Do 10.11.2005
Heruntergekommene Skeptiker wie Souvarine glauben, daß “niemand weiß”, was Dialektik ist. Und es gibt “Marxisten”, die sich ehrfürchtig vor Souvarine verneigen und etwas von ihm zu lernen hoffen. Und diese Marxisten verstecken sich nicht nur in der Modern Monthly. Leider gibt es eine Strömung des Souvarinismus in der gegenwärtigen Opposition der SWP. Und hier muß man die jungen Genossen warnen: Hütet euch vor dieser bösartigen Krankheit!
Die Dialektik ist weder eine Erfindung noch Mystizismus, sondern eine Wissenschaft unserer Denkformen, insofern als sie sich nicht auf die Probleme des täglichen Lebens beschränkt, sondern versucht, die komplizierteren und umfangreicheren Prozesse zu verstehen. Die Dialektik und die formale Logik stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie die höhere und die elementare Mathematik.
Ich werde hier das Wesen des Problems in sehr knapper Form zu umreißen versuchen. Die Aristotelische Logik des einfachen Syllogismus geht von der Behauptung A=A aus. Diese Grundvoraussetzung wird als Axiom für eine Menge praktischer menschlicher Handlungen und einfacher Verallgemeinerungen akzeptiert. Aber in Wirklichkeit ist “A” nicht gleich “A”. Das läßt sich leicht beweisen, wenn wir diese beiden Buchstaben unter einer Lupe betrachten, sie unterscheiden sich ziemlich. Aber, kann man einwenden, es handelt sich nicht um die Größe und Form der Buchstaben, da sie ja nur Symbole für gleiche Quantitäten sind, zum Beispiel für ein Pfund Zucker. Dieser Einwand ist abwegig. In Wirklichkeit ist ein Pfund Zucker niemals gleich einem Pfund Zucker – eine feinere Waage deckt immer einen Unterschied auf. Man kann wieder einwenden: Aber ein Pfund Zucker ist sich selbst gleich. Auch das stimmt nicht – alle Körper ändern sich unablässig in ihrer Größe, ihrem Gewicht, ihrer Farbe usw. Sie sind niemals sich selbst gleich. Ein Sophist wird antworten, daß ein Pfund Zucker sich selbst “in einem bestimmten Augenblick” gleich ist. Abgesehen von dem äußerst zweifelhaften praktischen Wert dieses “Axioms” hält es auch theoretischer Kritik nicht stand. Wie sollen wir praktisch das Wort “Augenblick” begreifen? Wenn es ein unendlich kleiner Zeitabschnitt ist, dann ist ein Pfund Zucker während des Verlaufes dieses “Augenblickes” unvermeidlichen Veränderungen ausgesetzt. Oder ist dieser “Augenblick” eine rein mathematische Abstraktion, d.h. ein Nichts an Zeit? Aber alles existiert in der Zeit, und die Existenz selbst ist ein ununterbrochener Prozeß der Verwandlung. Folglich ist die Zeit ein grundlegender Bestandteil der Existenz. Daher bedeutet das Axiom A=A, daß ein Ding sich selbst gleich ist, wenn es sich nicht verändert, d.h., wenn es nicht existiert.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß diese “Spitzfindigkeiten” nutzlos seien. In der Wirklichkeit sind sie von entscheidender Bedeutung. Das Axiom A=A scheint einerseits der Ausgangspunkt für all unser Wissen, andererseits der Ausgangspunkt für alle Fehler in unserem Wissen zu sein. Man kann das Axiom A=A nur innerhalb gewisser Grenzen ungestraft gebrauchen. Wenn quantitative Veränderungen in “A” ohne Bedeutung für die bevorstehende Aufgabe sind, können wir annehmen, daß A=A. Auf diese Weise, zum Beispiel, betrachten Käufer und Verkäufer ein Pfund Zucker. Ebenso betrachten wir die Temperatur der Sonne. Bis vor kurzem betrachteten wir die Kaufkraft des Dollars in gleicher Weise. Aber quantitative Veränderungen über bestimmte Grenzen hinaus verwandeln sich in qualitative. Ein Pfund Zucker, das dem Einfluß von Wasser oder Kerosin ausgesetzt ist, hört auf, ein Pfund Zucker zu sein. Ein Dollar in der Hand eines Präsidenten hört auf, ein Dollar zu sein. Im richtigen Augenblick den kritischen Punkt zu bestimmen, wo Quantität in Qualität umschlägt, ist eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben in allen Bereichen des Wissens, die Soziologie eingeschlossen.
