Sa 02.01.2010
Die britische „Times“ stellt die richtige Fragen: Wann wird ein Aufruhr zur Revolution? Kommentator Michael Binyon schreibt am 29. Dezember: „In der ganzen Geschichte sind bei Demonstrationen, Streiks und Krawallen die Massen auf die Straße gegangen und stellten eine Bedrohung für Regierungen dar. In den meisten Ländern reichten zügige repressive Maßnahmen in Verbindung mit politischen Zugeständnissen, um die Unruhen unter Kontrolle zu bekommen. Aber wenn die Gewalt extrem wird, die Wut seit längerem aufgestaut ist und ein Regime die Nerven verliert, dann wird ein Wendepunkt erreicht und die Revolution erfasst das Land. Hat der Iran diesen Punkt erreicht?“
Zum schiitischen Märtyrerfest Aschura Ende Dezember haben sich die iranischen Massen eindrucksvoll zurückgemeldet. Zehntausende gingen, das wird aus Berichten und Videos ersichtlich, in mehreren Städten auf die Straße. Diesmal waren die Demonstranten nicht nur Opfer. Die ersten Attacken der Basiji Milizen und der Polizei wurden zurückgeschlagen, Motorräder und Autos der staatlichen Einheiten gingen in Flammen auf, Polizeistationen wurden angegriffen Barrikaden gebaut. AugenzeugInnen berichten, dass Basiji und Polizei sich aus einigen Teilen Teherans zurückziehen mussten. Es gab Berichte, nach denen sich vereinzelt Polizisten mit den DemonstrantInnen solidarisiert haben. Die Meldung einer oppositionellen Website, dass schon einmal die Funktionsfähigkeit des Regierungsflugzeuges getestet wurde, mit dem im Notfall Religionsführer Khamenei außer Landes gebracht werden soll, wurde bisher nicht von mehreren Seiten bestätigt.
Erst einmal hat das Regime wieder die Oberhand über die Straßen gewonnen, durch Einsatz von Schusswaffen, gezielten Tötungen und Massenfestnahmen von Oppositionellen. Doch die Aschura-Unruhen markieren tatsächlich einen Wendepunkt. Nach dem Juni 2009 stand fest, dass der Iran nie wieder dasselbe Land sein wird. Jetzt steht fest, dass die islamistische Diktatur fallen wird und das Ende näher rückt.
Ob „näher“ schon in einigen Wochen ist oder sich der revolutionäre Prozess über viele Monate hinzieht, lässt sich schwer sagen, zumal von Europa aus. Das Tempo der iranischen Revolution wird von verschiedenen Faktoren bestimmt.
Anders als das Regime des Schah, dass sich auf pure Gewalt stützte und am Ende ohne jede Unterstützung im Volk in der Luft hingt, verfügten Ahmadinedjad und Khamenei zumindest noch im Juni über eine Massenbasis. Die islamistischen „Reformer“ um Mussawi hatten vor allem den armen Massen nichts zu bieten, unter Teilen der Landbevölkerung und der ärmeren Schichten wirkten noch die vom Regime verteilten Sozial-Almosen nach. Dazu kommt die tiefsitzende Religiösität von Teilen der Bevölkerung. Eine linke Bewegung, welche Arbeiter, Bauern und Arme auf Klassengrundlage vereinen könnte, existiert nur in Ansätzen; organisierte ArbeiterInnenkämpfe gab es nur vereinzelt, voneinander zeitlich, räumlich und politisch isoliert. Diese Faktoren deuteten auf einen in die Länge gezogenen revolutionären Prozess im Iran.
Doch es wirken auch Faktoren, welche zu einer gewaltigen Beschleunigung des Sturzes der Mullah-Diktatur führen können. Die wirtschaftliche Lage hat sich rapide verschlechtert. Ahmadinedjads Propaganda, sich als Beschützer der Armen darzustellen, ist durch die Realität entzaubert worden. Die ArbeiterInnenkämpfe haben seit dem Sommer zugenommen, sind politischer geworden. Auch konservativere Schichten der Bevölkerung haben seit dem Juni gesehen, zu welchen Gewaltmethoden das Regime greifen muss, um Proteste zu verhindern. Tausende haben Angehörige und FreundInnen verloren, viele kennen Menschen, die inhaftiert waren, gefoltert und vergewaltigt wurden. Nicht einmal der Schah hat am höchsten schiitischen Fest schießen lassen, das klerikale Regime hat als erstes in der iranischen Geschichte an Aschura Blut vergossen.
Die Wut ist riesig, die Elite des Landes ist weiter tief gespalten. Die Massen haben inzwischen gelernt, dass das Regime keine umfassende Kontrolle mehr hat. Wie ernst das Regime die Lage einschätzt zeigt der Vorstoß von Parlamentspräsident Laridschani: Er fordert Todesstrafen für die DemonstrantInnen wegen „Beleidigung der Religion“ und fordert gleichzeitig die „reformerischen“ islamistischen Kräfte um Mussawi, Rafsandschani, Khatami und Karroubi auf, sich von den Protesten zu distanzieren. Das Regime versucht, die Risse in der Elite zu kitten, vertieft diese aber gleichzeitig durch die repressiven Maßnahmen. Doch die „Reformer“ haben noch weniger Kontrolle über die Proteste als im Juni. Die Rufe „Tod dem Diktator“ und „Nieder mit der islamischen Republik“ scheinen allgegenwärtig.
Mit Massenfestnahmen und der hartem Vorgehen bereitet sich das Regime auf die kommenden Kämpfe vor. Je länger sich das Ringen hinzieht, desto entschlossener werden Teile des Regimes und seiner Repressionskräfte kämpfen. Im Juni vertiefte sich die Spaltung der Elite im Kampf um Macht, Privilegien und die Aufteilung des Profits. Doch darum geht es nicht mehr allein. Für die Herrschenden im Iran und ihre Schergen geht es auch um ihren Kopf.
Die Lage im Iran kann sowohl neue, schlimmere Massaker seitens des Regimes hervorbringen als auch den schnellen Fall desselben. Entscheidend in den nächsten Wochen und Monaten ist, dass sich die linken, sozialistischen Kräfte unabhängig organisieren und die demokratischen Forderungen mit den sozialen Bedürfnissen der ArbeiterInnenklasse und der Armen verbinden.