Mo 25.08.2008
Warum waren die olympischen Spiele so wichtig für das chinesische Regime?
Im Moment sieht sich China einer ganzen Reihe von Krisen gegenüber. Das chinesische Regime hofft durch die olympischen Spiele, die Bevölkerung von den wirklichen Problemen des Landes abzulenken. Eine große Sorge der chinesischen Regierung ist, die Lebensmittelpreise zu begrenzen, aus Angst vor Massenprotesten.
Die Regierung versucht im Moment den Eindruck eines sehr sicheren Landes zu bewahren, in dem es keine Proteste gibt. Ist das der Fall im Moment?
In Wirklichkeit gab es schon über das ganze Jahr einige große Proteste in China. Diese wurden durch verschiedene Ereignisse hervorgerufen. Zum Beispiel gab es im März diesen Jahres einen schweren Schneesturm. In der Folge gab es Unmut aufgrund der Unfähigkeit der Regierung. Im April gab es auch die Massenaufstände der tibetischen Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung. Im Mai gab es auch das Erdbeben in Sichuan, das eine Menge Probleme verursacht hat. Besonders weil das Verteilungssystem der Regierung, um Hilfsmaßnahmen in die betroffenen Gebiete zu bringen, zusammenbrach. Das hat zu Unmut besonders bei den Menschen geführt, die besonders schwer von dem Erdbeben getroffen waren. Außerdem gab es Ende Juni schwere Zwischenfälle in Guiyang in der südwestlichen Provinz Guizhou. Zehntausende Menschen waren in gewalttätige Erhebungen verwickelt. Sie setzten Regierungsgebäude und die Polizeiwache in Brand und zerstörten mehrere Regierungsfahrzeuge. Zwischenfälle dieser Größenordnung finden überall auf der Welt statt, aber in China hat es solch einen Massenaufstand seit Jahrzehnten nicht gegeben. Aber wie kürzlich berichtet wurde, gab es vor wenigen Tagen einen Zwischenfall, bei dem in der nordwestlichen Provinz Xinjiang sechs Polizisten von Seperatisten getötet wurden.
Welche Forderungen kommen in diesen Kämpfen auf? Sie starten ausgehend vom Erdbeben und anderen Anlässen, aber wie entwickeln sich dann die Forderungen in den Kämpfen?
Im Moment ist das politische Massenbewusstsein noch auf einem relativ niedrigen Level. In den Kämpfen werden vor allem sehr konkrete Forderungen aufgeworfen, die mit den unmittelbaren ökonomischen Fragen und dem alltäglichen Leben verbunden sind. Es sind keine komplexen politischen Forderungen. Aber wenn diese Kämpfe sich weiter entwickeln, werden die Menschen dazu übergehen, außer den unmittelbaren ökonomischen Fragen mehr politisch bewusste Forderungen aufzustellen. Um ein Beispiel zu geben: Nach dem Erdbeben in Sichuan tauchten plötzlich mehrere Tausend Nicht-Regierungs Aktivisten und unabhängige HelferInnen auf, die versuchten, die Menschen vor Ort in ihrer schwierigen Lage zu unterstützen. In der modernen Geschichte von China ist so etwas noch nie vorher passiert. Das ist wirklich das erste Mal, dass man solch eine spontane Massenbewegung der chinesischen Bevölkerung gesehen hat. Die Regierung versuchte, die Entwicklung dieser Aktivistengruppen stark einzuschränken, weil diese den Menschen in China potentiell mehr politische Macht geben könnte. Währenddessen die Regierung versuchte die Bewegung zu unterdrücken, hatten die Aktivisten ihr politisches Bewusstsein und ihre Organisationsstrategie weiterentwickelt.
Wie hatten sie ihre Stratgie entwickelt?
Das reale politische Bewusstsein und der Grad der Organisierung beruht auf der konkreten ökonomischen Situation in China und dem ideologischen Wissen, das die Massen haben. Wie es Marx schon selbst gesagt hat, wird die Arbeiterklasse in China von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden. Wir befinden uns im Moment nur am Anfang einer ernsthaften Krise. Wenn sich die ökonomische Krise verschärft und in China eintritt, wird das Bewusstsein der Arbeiterklasse sich weiter erhöhen.
