Mi 05.03.2014
Coyoacán, 30. Juli 1939
In einer der winzigen sektiererischen Zeitschriften Amerikas, die sich von Brosamen vom Tisch der Vierten Internationale ernähren und ihr dies mit schnödem Undank vergelten, stieß ich zufällig auf einen Artikel, der der ukrainischen Frage gewidmet war. Welch ein Wirrwarr! Der sektiererische Autor ist natürlich gegen die Losung einer unabhängigen Sowjetukraine. Er ist für die Weltrevolution und den Sozialismus — »ohne Wenn und Aber«.
Er beschuldigt uns, die Interessen der UdSSR zu missachten und die Konzeption der permanenten Revolution aufzugeben. Er nennt uns Zentristen. Seine Kritik ist sehr streng, beinahe schon unbarmherzig. Leider hat er gar gar nichts begriffen. (Der Name dieser winzigen Zeitschrift ist ironisch genug — The Marxist.) Sein Unverständnis ist von so ausgeprägter, beinahe klassischer Form, dass es uns hilft, die Frage umso besser und gründlicher zu beleuchten.
»Wenn die Arbeiter der Sowjetukraine den Stalinismus stürzen und einen wirklichen Arbeiterstaat errichten«, so die Ausgangsposition der Kritik, »sollen sie sich dann wirklich von der Sowjetunion loslösen? Nein.« Und so weiter und so fort. »Wenn die Arbeiter den Stalinismus stürzen…«, dann werden wir klarer sehen, was zu tun ist. Doch erst muss der Stalinismus gestürzt werden. Um das zu bewerkstelligen, darf man nicht die Augen vor den wachsenden separatistischen Strömungen in der Ukraine verschließen, sondern muss ihnen politisch korrekt Ausdruck geben.
»Nicht der Sowjetunion den Rücken zukehren«, fährt der Autor fort, »sondern sie als mächtiges Bollwerk der Weltrevolution erneuern und wiederbegründen — das ist der Weg des Marxismus.« Die tatsächliche Entwicklung der Massen, hier der national unterdrückten Massen, ersetzt unser Weiser durch Mutmaßungen über die bestmöglichen Entwicklungswege. Analog dieser Methode, nur mit größter Folgerichtigkeit, könnte man auch sagen: »Nicht die Verteidigung der entarteten Sowjetunion ist unsere Aufgabe, sondern die siegreiche Weltrevolution, die die ganze Welt in einen Sowjetstaat verwandeln wird« usw. Solche Aphorismen führen zu nichts.
Unser Kritiker wiederholt mehrfach unsere Aussage, dass das Schicksal einer unabhängigen Ukraine untrennbar mit der proletarischen Weltrevolution verbunden ist. Aus dieser allgemeinen Perspektive, dem ABC eines Marxisten, gelingt es ihm jedoch, eine Konzeption herauszuklügeln, die sich durch abwartende Passivität und nationalen Nihilismus auszeichnet. Der Sieg der proletarischen Revolution im Weltmaßstab ist das Endresultat vielfältiger Bewegungen, Kampagnen und Kämpfe und keineswegs eine feststehende Voraussetzung für die automatische Lösung aller Fragen. Ein direktes und unerschrockenes Aufgreifen der ukrainischen Frage, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände, erleichtert den Zusammenschluss der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen mit dem Proletariat. So hat es sich auch in Russland 1917 abgespielt.
Unser Autor könnte natürlich einwenden, dass der Oktoberrevolution in Russland eine bürgerliche Revolution vorausgegangen ist und heute die sozialistische Revolution schon weit zurückliegt. Eine Forderung, die 1917 vielleicht noch fortschrittlich gewesen ist, kann heute schon reaktionär sein. Eine solche für Bürokraten und Sektierer ganz typische Überlegung, ist von Anfang bis Ende falsch.
Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung ist natürlich ein demokratisches und kein sozialistisches Prinzip. Da jedoch die Prinzipien wahrer Demokratie in unserer Epoche nur vom revolutionären Proletariat unterstützt und verwirklicht werden, sind sie mit den sozialistischen Aufgaben eng verknüpft. Der entschiedene Kampf der bolschewistischen Partei für das Recht der unterdrückten Nationen Russlands auf Selbstbestimmung hat dem Proletariat die Machteroberung außerordentlich erleichtert. Der proletarische Umsturz löste auch die demokratischen Aufgaben, vor allem das Agrarproblem und die Nationalitätenfrage, wodurch die russische Revolution einen kombinierten Charakter erhielt. Das Proletariat hatte sich bereits sozialistische Aufgaben gestellt, doch es konnte auch die Bauernschaft und die unterdrückten Nationalitäten (in ihrer Mehrheit Bauern), die noch mit der Lösung ihrer demokratischen Aufgaben beschäftigt waren, nicht sofort auf dieses Niveau heben. Das erklärt die historisch unvermeidbaren Kompromisse in der Agrar- und in der Nationalitätenfrage. Trotz der ökonomischen Vorteile landwirtschaftlicher Großbetriebe war die Sowjetregierung gezwungen, die großen Güter aufzuteilen. Erst Jahre später ging die Regierung zur Kollektivwirtschaft über und wagte sich sofort zu weit, so dass sie nach einigen Jahren gezwungen war, den Bauern Zugeständnisse in Form von privatem Hofland zu machen, das vielerorts die Kolchosen zu überwuchern droht. Die nächsten Etappen dieses widersprüchlichen Prozesses sind noch nicht abzusehen.
Die Notwendigkeit zum Kompromiss oder richtiger zu einer Reihe von Kompromissen bestand auch in der nationalen Frage, deren Wege ebenso verschlungen sind wie die Wege der Agrarrevolution. Der föderative Aufbau der Sowjetrepublik stellt einen Kompromiss dar zwischen den zentralistischen Bedürfnissen der Planwirtschaft und den dezentralistischen Bedürfnissen der vormals unterdrückten Nationen. Da die bolschewistische Partei den Arbeiterstaat auf einem Kompromiss — dem Föderalismus — aufgebaut hat, verankerte sie in der Verfassung das Recht der Nationalitäten auf vollständige Loslösung von Russland; die Partei gab damit zu verstehen, dass sie die nationale Frage keineswegs für endgültig gelöst hielt. Der Autor des kritischen Artikels verweist darauf, dass die Parteiführer hofften, »die verschiedenen Nationalitäten davon zu überzeugen, den Rahmen der Föderierten Sowjetrepublik nicht zu verlassen«. Das stimmt, wenn man das Wort »überzeugen« nicht im Sinne logischer Argumente verwendet, sondern im Sinne der Erfahrung von wirtschaftlicher, politischer und kultureller Zusammenarbeit. Eine abstrakte Agitation für Zentralismus hat an sich keine Überzeugungskraft. Die Föderation war, wie gesagt, eine notwendige Abweichung vom Zentralismus. Hinzufügen muss man noch, dass die inhaltliche Bestimmung des Begriffs Föderation keineswegs im voraus ein für allemal festgelegt ist. Je nach den objektiven Bedingungen kann sich die Föderation mehr in Richtung Zentralismus oder umgekehrt mehr in Richtung größerer Selbständigkeit ihrer nationalen Bestandteile entwickeln. In politischer Hinsicht handelt es sich nicht darum, ob das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten in einem einzigen Staat »im allgemeinen« von Vorteil ist, sondern ob eine bestimmte Nationalität aufgrund ihrer eigenen Erfahrung zu dem Schluss kommt, dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat für sie von Vorteil ist.
In anderen Worten: Welche der beiden Tendenzen wird sich unter den gegebenen Bedingungen im Rahmen des Föderationskompromisses durchsetzen: das zentrifugale oder das zentripetale Prinzip? Oder noch konkreter: Ist es Stalin und seinen ukrainischen Satrapen gelungen, die ukrainischen Massen von der Vorteilhaftigkeit des Moskauer Zentralismus gegenüber einer ukrainischen Selbständigkeit zu überzeugen oder ist es ihm nicht gelungen? Diese Frage ist von entscheidender Bedeutung. Doch unser Autor ahnt noch nicht einmal etwas von ihrem Vorhandensein.
