Mi 01.12.1999
Mark Golowisnin ist Mitglied der Redaktion der franz. historischen Zeitschrift „Cahier du mouvement ourier“, assoziertes Mitglied des soziologischen Institutes der russ. Akademie der Wissenschaften, sowie Co-Autor und Mitarbeiter von Vadim Rogowins Forschungen zur Frage: „Gab es eine Alternative zum Stalinismus“.
Wie kamst Du zur Stalinismusforschung?
Ich bin kein Berufshistoriker, sondern Arzt und zur Zeit Dozent an der medizinischen Fakultät der Universität Moskau. Nebenbei habe ich noch an der philosophischen Fakultät studiert, bis ich mich vor rund sieben Jahren auf die Geschichte der Sowjetunion spezialisiert habe. Das kam dadurch, dass ich als Arzt einige „alte Bolschewiki“ und deren Angehörige, die den großen Terror der 30er erlebten, kennengelernt habe. Daraufhin ging ich in die Archive und begann nachzuforschen. Dort bin ich auf Prof. Vadim Rogowin gestoßen, der damals gerade an seinem 2. Band der Geschichte der „Linken Opposition“ schrieb. Von da an beschlossen wir, künftig gemeinsam weiterzuarbeiten und in Folge schrieb ich auch einige Kapitel der Bände über die „Linke Opposition“. Während der Arbeit am 7. Band ist Prof. Rogowin leider im Oktober ‘98 verstorben; aber ich bin überzeugt, dass seine Arbeit fortgesetzt werden wird. Die Hauptfrage, die sich viele Menschen seit damals stellen, ist, ob es einen anderen Pfad der Entwicklung hätte geben können. Und das ist auch die Kernfrage, mit der sich Prof. Rogowin und ich beschäftigten.
Viele seiner ehemaligen Kollegen gaben nach und während dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Positionen auf und begaben sich in das eine oder andere Lager; somit wurden auch die Beziehungen abgebrochen. Letztlich blieben ihm nur zwei bis drei Leute, die ihm bei der Veröffentlichung seiner Bücher halfen. Hier muß auch seine Frau Galina hervorgehoben werden, ohne die keines seiner Bücher veröffentlicht worden wäre.
Wie ist der Stand der russischen Geschichtsforschung?
Mit dem Einsetzen der „Perestroika“ kam eine Welle von „neuem“, bis dato unzugänglichen Material an die Oberfläche. Das alles erzeugte eine Stimmung, die sich bei vielen Menschen in der Hoffnung auf Reformen und einem Ende des Stalinismus niederschlug. Zur dieser Zeit war es der Wunsch der meisten Menschen, nun einen wirklichen Sozialismus aufzubauen. Aber leider kam es nicht soweit und der Prozeß der Restauration des Kapitalismus setzte ein. Das lieferte natürlich neue Aufgaben zur Fortsetzung unserer Arbeit, wie der Kampf gegen die sogenannte „poststalinistische Schule der Fälschungen“.
Die Spaltung der herrschenden russischen Elite in ein nationales und ein neoliberales Lager spiegelt sich auch bei den HistorikerInnen wieder. Gegen Ende der Sowjetunion wollten viele HistorikerInnen - die sogar Mitglieder der Partei waren - beweisen, dass der Ursprung des Stalinismus schon bei Lenin liegt. Und deswegen sehen sie die Wurzeln des stalinistischen Terrors in den Handlungen der Bolschewiki. Aber der Terror unter Stalin war ein gänzlich anderer als der „Terror“ nach der Revolution in der Periode des Bürgerkriegs. Was sie zu beweisen versuchen, ist letztlich nichts anderes, als dass die ganze Frage von Gewalt und Terror ein natürlicher Prozeß des Bolschewismus sei: zuerst war der Bürgerkrieg, dann die Kollektivierung und schließlich der Stalinismus. Ein typischer Vertreter dieser „neoliberalen“ Schule ist der auch in Westeuropa bekannte „Historiker“ und Ex-General Dimitri Wolkogonow.