Um vielleicht nochmal auf die Situation rund um die olympischen Spiele zurückzukommen. Im Moment versucht das Regime Nationalismus anzuheizen. Zum Beispiel sind in einigen Städten schon die Reserven an chinesischen Fahnen aufgebraucht. Welche Rolle spielt Nationalismus im Moment in China?
Erst einmal dient Nationalismus als Ablenkung. Es lenkt die Aufmerksamkeit von den wirklichen ökonomischen Problemen ab, mit denen wir in China zu tun haben ab, wie zum Beispiel von den steigenden Lebensmittelpreise oder den sich verschlechternden öffentlichen Diensten. Andererseits macht es Nationalismus - gerade in einer Phase des wirtschaftlichen Abschwungs – für den Staat einfacher seine Macht zu stärken. Wir haben das besonders in der Tibet-Krise gesehen, die sich früher in diesem Jahr entwickelt hat. Das Regime benutzte die Sprache des Nationalismus, um leichter die unterdrückten Massen in Tibet unterdrücken zu können. Und bei den Protesten in Guiyang mit den gewaltsamen Aufständen benutzten sie eine ähnliche Sprache als die aufständischen Massen beschrieben haben. Sie haben die tibetanischen Aufständischen offen als schlecht und böse Kräfte bezeichnet. Und andererseits versuchten sie, bei den Protesten in Guiyang die Informationen über den Aufstand so weit wie möglich zu unterdrücken. Man kann sagen, dass im Fall von Tibet der Regierung der Nationalismus geholfen hatte, aber im zweiten Fall können sie wegen der Teilnahme von Han-Chinesen kein Nationalismus einsetzen und verwenden deshalb andere Methoden.
Weil du Tibet erwähnst: Was ist dort zur Zeit die Situation? Gibt es noch Proteste? Haben die Proteste auf andere Provinzen übergegriffen?
Bevor ich darauf im Detail eingehe, muss man erstmal festhalten, dass es sozusagen zwei verschiedene Tibet gibt: das geographische Tibet als politische Einheit, aber auch das kulturelle Tibet, dass eine Art ethnische Identität darstellt. Das geographische Tibet ist nur die alte Provinz Tibet, die auf den chinesischen Karten definiert ist. Aber das ethnisch-kulturelle Tibet hat sich weiter über die Grenzen der Provinz verbreitet. Zum Beispiel gibt es eine signifikante Zahl von Tibetern in der anliegenden Provinz Qinghai, Sichuan und auch in der Gansu-Provinz. Geographisch gesehen, hat die tibetische Region nur eine Einwohnerzahl von zirka 3 Millionen Menschen. Das ethnisch kulturelle Tibet umfasst hingegen 6 Millionen Einwohner.
So hat auch die Tibet-Krise, die sich Anfang des Jahres entwickelt hat, auch auf die ethnisch tibetischen Gebiete in den umliegenden Provinzen ausgewirkt. Das Thema Tibet ist in China tatsächlich ein komplexes ethnisches Problem, aber die Grundlage dieses Problems ist nichtsdestotrotz eine ökonomische. Das Hauptproblem ist, dass besonders in der ländlichen Region, wo die meisten Tibeter leben, die Einkommen extrem gering sind. Das gilt auch für die Tibeter in den Städten, wo sie eine Minderheit sind sowie für die Han-Chinesen in den ländlichen Regionen. Verzweifelte Armut macht die Leute letztendlich ziemlich wütend. Das gehört zu der Reihe von Gründen für die Proteste seit Anfang des Jahres. In den Protesten haben sie einen Weg gefunden, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Das Einkommen eines Tibeters ist nur ein Drittel von dem eines chinesischen Bauern.
