Frankreich 1968: Den „goldenen Käfig“ aufsprengen

Teil 8 der Artikelserie: Revolutionen und ihre Lehren
von Jan Millonig

Die Welt 1968: in vielen Ländern Afrikas kämpften die Massen gegen koloniale Unterdrückung, in den USA demonstrierten Millionen gegen den Vietnam-Krieg, in Prag fand der Aufstand gegen das stalinistische Regime und für einen Sozialismus mit demokratischen und menschlichem Antlitz statt, die zweite Welle der Frauenbewegung und viele andere Bewegungen weltweit.

Frankreich 68: Diese Aufbruchsstimmung, vor allem unter jungen Menschen, traf in Frankreich auf einen besonders verknöcherten Staatsapparat und die autoritäre Regierung von Charles de Gaulle. Der Nachkriegsaufschwung ermöglichte ein starkes Wirtschaftswachstum, eine gewisse Erhöhung des Lebensstandards und eine wachsende Student*innenschaft. Doch dem standen lange Arbeitszeiten, massive Benachteiligung von migrantischen Arbeiter*innen und Universitäten, die nur der Disziplinierung neuer Arbeitskräfte dienten, entgegen. Diese Widersprüche wurden mit immer mehr Repression beantwortet: bewaffnete Aufseher in Fabriken, strenge Regeln an Unis usw.

In zwei Wochen zum revolutionären Aufstand

Es war eine Frage Zeit, bis es explodierte: Am 3. Mai protestierten Studierende in Nanterre, einem Vorort von Paris, gegen Disziplinarmaßnahmen gegen den Student*innenführer Daniel Cohn-Bendit. Daraus entwickelte sich eine tagelange Straßenschlacht mit der Bereitschaftspolizei, die auf Demonstrant*innen einprügelte und Hunderte verletzte. Die Solidarität in der Bevölkerung war enorm, die sich schnell landesweite verbreitete. Die Gewerkschaften organisierten daraufhin am 13. Mai eine Demonstration mit einer Million Menschen in Paris unter dem Slogan: „Arbeitende, Studierende – gemeinsam!“ und riefen, wenn auch nur halbherzig, zum Generalstreik auf. Doch das traf eine Stimmung in der Arbeiter*innenschaft.

Am nächsten Tag entschieden die Beschäftigten eines Flugzeugwerks in Bouguenais im Streik zu bleiben und besetzten die Fabrik. Es entstand eine spontane Streikwelle, die sich im ganzen Land auf fast alle Branchen und Lebensbereiche ausweitete und am Höhepunkt zehn Millionen Beschäftigte umfasste, mit Besetzungen von Fabriken und öffentlichen Einrichtungen. Überall entstanden Streik- und Aktionskomittees, die mancherorts bereits die Verwaltung übernahmen. Die Forderung nach einer „Volksregierung“ wurde immer stärker.

Der Repressionsapparat war überfordert und die Herrschenden wurden zunehmend in die Ecke gedrängt. Doch die Regierung weigerte sich, zurückzutreten und mobilisierte stattdessen Teile des Militärs.

Die Macht lag auf der Straße

Die Kommunistische Partei und die ihr nahestehenden Gewerkschaft CGT erwischte diese Entschlossenheit kalt. Auch wenn sie eine zentrale Rolle in der Bewegung spielten, versuchten sie mit Händen und Füßen, alle Bestrebungen zu verhindern, die über unmittelbare Verbesserungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen hinausgingen. Sie mahnten sogar, „zur Ordnung zurück zu kommen“, während der alte Staatsapparat bereits in der Luft hing und eine sozialistische Gesellschaftsveränderung zum Greifen nahe schien. Ein Renault-Arbeiter schilderte Jahre später: „Es war eine Revolution, ja, eine Revolution, und wir dachten, die KP würde sie anführen. Aber sie wollte gar keine Revolution. Als sie nur Neuwahlen forderte, wussten wir nicht, was wir tun sollten, es herrschte große Unsicherheit.“ 

So musste Charles de Gaulle in Folge der Bewegung zwar zurücktreten, doch gingen seine und die konservative Partei bei den Neuwahlen gestärkt hervor, während Kommunist*innen und Sozialist*innen verloren.

Und sie bewegt sich doch!

Manche Linke glaubten damals nicht an die Möglichkeit einer Revolution „im Westen“, da sie glaubten der Arbeiter*innenklasse in Europa (und den USA) ginge es noch „zu gut“ – ein Argument das man auch heute oft hört. Doch Frankreich 68 zeigte, dass es weniger das absolute Niveau der Lebensbedingungen war, das die Menschen auf die Straße trieb, sondern der relative Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der Unfähigkeit des Kapitalismus diese zum Wohle aller zu nützen. Also, die Erkenntnis, dass es uns eben nicht unbedingt besser geht, wenn es der Wirtschaft gut geht.

So warf die ach so träge Industriearbeiter*innenklasse, inspiriert durch die Jugend, um ein Haar die gesamte bürgerliche Ordnung um.

 

Erscheint in Zeitungsausgabe: