Sa 12.09.2015
Warum die britische Gesellschaft weit links von der Regierung steht und der Kampf um den Labour-Vorsitz nur ein erster Schritt sein kann. Eine Gespräch mit Dave Nellist.
Dave Nellist ist Vorsitzender der TUSC (Trade Unionist and Socialist Coalition), die vor fünf Jahren von der Verkehrsarbeitergewerkschaft RMT, der Socialist Party und anderen SozialistInnen gegründet wurde. Er wurde 1983 als marxistischer Labour-Abgeordneter ins Parlament gewählt – das gleiche Jahr wie Jeremy Corbyn – und die beiden arbeiteten innerhalb der “Socialist Campaign Group” zusammen. Dave wurde 1992 aus Labour ausgeschlossen, als der Rechtsruck der Partei begann. Er war 14 Jahre Abgeordneter für die Socialist Party im Stadtrat von Coventry.
War der Wahlsieg der Konservativen Ausdruck eines Rechtsrucks in der britischen Gesellschaft?
Nicht wirklich. Der Gesamtstimmenanteil der “Rechtsparteien”, also Tories, Liberaldemokraten und UKIP, fiel im Vergleich zu 2010 von 62 auf 57 Prozent, während die Parteien, die im weitesten Sinne “links” stehen – Labour, die Schottische Nationalpartei und die Grünen – von 32 auf 39 Prozent zulegten. Aber die Eigenheiten des Mehrheitswahlrechts ohne jegliches Element von Sitzverteilung nach Stimmenanteilen, sowie der Zusammenbruch von Labour in Schottland, gab den Konservativen eine Mehrheit im Parlament mit den Stimmen von weniger als 24 Prozent der Wahlberechtigten.
Außerdem haben Meinungsumfragen gezeigt, dass es Mehrheiten von zwei Drittel und mehr für Forderungen gibt, die deutlich links von den Positionen der vier großen Parteien stehen – beispielsweise die Wiederverstaatlichung der Bahn, der Post und der Energieversorger. Also gibt es keinen Rechtsruck in der politischen Meinung in Großbritannien.
Drückt also die positive Resonanz auf Jeremy Corbyns Kandidatur für den Vorsitz der Labour Party eher die wirkliche Stimmung aus? Was sagst Du zu seiner Kampagne?
Ich war überrascht, dass Jeremy Corbyn genügend Nominierungen von Labour-Parlamentsabgeordneten bekam, um überhaupt kandidieren zu dürfen. Schließlich kamen fast die Hälfte seiner Nominierungen von Abgeordneten, die ihn nicht wählen wollten, die aber darauf gehofft hatten, dass er den anderen KandidatInnen Stimmen wegnehmen würde. Wenig überrascht hat mich die Resonanz im ganzen Land von ehemaligen Labour-WählerInnen aus der Arbeiterklasse, die desillusioniert waren von der Bilanz der Labour-Partei an der Regierung und von ihrer aktuellen Haltung, die bestenfalls eine “gemäßigte” Kürzungspolitik ist. Mit Jeremy Corbyn hatten sie einen der wenigen Abgeordneten, die sich gegen Kürzungen aussprechen, die für kostenlose Bildung, die Rücknahme gewerkschaftsfeindlicher Gesetze usw. stehen. Und für die jungen Leute, die sich erstmals politisch engagieren, die keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Parteien sehen, stellt Jeremy die Hoffnung dar, dass Labour eine Stimme sein kann zur Verteidigung derer, die unter prekärer Arbeitsverhältnisse leiden, mit niedrigem Einkommen und flexibilisierten Arbeitsverträgen und nicht genug verdienen, um für ein eigenes Zuhause oder eine Familie planen zu können.
Wofür steht Corbyn?
Jeremy hat sicherlich bei vielen für Begeisterung gesorgt mit seiner Forderung nach einer Abschaffung der Studiengebühren (aktuell kostet ein dreijähriges Studium dank Studiengebühren und Lebenskosten 50.000 Pfund), mit seinem Versprechen, die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze abzuschaffen, dem Ruf nach einem höheren Mindestlohn, nach höheren Steuern für Reiche und nach der Wiederverstaatlichung von Bahn und Energieunternehmen.
Aber sein eigentliches Wahlkampfprogramm ist ziemlich beschränkt. So würden viele SozialistInnen argumentieren, dass gerade angesichts der ganzen Spekulationen, die vor sieben Jahren die aktuelle Wirtschaftskrise auslösten, das Bankensystem verstaatlicht und unter demokratische öffentliche Verwaltung gestellt werden sollte. Die Finanzreserven der Banken sollten dem Gemeinwohl dienen und nicht den Profiten der Millionäre und Milliardäre. Doch Jeremy fordert nur eine „bedeutsame Regulierung des Bankensektors” – aber keine Abkehr vom Privateigentum an den Banken.