Außerdem sind in den letzten Jahren viele Chinesen nach Tibet gekommen und haben Fabriken gegründet. Darin werden meist auch chinesische Arbeiter gegenüber tibetischen bevorzugt. Zum einen weil chinesische Wanderarbeiter aus ihrer Lage heraus bereit sind, für weniger Geld zu arbeiten. Zum anderen brauchen sie sich nicht über inner-ethnische Konflikte Sorgen machen, wenn die Arbeiter die gleiche Herkunft haben wie der Fabrikbesitzer. Diese Arbeiter, die nach Tibet kommen sind größtenteils Wanderarbeiter aus den ländlichen Regionen der Han-Chinesischen Gebiete. Dadurch haben die chinesischen Kapitalisten nicht nur die reichen Ressourcen von Tibet ausgebeutet - Tibet hat zum Beispiel reiche mineralische Ressourcen - sondern durch diese Job-Vergabe an die chinesischen Wanderarbeiter werden Tibeter und chinesische Arbeiter gegeneinander ausgespielt. Die Kombination dieser beiden Faktoren hat die tibetische Bevölkerung sehr wütend über die Han-chinesische Bevölkerung gemacht, die in diese Region gekommen ist. Aber auch in der nordwestlichen Provinz Xinjiang, wo es eine Mehrheit Uiguren gibt, findet ein ähnlicher Prozess der ethnischen Diskriminierung statt. Zum Beispiel ist es so, dass wann immer ein großes Fest stattfindet, verhaftet die han-chinesische Polizei im Vorfeld alle Uiguren, die in der Vergangenheit straffällig geworden sind, ohne das es dafür irgendwelche hinreichenden legalen Gründe gäbe. Die Leute werden dann erst aus dem Gefängnis freigelassen, wenn die ganze Ferien- und Festivalzeit vorbei ist.
Haben denn in den Protesten am Beginn diesen Jahres Han-Chinesen an den Protesten teilgenommen?
Im wesentlichen waren keine Han-Chinesen in irgendeiner Art beteiligt.
Nach Berichten war die chinesische Regierung sehr besorgt, dass die Proteste sich auf die Städte ausdehnen könnten und Han-Chinesen und andere Stadtbewohner sich daran beteiligen würden.
Tatsächlich war es eine Möglichkeit, dass die Proteste wirklich auf die Städte übergreifen würden. Aber bei den Protesten Anfang diesen Jahres waren keine Han-Chinesen beteiligt. Die Angst des chinesischen Regimes, dass die Proteste auf han-chinesische Gebiete übergreifen könnten, ist eine Wiederspiegelung der Angst, die Kontrolle in den Regionen zu verlieren. Grundsätzlich ist die Situation so: Die Han-Bevölkerung und die lokalen Regierungen sagen sich, wenn die Zentralregierung nicht einmal Tibet kontrollieren kann, wie kann sie dann die Situation hier kontrollieren. Nach dem die Proteste in Tibet Anfang des Jahres ausbrachen, hat die Zentralregierung Truppen aus den umliegenden Regionen bewegt. Insgesamt mobilisierten sie etwa 30 000 Truppen. Kleinere Massenaufstände passieren in noch größerem Maße regelmäßig in den restlichen Gebieten von China. Im letzten Jahr gab es eine ganze Reihe von Aufständen. Es wird geschätzt, dass es in der Hochregion von China letztes Jahr zwischen 60 000 und 80 000 Massenproteste gab. Die meisten finden auf einem geringerem Niveau als in Tibet statt, aber nichstdestotrotz ist die chinesische Zentralregierung sehr ängstlich, dass sie ihre zentrale Macht in den Regionen verlieren und dass sie nicht genug Kräfte haben, um alle Aufstände in China zu unterdrücken. Im Endeffekt ist es so, dass die chinesische Regierung nur effektive Kontrolle über die Regionen hat, da die Massenproteste, die stattfinden nur zeitlich begrenzt sind und sich nur sehr selten durch das Land verbreiten. Es gibt noch keine Verbindung zwischen den Massenprotesten.
Die Regierung hat vor kurzem ein Umweltprogramm aufgelegt. Wie ist der Zustand der Umwelt in China?