Der andere Flügel kommt von der national-patriotischen Seite. Für sie war Stalin die Fortsetzung und der alleinige „bolschewistische Erbe“ Lenins. Jegliche Opposition und Gegner Stalins werden so zu „Antilenisten“ und „Antibolschewisten“. Stellvertretend für diese Strömung ist das ehemalige ZK-Mitglied Richard Kosolapow zu nennen, der gerade die noch unveröffentlichten Werke Stalins herausbringt.
Zum Schluß noch ein Wort zu einer anderen Art der historischen Forschung. Vorweg muss noch erwähnt werden, dass heute weit weniger Bücher und Arbeiten veröffentlicht werden als noch vor zehn Jahren. Trotzdem gibt es einige Autoren, die Bücher zu ganz besonderen Aspekten der Geschichte herausbringen, wie z.B. Oleg Khlevniuk, Boris Starkov und Alexander Pantzow. Sie beschäftigen sich in ihren Werken hauptsächlich mit Entwicklungen der stalinistischen Bürokratie, der Rolle der Roten Armee und der der „Linken Opposition“ in China. Nebenher gibt es noch eine große Anzahl von Publikationen, die mehr oder weniger unkommentiert neu entdecktes Archivmaterial veröffentlichen - dafür steht z.B. der Name Juri Feischtinsky. Er lebt zur Zeit in den USA und bringt viel neues Material über Trotzki heraus. Aber er ist ein bürgerlich-liberaler und das schlägt sich auch in seiner Interpretation nieder. Bleibt die Frage, wie wir die „neuen“ Fakten interpretieren und welche Folgerungen wir daraus ableiten.
Gab es eine Alternative zum Stalinismus und wenn ja, wie sah die aus?
Wenn wir Rogowins Bücher lesen, sehen wir sehr klar, dass es eine Alternative gegeben hat - die „Linke Opposition“. Der Kampf dieser Gruppe war nicht nur ein Kampf einer linken Fraktion innerhalb der Partei, sondern der besten bolschewistischen Kräfte: für den Internationalismus, soziale Gerechtigkeit und interne Parteidemokratie. Dieser Kampf wurde ursprünglich angeführt von Lenin und Trotzki und dann von Trotzki und seinen GenossInnen weitergeführt. In den 30ern wurde die „Linke Opposition“ schließlich ergänzt durch andere oppositionelle Strömungen, wie die „Arbeiter-Opposition“, die „Bucharin-Schule“ und die sogenannte „Riutin-Plattform“.
Wie würdest Du die weltweite Rolle des Stalinismus beschreiben?
Da können wir auf Trotzki zurückgreifen, wenn er sagte, dass Stalin nicht nur gegen den Marxismus kämpfte, sondern ihn prostituierte. Als erstes einmal untergrub der Stalinismus auf Weltebene das bolschewistische Prinzip des Internationalismus. An seine Stelle rückten immer stärker geopolitische Interessen, die schließlich diametral den revolutionären Bewegungen gegenüberstanden. Z.B. die geheimen Verhandlungen und Diskussionen mit Frankreich und England hinter und auf dem Rücken des republikanischen Spanien. Oder schließlich der „Hitler-Stalin Pakt“ am Vorabend des 2. Weltkriegs, der unter anderem zu einer Aufteilung Osteuropas führte. Und nach dem Ende des Krieges die erneute Aufteilung der Welt unter den drei Supermächte, Britannien, den USA und der UdSSR. Das war mitunter auch ein Grund, warum sich nach dem Krieg keine weltweite revolutionäre Situation entfalten konnte.
War der Stalinismus eine „Spielart“ des Kommunismus?