Hat er eine Chance, zu gewinnen? Was würde passieren, wenn er gewinnt?
Ich glaube dass es jetzt wahrscheinlich ist, dass er gewinnen wird. Ein Wettanbieter hat schon jetzt Gewinne ausgezahlt an die, die auf seinen Sieg gewettet hatten (obwohl die Wahl noch bis zum 10. September geht)! Je deutlicher dieser Ausgang sich abzeichnet, umso größer wird die Panik bei den Rechten in der Labour Party und bei vielen Zeitungen, die sie unterstützen. Die aktuelle Labour-Führung schließt gerade Tausende aus, die sich zur Teilnahme an der Wahl angemeldet hatten, in der Hoffnung, dass sie damit einen Erdrutschsieg verhindern kann. Davon betroffen war sogar Marc Serwotka, der Generalsekretär der siebtgrößten Gewerkschaft des Landes. Aber ein Sieg für Jeremy Corbyn wäre nur die erste Etappe.
Weniger als zehn Prozent der Labour-Abgeordneten nominierten Corbyn und nur rund sechs Prozent der 7000 Kommunalabgeordneten haben ihn unterstützt. Die Verwandlung von Labour in eine durch und durch kapitalistische Partei war ein ideologischer und organisatorischer Prozess über zwanzig bis dreißig Jahre. Jeremy Corbyns erfolgreiche Kampagne, in der sich 400.000 Leute zur Teilnahme an der Wahl angemeldet haben, gegenüber 200.000 Mitgliedern der Labour Party davor, ist der Startschuss für eine Kampfansage an die Ideologie der Großunternehmer, die bisher in der Labour Party dominierte, vor allem nachdem Tony Blair vor zwanzig Jahren zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Aber es hat auch organisatorische Veränderungen gegeben, die Macht und Einfluss der organisierten Arbeiterklasse in der Labour Party reduziert haben, zugunsten der unternehmensfreundlichen Interessen in und um die Parteiführung.
Wenn Jeremy Corbyn seine Versprechen für sozialistische Problemlösungen einhalten will, muss sich die Linke organisieren um die Partei im Prinzip neu zu begründen und um viele der Abgeordneten im Parlament und auf kommunaler Ebene zu ersetzen, die sich weigern würden, seine radikale Anti-Kürzungspolitik umzusetzen.
Du bist Mitglied der Socialist Party und Vorsitzender von TUSC. Was schlägt TUSC in dieser Situation vor?
TUSC ist eine föderales Wahlbündnis, an dem sich die Verkehrsarbeitergewerkschaft RMT, die Socialist Party und andere SozialistInnen beteiligen. Wir werden die für den 12. September erwarteten Ergebnisse der Labour-Wahl bei unserer Konferenz am 26. September diskutieren.
Wenn eine Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn bereit wäre, Labours Bekenntnis zum Sozialismus wieder einzuführen, das vor zwanzig Jahren unter Tony Blair durch eine Aussage für Märkte und Wettbewerb ersetzt wurde; wenn er bereit wäre, Labour-geführte Kommunen anzuweisen, mit den Kürzungen aufzuhören; wenn er die föderale Rolle der Gewerkschaften in der Labour Party wiedereinführen würde und die Entscheidungsprozesse demokratisieren würde, damit diese von unten nach oben laufen – dann glaube ich, dass TUSC gerne ein Teil dieser Debatte sein würde, wie man Menschen und Organisationen aus der Arbeiterklasse eine echte sozialistische Stimme geben kann.
Sollten Labour-geführte Kommunen jedoch einfach weiter machen mit der Implementierung der Kürzungspolitik der Tories (Finanzminister George Osborne wird wahrscheinlich in den kommenden Wochen weitere Kürzungen kommunaler Dienstleistungen in Höhe von zehnMilliarden Pfund ankündigen, die in der laufenden Legislaturperiode umgesetzt werden sollen), dann erwarte ich, dass TUSC bei den Wahlen 2016 weiterhin mit Anti-Kürzungs-Kandidaturen antreten wird.
Jeremy Corbyns Kampagne hat Hunderttausende begeistert. Wenn man sie in einer organisierten Form mit den tausenden von sozialistischen und gewerkschaftlichen AktivistInnen außerhalb von Labour, unter anderem in der TUSC, zusammenführen könnte, dann könnte eine neue Partei inGroßbritannien schnell wachsen, vor allem wenn sie in den Organisationen und in den Wohnvierteln der Arbeiterklasse verwurzelt wäre. Aber dies hängt alles davon ab, ob es gelingt, die Kontrolle der Rechten über Labour zu beenden und den Augiasstall (Dreckstall, A.d.Ü.), zu dem die Partei geworden ist, auszumisten.