Di 09.07.2024
Am 22.6.1924 wurde das “Institut für Sozialforschung” in Frankfurt eröffnet. Es begann als ein Projekt einer Gruppe junger marxistischer Intellektueller: nach dem Scheitern der Revolution aufgrund des Verrats der Sozialdemokratie, und angesichts der Degeneration der russischen Revolution zur Parteidiktatur, wollten sie einen Ort schaffen, um den Marxismus unabhängig zu studieren und weiterentwickeln.
Am Anfang arbeitete das Institut vor allem zur Geschichte des Marxismus. Mit David Rjazanov vom Marx-Engels-Institut in Moskau wurde z.B. die wichtige Schrift Die Deutsche Ideologie von Marx und Engels entdeckt und veröffentlicht. 1930 übernahm Max Horkheimer die Leitung und nannte das Projekt nun “Kritische Theorie”. Ins Zentrum rückte die Frage, warum die Arbeiter*innenklasse sich die Revolution stehlen hatte lassen - und warum sie nun dem aufstrebenden Faschismus so passiv gegenüberstand. Die Arbeiten des Instituts ließen nur den Schluss zu, dass die Klasse durch die reformistischen und stalinistischen Führungen gelähmt wurde - denn diese zogen “Parteisoldaten” statt eigenständiger Aktivist*innen heran -, und dass die Lähmung angesichts des drohenden Faschismus in der Praxis aufgebrochen werden muss. Doch genau davor schreckten Horkheimer & Co. zurück.
Kritische Theorie ohne revolutionäre Praxis?
Das kritisierte der junge Revolutionär und Mitstreiter von Leo Trotzki, Walter Held. 1939 lobte er Horkheimers Aufsätze für ihre theoretische Tiefe und für Analysen, “die uns wahrhaft aus dem Herzen gesprochen” sind. Doch gleichzeitig deckte er die Schwäche Horkheimers und der Kritischen Theorie auf: “Während er in der Theorie die Notwendigkeit der Einheit von Theorie und Praxis anerkennt, verleugnet er dieselbe in der Praxis”. Als Horkheimer das las, nannte er es “das Beste, was ich seit je über uns gelesen habe.” Die Kritik treffe “ins Schwarze”. Doch aus Angst vor akademischer Isolation und Verfolgung durch westliche wie östliche Geheimdienste grenzte man sich von den Trotzkist*innen ab, die tagtäglich ihr Leben riskierten. Sowohl Rjazanov als auch Held wurden von Stalins Regime wegen “Trotzkismus” erschossen.
Weltkrieg und Holocaust verarbeiteten Horkheimer und sein Kollege Theodor Adorno in “Dialektik der Aufklärung”. Sie wollten zeigen, dass der faschistische und antisemitische Wahn nicht das Gegenteil der bürgerlichen Vernunft im Kapitalismus ist - sondern die Konsequenz ihrer inneren Widersprüche. Zwar hielten sie in verschlüsselter Sprache daran fest, dass nur die Arbeiter*innenklasse durch eine Revolution dem Leiden ein Ende setzen kann. Doch dafür sahen sie immer weniger Hoffnung. Sie konzentrierten sich auf Faktoren, die das Klassenbewusstsein behindern: Das Einsickern kapitalistischer Ideologie in alle Bereiche des Lebens, die Kulturindustrie, die Massenmedien - vor allem aber der erstarkte Staat, welcher im Nachkriegsaufschwung die Klassenwidersprüche milderte. Wie die meisten marxistischen Strömungen zu dieser Zeit hatten sie die falsche Analyse, dass der Kapitalismus so seine Krisenhaftigkeit überwunden hätte - und dass deswegen zumindest auf absehbare Zeit von der Arbeiter*innenklasse keine Gefahr für ihn ausgehen würde.
Nach Frankfurt zurückgekehrt, passten sich Horkheimer und Adorno immer mehr der Staatsräson der BRD an und hielten ihre alten Schriften unter Verschluss. Sie verbreiteten sich dennoch in den Protestbewegungen der 1960er - bis es zum offenen Konflikt zwischen Studierenden und ihren geistigen Ziehvätern kam. Horkheimer verteidigte den US-Imperialismus, Adorno sah in den Protesten Ähnlichkeiten mit faschistischen Mobs. Nur Herbert Marcuse stellte sich an die Seite der Studierenden- und Frauenbewegung sowie der antikolonialen Bewegungen. Doch auch seine Beiträge litten unter der falschen Analyse, dass es auf der ökonomischen Ebene zu keinen größeren Kämpfen kommen werde.
Heute präsentieren sich sogenannte “Antideutsche” als die Erben der Kritischen Theorie - tatsächlich knüpfen sie nur an deren Schwachpunkte an und verfälschen die Theorie, um ihrer absurden Politik (z.B. die Unterstützung der rechtsextremen israelischen Regierung im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus) einen linken Anstrich zu geben. Sie könnten nicht weiter weg von den marxistischen Wurzeln der “Frankfurter Schule” sein.
Deren am Anfang stehende Fragen nach Entwicklung und Hemmung von Klassenbewusstsein sind jedoch heute noch aktuell - beantworten können wir sie nur durch die Einheit von Theorie und Praxis.