Keine politische Bewegung kann sich unabhängig von der Gesellschaft heranbilden. Der Stalinismus entwickelte sich als direkter dialektischer Widerspruch zu allem, wofür der Bolschewismus steht und stand. Zuerst einmal lehnte der Stalinismus die Idee von gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Gleichheit ab und schuf ein neues riesiges System von Privilegien, wie es bis dahin noch nicht gesehen wurde. Dann wurde die Idee des Internationalismus durch einen russischen Großmachtchauvinismus ersetzt und schließlich die Idee vom „Absterben“ des Staates in sein Gegenteil verwandelt - in die Stärkung des Staates; praktisch bedeutete das alles somit den Auf- und weiteren Ausbau einer absoluten Staatsgewalt. Wir sehen also, die Entwicklung des Stalinismus bedeudete einen vollständigen Bruch mit den Idealen und der politischen Ideologie des Bolschewismus. Und hier ist auch der Punkt, wo wir festhalten sollten, dass es nur eine wirkliche Gruppe gab, die permanent vom Stalinismus unterdrückt wurde: das waren die Revolutionäre und Oppositionellen, die den Kampf für den Bolschewismus nicht aufgaben und gegen den Stalinismus fortsetzten. Natürlich gab es daneben auch noch andere gesellschaftlichen Gruppen, die von den Wellen der Unterdrückung betroffen waren. Der Unterschied aber ist, dass hier Perioden stärkerer Unterdrückung wieder Perioden der Liberalisierung folgten. Zum Beispiel wurden Teile der technischen Intelligenz Anfang der 30-iger verfolgt, dann kam es aber wieder zu einer Lockerung und schließlich auch zu gesellschaftlicher Höherstellung, oder die Angriffe auf die Kirche wurden ersetzt durch den Versuch, die Kirche während des Krieges zu einer Säule des Stalinismus zu verwandeln. Und was die wenigsten wissen, nach dem Terror der Kollektivierung in den 30ern folgte eine Periode der Wiederherstellung der Rechte der Kulaken. Nur eine Gruppe war konsequent und ohne „Gnade“ dem stalinistischen Terror ausgesetzt - die Kämpferinnen und Kämpfer, die in der Tradition der Bolschewiki standen. Alleine schon von diesem Gesichtspunkt aus scheint es mir schwierig, den Stalinismus als „natürliches“ Ergebnis des Bolschewismus zu präsentieren.
Die Alternative, war das eine ideologische oder eine persönliche?
Wenn wir richtigerweise davon ausgehen, dass der Stalinismus eine politische Konterrevolution ist, dann ist es natürlich nicht möglich, dass sie nur durch die Person Stalins erfolgen konnte, da brauchte es eine Basis. Und diese Basis war eine soziale Schicht, die eine politische Degeneration vollzogen hatte. Was waren nun die Merkmale dieser Konterrevolution? Einmal die Tatsache, dass die Konterrevolution nicht von außen auf die Partei einwirkte, sondern von innen heraus kam. Und dann natürlich, dass weiterhin die Symbole und Phrasen der Bolschewiki benutzt wurden.
Hätte es genutzt, Stalin durch jemand anderen zu ersetzen?
Die Entwicklung einer Bürokratie ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses. Aber in bestimmten historischen Perioden kann die Rolle von einzelnen Persönlichkeiten zu einem sehr wichtigen Faktor werden. Zum Beispiel: Nur einige Tage nach seinem Tod, stoppten die engsten Verbündeten Stalins eine neue Welle des Terrors. Oder ein anderes Beispiel: die Krankheit Lenins während der ersten innerparteielichen Auseinandersetzungen führte zu einer objektiven Stärkung der Gegner Lenins und Trotzkis und so auch mit zum Aufstieg Stalins. Daher ist es sehr schwierig, hier konkrete Aussagen zu treffen, aber meiner Meinung nach wäre vielleicht der Große Terror in den 30ern gestoppt worden, wäre Stalin damals schon gestorben.
Wenn es eine Alternative gab, warum „kapitulierten“ dann viele bekannte Mitglieder der „Linken Opposition“
Es kann keine Rede davon sein, dass die meisten Mitglieder widerrufen oder vor Stalin kapituliert haben - es gibt eine große Anzahl, die das eben nicht getan haben, wie z. B. Vladimir Kossior, der Bruder des ersten Generalsekretärs der ukrainischen Kommunistischen Partei, oder Boris Elzin, der den Bolschewiki 1898 beigetreten und dessen Sohn Viktor Trotzkis Sekretär in den 20er war, auch bis zum Schluß standhaft blieb. Aber auch bekanntere Namen wie Riutin haben nie von ihren Idealen abgeschworen. Daneben gab es noch die große Schicht von Oppositionellen, die sich am Anfang zu Zugeständnissen erpressen ließen, sich aber dann weigerten, die Bürokratie bedingungslos zu unterstützen oder ihre Aussagen zurückzogen. Sie wurden ohne großes Aufsehen in geheimen Prozessen abgeurteilt und erschossen - darunter fallen auch so bekannte Oppositionelle wie z.B. Smilga.