Wollen sich die ukrainischen Volksmassen von der UdSSR loslösen? Auf den ersten Blick scheint es schwierig, diese Frage zu beantworten, weil das ukrainische Volk wie alle anderen Völker der UdSSR jeder Möglichkeit beraubt ist, seinen Willen auszudrücken. Doch schon das Entstehen des totalitären Regimes und seine immer größere Brutalität, besonders in der Ukraine, beweisen, dass die ukrainischen Massen von unversöhnlicher Feindschaft gegenüber der Sowjetbürokratie erfüllt sind. Und es ist offenkundig, dass eine der wichtigsten Ursachen dieser Feindschaft die Unterdrückung der ukrainischen Unabhängigkeit ist. Nationale Strömungen brachen in der Ukraine in den Jahren 1917-19 mit aller Macht auf. Auf dem linken Flügel fanden diese Strömungen ihren Ausdruck in der Borotba-Partei. Das wichtigste Indiz für den Erfolg der leninistischen Politik in der Ukraine war die Vereinigung der ukrainischen Bolschewistischen Partei mit der Organisation der Borotbisten. Doch im Verlauf des folgenden Jahrzehnts kam es faktisch zum Bruch mit der Borotba-Gruppe, ihre Führer wurden verfolgt. Der alte Bolschewik Skrypnik, ein hundertprozentiger Stalinist, wurde 1933 zum Selbstmord getrieben, weil er angeblich die nationalistischen Strömungen begünstigt hatte. Faktischer »Organisator« dieses Selbstmords aber war Stalins Abgesandter Postyschew, der dann als Vertreter der zentralistischen Politik in der Ukraine blieb. Kurze Zeit später fiel auch Postyschew in Ungnade. Diese Tatsachen sind sehr bezeichnend, offenbaren sie doch den Druck der nationalistischen Opposition auf die Bürokratie. Nirgendwo nahmen die Säuberungen und Repressionen einen derart grausamen und umfassenden Charakter an wie in der Ukraine.
Die schroffe Abkehr aller nichtsowjetischen demokratischen Kräfte unter den Ukrainern von der Sowjetunion ist von ungeheurer politischer Bedeutung. Als sich das ukrainische Problem zu Beginn dieses Jahres zuspitzte, waren kommunistische Stimmen überhaupt nicht zu vernehmen; dafür hörte man die Stimmen der ukrainischen Klerikalen und der National-Sozialisten umso besser. Das heißt, die ukrainische Nationalbewegung ist den Händen der proletarischen Avantgarde entglitten und auf dem Weg zum Separatismus weit vorangeschritten. Auch die Haltung der ukrainischen Emigration auf dem amerikanischen Kontinent ist sehr bezeichnend. In Kanada zum Beispiel, wo die Ukrainer den Hauptteil der Kommunistischen Partei stellten, beginnt seit 1933, wie mir ein führender Teilnehmer der Bewegung schreibt, eine schroffe Abkehr der ukrainischen Arbeiter und Farmer vom Kommunismus hin zu Passivität oder zum Nationalismus aller Spielarten Zusammengenommen bezeugen alle diese Fakten und Symptome zweifelsfrei die wachsende Kraft separatistischer Tendenzen unter den ukrainischen Massen.
Das ist das grundlegende Element des gesamten Problems. Es zeigt, dass ungeachtet des großen Fortschritts der Oktoberrevolution auf dem Gebiet der nationalen Beziehungen eine isolierte proletarische Revolution in einem rückständigen Land nicht in der Lage ist, die nationale Frage insbesondere der Ukraine zu lösen, die ihrem Wesen nach einen internationalen Charakter besitzt. Die thermidorianische Reaktion und die von ihr gesalbte bonapartistische Bürokratie haben die arbeitenden Massen auch auf nationalem Gebiet weit zurückgeworfen. Die Masse des ukrainischen Volkes ist mit ihrem nationalen Schicksal unzufrieden und möchte es radikal ändern. Von dieser Tatsache muss ein revolutionärer Politiker, im Unterschied zum Bürokraten und zum Sektierer, ausgehen.
