen der 30er gegen die wirklichen KommunistInnen der Linken Opposition um Trotzki und andere, auch zu Nationalismus und Judenhaß griff. Auch sonst ist die KP weit davon entfernt, nur ansatzweise die Rolle einer (linken) Opposition zu spielen: Seit Jahren gibt es im Parlament eine Vorgangsweise, die der Regierung (offensichtlich) hilft ihre Mehrheit zu sichern: Bei jeder Abstimmung wird ein Teil der KP-Abgeordneten dazu bestimmt, der Regierung eine Mehrheit zu bescheren. Auch unterstützte die KP den Budgetentwurf des neuen Premiers. Der Inhalt: härteste Kürzungen, ein spezieller Hilfsappell an den IWF, die Kommerzialisierung der Bildung etc. Danach forderte Sjuganow Präsident Jelzin auf, einen Teil der Massenmedien zu übernehmen, da sie durch ihr „antirussisches“ Verhalten „destabilisieren“. Und wenn die Regierung aufgrund der Kriminalitätsrate oder von Bombenanschlägen wieder einmal den Rassismus strapaziert, folgt ihr die KP bei Fuß.
Das Wirtschaftsprogramm der KP deckt sich prinzipiell mit dem der Regierung. Es ist der „kommunistische“ Vizepremier Masljukow, der andauernd beschwichtigend das kommende „Wachstum“ beschwört. Auch Sjuganow sucht - wie Jelzin - Unterstützung beim IWF. Anstatt die Interessen der ArbeiterInnenschaft in den Vordergrund zu stellen, strebt er eine „Koalitionsregierung“ mit „ehrlichen russischen Unternehmern“ an. Wenn Arbeiter und Arbeiterinnen die KP wählen, dann nicht wegen, sondern trotz ihrer Politik, oft in der Hoffnung, sie stünde zumindest irgendwo in Opposition zu diesem maroden System. Sie tut es aber nicht.
Dort, wo die KP an der Macht ist, bekämpft sie streikende ArbeiterInnen. Den streikenden Kumpels in Moskau hat sie auch nicht geholfen. Geschweige denn versucht, diese Bewegung zum Sturz des Kapitalismus in Rußland und für die Forderungen der Bergarbeiter zu nutzen. Diese reichen vom Rücktritt der Regierung über Nationalisierung der Minen, Banken und gesamten Industrie bis zu Elementen einer Planwirtschaft unter ArbeiterInnenkontrolle. Diese Forderungen der Bergarbeiter sind nicht die Forderungen der KP.
Die Bergarbeiter marschieren wieder
Dieser 3 monatige Streik der Bergarbeiter vor dem Weißen Haus in Moskau war ein kräftiges Lebenszeichen der russischen ArbeiterInnenklasse.
Ansätze unabhängiger gewerkschaftlicher Organisierung sind genauso zu beobachten wie wachsende Radikalität, vor allem wenn man bedenkt, daß es die Bergarbeiter waren, die 1991 Jelzin an die Macht halfen.
Das repräsentiert Entwicklungen im Bewußtsein von Teilen der ArbeiterInnenklasse, daß der Wiederaufbau von kämpferischen Gewerkschaften und einer ArbeiterInnenpartei die wichtigste Aufgabe ist.
Abhängige Gewerkschaften
Die Mißstände eines bevorstehenden Hungerwinters, nicht bezahlte Löhne, die Stillegung von Fabrik um Fabrik werden dadurch verschlimmert, daß es keine starke organisierte politische Kraft gibt. Die offiziellen Gewerkschaften haben mehr mit dem Staatsapparat zu tun als mit ihrer Mitgliedschaft. Sie haben z.B. durch ihre Stellung als Besitzende von Unternehmen kein Interesse an Streikaktionen, vor allem wenn sie sich so deutlich gegen die Regierung richten, wie die Proteste der Bergarbeiter der vergangenen Monate. Darüberhinaus läßt sich die Gewerkschaftsführung von den Drohungen des Staates „wenn ihr streikt, enteignen wir Euch“ einschüchtern - die materiallen Interessen der Führung stehen hier wohl über den Interessen der Mitglieder! Selbst die Unabhängige Bergarbeiter Gewerkschaft steht nicht voll hinter ihren Mitgliedern. Einer ihrer wichtigsten Führer, Sergejew, war ein Verfechter der Privatisierungen.
Die Armee ist ein weiteres Pulverfaß: Amokläufe, Selbstmorde, Unfälle aller Art passieren täglich, Offiziere erhalten oft weder Löhne noch eine Wohnung nach der Entlassung, das Essen wird knapp. 25 % der Bevölkerung sind direkt oder indirekt mit der Armee verknüpft. Die Überbleibsel der Roten Armee sind eher ein Spiegelbild der Gesellschaft als ein gut organisierter „Staat im Staat“. Ein Aufstand in der Armee käme von unten und wäre nicht zu vergleichen mit einem Putsch von Generälen. Extrem gefährlich ist die Degeneration natürlich im Fall der Atomwaffen, speziell des Schmuggels durch die Mafia.
Die künftigen Auseinandersetzungen und Kämpfe werden oft chaotisch mit starken Elementen von Nationalismus, Pogromen und ohne Systemalternative ablaufen.
Eine „Ära des Terrors“ wird von russischer Elite sowie bürgerlicher Medien vorhergesagt.
Die Frage ist, ob es der ArbeiterInnenklasse gelingt, die Bewegung wiederaufzubauen und sich eine Partei zu schaffen, die der Frage um die Macht nicht ausweicht. Wenn man sich die Traditionen der russischen städtischen und ländlichen ArbeiterInnenklasse ansieht, kann man für die Zukunft optimistisch sein.