Aus diesem Grund haben Trotzki und sein Sohn Leo Sedow über die Schauprozesse in den 30ern auch gemeint, dass tausende Menschen damals beschuldigt und verhaftet wurden, es der Bürokratie aber nur gelang, die Persönlichkeit einer handvoll Bolschewiki soweit zu brechen, dass sie öffentlich in diesen Schauprozessen auftraten. Die meisten von ihnen saßen bereits 10 Jahre in Gefängnissen und hatten bereits ein absurdes Geständnis nach dem anderen abgegeben. Trotzki beschrieb den Weg der Kapitulation als eine schiefe Ebene, auf der man/frau sich immer weiter abwärts begibt, bis schließlich die letzten menschlichen Charaktereigenschaften gebrochen sind.
Wie siehst Du die „Schwarzbuch“ Debatte?
Bis jetzt ist das „Schwarzbuch“ in Rußland noch nicht erschienen, aber es gab schon eine Reihe von Artikeln dazu in der Presse. Um zu zeigen, was dieses Buch weltweit ausgelöst hat: Zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution erschien in der „offiziellen“ Tageszeitung Izwestia ein Artikel mit folgender Überschrift: „Kommunistische Regimes löschten 110 Mio. Menschenleben aus.“ Um auf diese Zahl zu kommen, mußten sie das Terrorregime Pol Pots in Kambodcha, die Herrschaft Maos, die Opfer der stalinistischen Verfolgung und sogar die des Bürgerkrieges miteinbeziehen. Wie wir sehen können, bedient sich die sog. „poststalinistische Schule der Fälschungen“ der gleichen Methoden der Geschichtsklitterung wie ihre Vorgängerin, die stalinstische. Kraut und Rüben werden gemischt, die Opfer des revolutionären „Terrors“ werden zusammengeworfen mit denen der Kollektivierung, des Großen Terrors und ich glaube, dass da auch jene dabei sind, die an diversen Krankheiten im Bürgerkrieg starben. Es ist klar, was mit solchen „Statistiken“ erreicht werden soll: nicht nur die Diskreditierung der Oktoberrevolution, sondern aller revolutionären Bewegungen. Niemand legt die Toten des Amerikanischen Bürgerkrieges den Gegnern der Sklaverei zu Lasten, im Falle der Sowjetunion ist das aber mittlerweile gang und gebe - das ist unseriös und unwissenschaftlich.
Ist es heute noch wichtig, über die „Linke Opposition“ zu forschen?
Die „Linke Opposition“ war die Erbin der besten Traditionen der Bolschewiki. Die Bolschewiki hatten während der Revolution nur die 72 Tage der Pariser Commune als historische Erfahrung. Darum ist wichtig, die Ereignisse nach der Oktoberrevolution genau zu studieren und damit den revolutionären Horizont der sozialistischen Bewegung zu erweitern. Trotz aller Rückschläge durch den Stalinismus gibt es aber gerade deswegen eine neue Chance für revolutionären Internationalismus.
Die „Linke Opposition“ war einer doppelten Bedrohung ausgesetzt, auf der einen Seite von den stalinistischen Parteien und auf der anderen durch die bürgerlichen Demokratien und die Sozialdemokratie. Das erschwerte natürlich ihre politische Agitation und führte auch zu einer gewissen Isolation. Heute nach dem Kollaps des Stalinismus eröffnet das neue Möglichkeiten, um die Ideen und Traditionen der „Linken Opposition“ wieder in der ArbeiterInnenbewegung zu verankern. In Rußland beginnt bereits ein Umdenkprozeß bei einigen Teilen - ein Zurück zur Idee des Internationalismus und der sozialen Gerechtigkeit. Das bietet eine Chance für internationalistische Organisationen, die die Wichtigkeit der Arbeit in den Arbeitermassenorganisationen verstehen, und so das Sektiertum überwinden können.