Wenn unser Kritiker es verstände, politisch zu denken, könnte er sich die Argumente der Stalinisten gegen eine unabhängige Ukraine mühelos selbst vorstellen: »Das ist gegen die Sicherheit der UdSSR«; »spaltet die Einheit der revolutionären Massen«; »dient nicht den Interessen der Revolution, sondern dem Imperialismus«. Mit anderen Worten, die Stalinisten würden alle drei Argumente unseres Autors wiederholen. Morgen tun sie es mit Sicherheit.
Die Kreml-Bürokratie erklärt der Sowjetfrau: »Weil bei uns der Sozialismus herrscht, musst Du Dich glücklich fühlen und darfst nicht abtreiben (oder Du wirst bestraft).« Und dem Ukrainer erklärt sie: »Weil bei uns die soziale Revolution die nationale Frage gelöst hat, bist Du verpflichtet, in der UdSSR glücklich zu sein und nicht an Separation denken (oder Du wirst erschossen.)«
Was sagt der Revolutionär der Frau: »Du wirst selbst entscheiden, ob Du Kinder willst oder nicht; ich werde Dein Recht auf Abtreibung gegen die Gendarmen des Kreml verteidigen.« Und dem ukrainischen Volk sagt er: »Nicht die ‚sozialistischen' Sophismen der Kreml-Gendarmen sind für mich entscheidend, sondern Deine eigene Haltung zu Deinem nationalen Schicksal; ich werde Deinen Kampf um Unabhängigkeit mit all meiner Kraft unterstützen.«
Der Sektierer steht, wie es öfter vorkommt, auf der Seite des Gendarmen, indem er den Status quo, d.h. die Polizeigewalt, rechtfertigt, durch die sterile Spekulation, dass die sozialistische Vereinigung der Nationalitäten vorteilhafter ist als eine Aufsplitterung. Im Vergleich zu einer freiwilligen und gleichberechtigten sozialistischen Föderation ist die Lostrennung der Ukraine natürlich ein Rückschritt; im Vergleich zur bürokratischen Erdrosselung des ukrainischen Volkes ist sie aber zweifellos ein Fortschritt. Um sich enger und ehrlicher zusammenzuschließen, muss man sich zunächst trennen. Lenin wies oft darauf hin, dass das Verhältnis zwischen den norwegischen und schwedischen Arbeitern nach der Auflösung der Zwangsunion von Norwegen und Schweden besser und enger geworden ist.
Man muss von Tatsachen ausgehen, nicht von Idealnormen. Für die thermidorianische Reaktion in der UdSSR, für die Niederlage einer Reihe von Revolutionen und die Siege des Faschismus — der die Landkarte Europas auf seine eigene Weise umgestaltet — muss auf allen Gebieten, auch in der ukrainischen Frage, in klingender Münze bezahlt werden. Wenn wir die neu entstandene Lage ignorierten, wenn wir uns verhielten, als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre, und den unangenehmen Tatsachen altbekannte Abstraktionen entgegensetzten, dann treten wir möglicherweise der Reaktion die letzte Chance zur Revanche in mehr oder minder naher Zukunft ab.
Die Losung einer unabhängigen Ukraine interpretiert unser Autor folgendermaßen: »Zuerst muss die Sowjetukraine von der übrigen Sowjetunion befreit werden; dann wird es zur proletarischen Revolution und zur Vereinigung mit der restlichen Ukraine kommen.« Aber wie ist die Loslösung von der UdSSR ohne vorherige Revolution möglich? Man bewegt sich in einem Teufelskreis, und die Losung einer unabhängigen Ukraine ist ebenso hoffnungslos kompromittiert wie die »falsche Logik« Trotzkis. In Wirklichkeit ist diese seltsame Abfolge von »zuerst« und »dann« lediglich ein bemerkenswertes Beispiel scholastischen Denkens. Unser armer Kritiker hat keinen Begriff davon, dass historische Prozesse nicht »erst« und »dann«, sondern parallel ablaufen, aufeinander einwirken, sich gegenseitig beschleunigen oder verzögern, und dass es eben Aufgabe revolutionärer Politik ist, Wirkung und Wechselwirkung fortschrittlicher Prozesse zu beschleunigen. Die Losung einer unabhängigen Ukraine richtet sich unmittelbar gegen die Moskauer Bürokratie und ermöglicht der proletarischen Avantgarde, die Bauernmassen um sich zu sammeln. Die gleiche Forderung ermöglicht der proletarischen Partei zudem, eine führende Rolle in der ukrainischen Nationalbewegung in Polen, Rumänien und Ungarn zu spielen. Beide politischen Prozesse werden die revolutionäre Bewegung vorantreiben und das spezifische Gewicht der proletarischen Avantgarde stärken.