Der Grund warum die Regierung dazu gezwungen war, das Programm der so genannten „Grünen Olympiade“ vorzuschlagen, liegt in dem anhaltenden Druck den die chinesischen Massen augrund der schweren Umweltkrise auf die Regierung ausüben.
Kannst du ein Beispiel für diesen Druck nennen?
In der Stadt Xiaman an der südöstlichen Küste wollte ein Unternehmer aus Taiwan eine chemische Fabrik in der Nähe der Stadt bauen. Er hatte für den Bau der Fabrik umgerechnet 10 Milliarden US-Dollar investiert. Und entsprechend den internationalen Umweltgesetzen muss eine solche Fabrik, wenn sie gebaut werden soll, mehr als 200 km von einer großen Stadt entfernt sein. Wie auch immer, diese Fabrik sollte in einer Entfernung von nur 30 km von Xiaman entfernt sein, einer Stadt mit 3 Millionen Einwohnern. Deshalb wurden die Jugendlichen und normalen Leute von Xiaman sehr sauer und gingen auf die Straße. Die Zahl der Protestierenden lag irgendwo zwischen 50 000 und 60 000. Und in Zahlen ist das der größte städtische Protest seit der Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989. Durch den hohen Druck, der durch die Proteste auf die Regierung ausgeübt wurde, musste die Regierung einlenken und den Bau der Fabrik in eine Gegend mit einer geringeren Bevölkerungsdichte verlegen. Das ist zwar noch in der gleichen Provinz, aber in einer Gegend wo keine großen Städte sind. Trotzdem haben sich auch die Menschen in dem spärlich besiedelten Gebiet gewaltsam gegen den Bau der Fabrik gewehrt. Die Regierung hatte es dann nur geschafft, diesen Protest erfolgreich zu unterdrücken, in dem sie brutale Mittel ergriffen haben.
Was glaubst du was für Kämpfe in der Zukunft entstehen werden?
Es gibt viele Dinge, die Massenproteste in der Zukunft hervorrufen werden. Wenn die Wut einen bestimmten Siedepunkt erreicht, kann das zu Explosionen in den Massen führen. Nach den kürzlichen Massenprotesten in Guiyang zum Beispiel fragte der chinesische Präsident Hu Jintao: Wie kann ein einzelner Mord sich zu solch einen massiven Aufstand entwickeln? Das war aber nur die Spitze des Eisbergs. Das Problem ist, obwohl ein einzelner Mordfall objektiv nicht so wichtig sein mag, hat das dazu geführt, dass der Druck, der sich über die Zeit aufgebaut hatte, sich entladen konnte. Dieser Druck hat sich in China aufgebaut aufgrund der schweren Angriffe auf die Arbeiterklasse in den letzten Jahren. Die steigenden Preise, die Degeneration der Öffentlichen Daseinsversorgung, der Druck auf die Löhne, alle diese Faktoren führen zu wachsender Unzufriedenheit.
Es ist nicht nur ein einzelnes Ereignis an sich. Wir können auch festhalten, dass dann, wenn die ökonomische Krise sich vertieft, Massenaufstände wie in Guiyang öfter stattfinden werden. Es ist sogar möglich, dass solche Proteste gleichzeitig an unterschiedlichen Orten in China stattfinden. Wenn die chinesische Wirtschaft sich nach unten entwickelt, wird das einen Einfluss auf die Kämpfe haben. Wir wissen, dass die chinesische Regierung in der Tibet-Krise 30 000 professionelle Soldaten brauchte, um den Aufstand zu brechen. Stell dir vor, dass solche Massenaufstände gleichzeitig in verschiedenen Orten entstehen. Dann würde das Regime in große Schwierigkeiten kommen, die Kontrolle zu behalten und diese Bewegungen zu stoppen. Worüber wir uns im Moment am meisten Sorgen machen, ist nicht, ob solche Massenaufstände in China stattfinden werden, sondern wenn sie sich entwickeln, ob dann die sozialistischen Kräfte in China stark genug sind, um eingreifen zu können.