Meine Feststellung, dass sich die Arbeiter und Bauern der West-Ukraine (Polen) nicht der heutigen Sowjetunion anschließen wollen und dass eben dies ein zusätzliches Argument für eine unabhängige Ukraine ist, pariert unser Schlaukopf folgendermaßen: Selbst wenn sie wollten, könnten sie sich nicht der Sowjetunion anschließen, weil das erst »nach der proletarischen Revolution in der West-Ukraine« (offensichtlich Polen) möglich sei. Mit anderen Worten: Augenblicklich ist die Loslösung der Ukraine unmöglich, nach dem Sieg der Revolution aber wäre ein solcher Schritt reaktionär. Ein alter und bekannter Refrain! Luxemburg, Bucharin, Pjatakow und viele andere führten gegen das Programm der nationalen Selbstbestimmung genau dasselbe Argument ins Treffen: Unter dem Kapitalismus ist es utopisch, unter dem Sozialismus reaktionär. Dieses Argument ist grundfalsch, weil es die Epoche der sozialen Revolution und deren Aufgaben ignoriert. Es ist sicher richtig, dass unter dem Imperialismus eine wirklich dauerhafte und gesicherte Unabhängigkeit der kleinen und mittleren Nationen nicht möglich ist. Es ist auch wahr, dass im vollständig entwickelten Sozialismus, d.h. wenn der Staat bereits im Absterben begriffen ist, die Frage der nationalen Grenzen bedeutungslos wird. Doch zwischen diesen beiden Situationen — der von heute und dem vollendeten Sozialismus —werden noch Jahrzehnte vergehen, in deren Verlauf wir unser Programm in die Wirklichkeit umsetzen wollen. Für die Mobilisierung der Massen und ihre Erziehung in der Übergangsepoche erlangt die Losung einer unabhängigen Sowjetukraine sehr große Bedeutung.
Der Sektierer ignoriert einfach, dass der nationale Kampf, als eine der verworrensten und unübersichtlichsten, aber zugleich äußerst wichtigen Formen des Klassenkampfes, nicht durch bloßen Verweis auf die künftige Weltrevolution entschieden werden kann. Wenn die kleinbürgerlichen und selbst die proletarischen Massen der West-Ukraine sich von der UdSSR abwenden, gleichzeitig aber vom internationalen Proletariat weder Unterstützung noch Führung erfahren, fallen sie der reaktionären Demagogie zum Opfer. Entsprechende Entwicklungen finden zweifellos auch in der Sowjetukraine statt, nur ist es schwieriger, sie aufzudecken. Die rechtzeitig von der proletarischen Avantgarde propagierte Losung einer unabhängigen Ukraine wird unvermeidlich das Kleinbürgertum spalten und ihren unteren Schichten ein Bündnis mit dem Proletariat erleichtern. Nur auf diesem Weg kann die proletarische Revolution vorbereitet werden.
»Wenn die Arbeiter in der West-Ukraine eine erfolgreiche Revolution durchführen…«, darauf kommt unser Autor immer wieder zurück, »sollte es dann unsere Strategie sein, die Loslösung der Sowjetukraine von der UdSSR und ihre Vereinigung mit dem westlichen Teil zu fordern? Ganz im Gegenteil.« Diese Phrase beleuchtet die ganze Tiefe »unserer Strategie«. Wieder die gleiche Wendung: »Wenn die Arbeiter … durchführen …« Der Sektierer begnügt sich mit logischen Schlussfolgerungen aus der Annahme einer siegreichen Revolution, während für den Revolutionär die Frage darin besteht, wie der Revolution der Weg geebnet wird, wie sie den Massen nahe gebracht werden kann, wie man sich der Revolution annähert, wie ihr Sieg sicherzustellen ist. »Wenn die Arbeiter« eine siegreiche Revolution »durchführen«, dann ist natürlich alles gut. Doch heute haben wir keine siegreiche Revolution, stattdessen nur eine siegreiche Reaktion. Die Brücke von der Reaktion zur Revolution zu schlagen — das ist die Aufgabe. Nebenbei bemerkt, ist das auch der Sinn unseres gesamten Programms von Übergangsforderungen (Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale). Es ist nicht verwunderlich, wenn die Sektierer aller Schattierungen seinen Sinn nicht verstehen. Sie operieren mit Abstraktionen — mit einer Abstraktion des Imperialismus und einer Abstraktion der sozialistischen Revolution. Die Frage, wie man vom realen Imperialismus zur realen Revolution kommt, wie man die Massen in einer konkreten historischen Situation für die Machteroberung mobilisiert, bleibt für diese sterilen Schlaumeier ein Buch mit sieben Siegeln.
Während unser Kritiker wahllos die fürchterlichsten Anschuldigungen vorbringt, erklärt er gleichzeitig, dass die Losung einer unabhängigen Ukraine den Interessen der Imperialisten (!) und Stalinisten (!!) dient, weil sie »die Position der Verteidigung der Sowjetunion vollständig negiert«. Was hier die »Interessen der Stalinisten« sollen, ist unverständlich. Doch beschränken wir uns auf die Frage der Verteidigung der UdSSR. Diese Verteidigung könnte durch eine unabhängige Ukraine nur dann bedroht sein, wenn diese nicht nur der Bürokratie, sondern auch der UdSSR feindlich gesinnt wäre. Kann bei einer solchen (offensichtlich falschen) Annahme ein Sozialist denn überhaupt fordern, dass eine feindliche Ukraine weiterhin im Verband der UdSSR verbleiben soll? Oder bezieht sich das Problem nur auf die Phase der nationalen Revolution? Dass eine politische Revolution gegen die bonapartistische Bürokratie unvermeidlich ist, erkennt jedenfalls auch unser Kritiker an. Vom Standpunkt der Verteidigung aus stellt diese Revolution wie jede andere sicherlich eine gewisse Gefahr dar. Was nun? Wenn unser Kritiker das Problem gründlich durchdacht hätte, würde er antworten, dass diese Gefahr ein unvermeidliches historisches Risiko darstellt, das man nicht umgehen kann, weil die UdSSR unter der Herrschaft der bonapartistischen Bürokratie zum Untergang verurteilt ist. Und genau die gleiche Überlegung trifft für einen revolutionären nationalen Aufstand zu, der nur ein besonderer Teilaspekt der politischen Revolution ist.
Es ist bemerkenswert, dass ein viel wichtigeres Argument gegen die Unabhängigkeit unserem Kritiker gar nicht in den Sinn kommt. Die Wirtschaft der UdSSR ist eine Planwirtschaft. Die Wirtschaft der Sowjetukraine ist in diesen Plan integriert. Die Abtrennung der Ukraine würde den Plan gefährden und die Produktivkräfte verringern. Doch auch dieser Einwand ist nicht entscheidend. Ein Wirtschaftsplan ist nicht das Allerheiligste. Wenn nationale Teile einer Föderation trotz eines einheitlichen Planes in entgegengesetzte Richtungen streben, dann heißt das, dass der Plan sie nicht zufrieden stellt. Einen Plan kann man ändern. Man kann ihn unter Berücksichtigung neuer Grenzen überarbeiten. Soweit der Plan für die Ukraine von Vorteil ist, wird sie schon von sich aus mit der Sowjetunion die notwendigen Wirtschaftsverträge und Militärbündnisse abzuschließen wissen.
Man darf auch nicht vergessen, dass die räuberische Willkürherrschaft der Bürokratie ein wesentliches Element des gegenwärtigen Wirtschaftsplanes darstellt und von der Ukraine einen hohen Tribut fordert. Gerade unter diesem Gesichtspunkt muss der Plan radikal geändert werden. Die überlebte herrschende Kaste zerstört systematisch die Wirtschaft, Armee und Kultur des Landes; sie vernichtet die Blüte des Landes und ebnet einer Katastrophe den Weg. Die Errungenschaften der Revolution können nur durch einen Umsturz bewahrt werden. Je kühner und entschiedener die Politik der revolutionären Avantgarde auch in der nationalen Frage ist, desto rascher wird der revolutionäre Umsturz erfolgen und desto geringer werden dessen Gesamtkosten sein.
Die Losung einer unabhängigen Ukraine bedeutet nicht, dass die Ukraine für immer isoliert bleibt; sie bedeutet lediglich, dass die Ukraine ihre Beziehungen zu den anderen Teilen der Sowjetunion und ihren westlichen Nachbarn neu und nach ihrem eigenen Willen regelt. Betrachten wir den Idealfall — für unseren Kritiker das günstigste. Die Revolution findet in allen Teilen der Sowjetunion gleichzeitig statt. Der bürokratische Krake ist zerschlagen und beseitigt. Der verfassungsgebende Sowjetkongress steht bevor. Die Ukraine will ihre Beziehungen zur Sowjetunion neu regeln. Dieses Recht gesteht ihr hoffentlich auch unser Kritiker zu. Nun, um frei ihre Beziehungen zu den übrigen Teilen der Sowjetrepublik gestalten zu können, um ja oder nein sagen zu können, muss die Ukraine wenigstens in der Phase der Verfassungsgebung volle Handlungsfreiheit besitzen. Das nennt man gewöhnlich staatliche Souveränität. Jetzt nehmen wir einmal an, die Revolution erfasst gleichzeitig auch Polen, Rumänien und Ungarn. Alle Teile des ukrainischen Volkes erhalten die Freiheit und treten in Verhandlungen über die Bildung einer vereinigten Sowjetukraine ein. Alle wollen zugleich ihre Meinung über die Beziehungen zwischen einer vereinigten Ukraine und der Sowjetunion, Sowjetpolen usw. kundtun. Um diese Fragen zu entscheiden, ist offensichtlich ein verfassungsgebender Sowjetkongress der vereinigten Ukraine notwendig. Ein »verfassungsgebender« Kongress aber, das ist der Kongress eines unabhängigen Staates, der sich anschickt, sowohl seine innere Ordnung als auch seine internationalen Beziehungen neu zu bestimmen.
Es besteht aller Grund zu der Annahme, dass im Falle des Sieges der Weltrevolution die Vereinigungstendenzen sogleich sehr stark sein werden und dass alle Sowjetrepubliken geeignete Formen für ihre Beziehungen und ihre Zusammenarbeit finden werden. Doch dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die alten, aufgezwungenen Beziehungen und damit auch die alten Grenzen vollkommen beseitigt werden, wenn alle Beteiligten vollkommen unabhängig sind. Um diesen Prozess zu beschleunigen und zu erleichtern und um einen wirklich brüderlichen Bund der Völker in der Zukunft zu ermöglichen, müssen die politisch bewussten Arbeiter Großrusslands schon jetzt die Ursachen des ukrainischen Separatismus, seine Stärke und seine historischen Gesetzmäßigkeiten verstehen und dem ukrainischen Volk vorbehaltlos erklären, dass sie bereit sind, die Losung einer unabhängigen Ukraine im gemeinsamen Kampf gegen die selbstherrliche Bürokratie und den Imperialismus mit allen Kräften zu unterstützen.
Die kleinbürgerlichen ukrainischen Nationalisten halten die Losung einer unabhängigen Ukraine für richtig, sie lehnen es jedoch ab, diese Losung mit der proletarischen Revolution in Verbindung zu bringen. Sie wollen eine unabhängige demokratische Ukraine und keine Sowjetukraine. Eine genaue Analyse dieser Frage ist hier fehl am Platz, weil sie nicht die Ukraine allein, sondern die Einschätzung unserer Epoche allgemein betrifft, die wir schon häufig analysiert haben. Wir erwähnen hier nur die wichtigsten Gesichtspunkte. Die Demokratie verfault und zerfällt selbst in ihren alten Hochburgen. Nur die reichsten Kolonialimperien oder die besonders privilegierten bürgerlichen Länder können heute die demokratische Staatsform noch aufrechterhalten, aber auch dort ist sie im Niedergang. Es besteht nicht der geringste Grund für die Annahme, dass in der verarmten und rückständigen Ukraine ein demokratisches Regime geschaffen und am Leben erhalten werden könnte. Der Unabhängigkeit einer Ukraine, die von imperialistischen Staaten eingekreist ist, wäre ohnehin nur eine kurze Dauer beschieden. Das Beispiel Tschechoslowakei zeigt das mit aller Deutlichkeit. Solange die Gesetze des Imperialismus herrschen, bleibt das Schicksal der kleinen und mittleren Nationen unsicher. Nur die proletarische Revolution kann den Imperialismus niederwerfen. Der größte Teil der ukrainischen Nation lebt in der heutigen Sowjetukraine. Die Entwicklung der Industrie schuf hier ein machtvolles, rein ukrainisches Proletariat.
Es ist zum Führer des ukrainischen Volkes in all seinen künftigen Kämpfen berufen. Das ukrainische Proletariat will sich aus den Klauen der Bürokratie befreien. Aber es will nicht zurück zur bürgerlichen Demokratie. Die Losung einer demokratischen Ukraine ist historisch überholt. Sie kann höchstens bürgerliche Intellektuelle trösten. Die Massen wird sie nicht vereinen. Und ohne die Massen kann die Ukraine weder befreit noch vereinigt werden.
Unser gestrenger Kritiker wirft uns in einem fort »Zentrismus« vor; angeblich hat er den ganzen Artikel nur geschrieben, um ein besonders leuchtendes Muster unseres »Zentrismus« zu enthüllen. Doch nicht ein einziges Mal versucht er zu zeigen, worin eigentlich der »Zentrismus« der Losung einer unabhängigen Ukraine besteht. Das wäre auch nicht leicht. Als Zentrismus bezeichnet man eine Politik, die dem Wesen nach opportunistisch ist, ihrer Form nach aber als revolutionär erscheinen will. Unter Opportunismus ist die passive Anpassung an die herrschende Klasse und ihr Regime, an das, was bereits existiert und natürlich einschließlich der Staatsgrenzen, zu verstehen. Der Zentrismus teilt diese Wesenszüge des Opportunismus vollständig, er verschleiert dies aber durch radikale Kommentare, um sich den unzufriedenen Arbeitern anzupassen. Wenn wir von dieser wissenschaftlichen Bestimmung ausgehen, erweist sich die Position unseres unglückseligen Kritikers als durch und durch zentristisch. Er sieht die ganze Nationen zerstückelnden Grenzen als etwas Unantastbares an —während sie aus dem Blickwinkel einer rationalen und revolutionären Politik zufällig sind. Die internationale Revolution, die für ihn keine lebendige Realität ist, sondern Beschwörungsformel eines Schamanen, muss unzweideutig von diesen Grenzen ausgehen. Die zentrifugalen nationalen Tendenzen, die die Mühle der Reaktion oder die der Revolution treiben können, interessieren ihn nicht. Sie passen nicht in seinen trägen, kanzleimäßigen Plan, der nach dem Schema »zuerst« — »dann« ablaufen soll. Vor dem Kampf für nationale Unabhängigkeit und gegen die bürokratische Erdrosselung drückt er sich mit Erörterungen über die Vorteile sozialistischer Einheit. Mit anderen Worten: Seine Politik—wenn man die scholastische Kommentierung der Politik anderer überhaupt Politik nennen kann — zeichnet sich durch die schlimmsten Eigenschaften des Zentrismus aus.
Der Sektierer ist ein Opportunist, der sich vor sich selbst fürchtet. Im Sektierertum bleibt der Opportunismus (Zentrismus) anfangs wie eine zarte Knospe verborgen. Im Lauf der Zeit blüht sie auf — zu einem Drittel — zur Hälfte — und mehr. Wir sehen dann die seltsame Kombination von Sektierertum und Zentrismus (Vereeken) oder von Sektierertum und minderwertigem Opportunismus (Sneevliet). Manchmal verfault die Knospe auch, ohne sich voll geöffnet zu haben (Oehler). Wenn ich mich nicht irre, ist Oehler der Redakteur der Zeitschrift The Marxist.