Jeder Arbeiter weiß, daß es unmöglich ist, zwei völlig gleiche Gegenstände herzustellen. Beim Einsetzen von Kugeln in ein Kugellager ist eine bestimmte Abweichung für die Kugeln erlaubt, die jedoch nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen sollte (das nennt man Toleranz). Wenn man die Normen der Toleranz befolgt, werden die Kugeln als gleich betrachtet (A=A). Wenn die Toleranz überschritten wird, geht die Quantität in Qualität über, mit anderen Worten, die Kugellager werden minderwertig oder völlig wertlos.
Unser wissenschaftliches Denken ist nur ein Teil unserer allgemeinen praktischen Tätigkeit, die Technik eingeschlossen. Für Vorstellungen gibt es auch eine “Toleranz”, die nicht von der formalen Logik festgesetzt wird, die vom Axiom A=A ausgeht, sondern von der dialektischen Logik, die von dem Axiom ausgeht, daß sich alles immer verändert. “Gesunder Menschenverstand” wird dadurch gekennzeichnet, daß er planmäßig die dialektische “Toleranz” überschreitet. Das übliche Denken arbeitet mit solchen Vorstellungen wie Kapitalismus, Moral, Freiheit, Arbeiterstaat usw. als festgelegten Abstraktionen, wobei es voraussetzt, daß Kapitalismus gleich Kapitalismus, Moral gleich Moral ist usw. Das dialektische Denken untersucht alle Dinge und Erscheinungen in ihrer unablässigen Veränderung, wobei es in den materiellen Voraussetzungen dieser Veränderungen jene kritische Grenze bestimmt, jenseits derer “A” aufhört “A” zu sein, ein Arbeiterstaat aufhört, ein Arbeiterstaat zu sein.
Der grundlegende Fehler des üblichen Denkens liegt darin, daß es sich mit bewegungslosen Eindrücken der Wirklichkeit zufrieden gibt, die aus ewiger Bewegung besteht. Durch weitere Annäherungen, Berichtigungen, Konkretisierungen gibt das dialektische Denken Vorstellungen einen reicheren Inhalt und größere Anpassungsfähigkeit; ich würde sogar sagen, eine Saftigkeit, die sie gewissermaßen den lebenden Erscheinungen nahe bringt. Nicht Kapitalismus im allgemeinen, sondern ein bestimmter Kapitalismus auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Nicht Arbeiterstaat im allgemeinen, sondern ein bestimmter Arbeiterstaat in einem rückständigen Land, eingekreist von Imperialisten, usw.
Dialektisches Denken steht zum üblichen Denken im gleichen Verhältnis wie der Film zur bewegungslosen Fotografie. Der Film macht nicht die bewegungslose Fotografie wertlos, sondern verbindet eine Reihe von ihnen gemäß den Gesetzen der Bewegung. Dialektik verneint nicht den Syllogismus, sondern lehrt uns, Syllogismen derartig zu verbinden, daß wir unser Verstehen der ewig sich verändernden Wirklichkeit näher bringen. Hegel stellte in seiner Logik eine Reihe von Gesetzen auf: Umschlagen von Quantität in Qualität, Entwicklung durch Widersprüche, Widerstreit von Inhalt und Form, Unterbrechung der Kontinuität, Umschlagen von Möglichkeit in Unvermeidbarkeit usw., die ebenso wichtig für das theoretische Denken sind wie einfache Syllogismen für einfache Aufgaben.
Hegel schrieb vor Darwin und vor Marx. Dank des machtvollen Anstoßes, den die Französische Revolution dem Denken gab, nahm Hegel die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft vorweg. Aber weil es nur eine Vorwegnahme war, wenn auch die eines Genies, erhielt sie von Hegel einen idealistischen Charakter. Hegel arbeitete mit ideologischen Schatten als der endgültigen Wirklichkeit. Marx zeigte, daß die Bewegung dieser ideologischen Schatten nichts weiter als die Bewegung der materiellen Körper widerspiegelt.
Wir nennen unsere Dialektik materialistisch, weil ihre Wurzeln weder im Himmel noch in den Tiefen unseres “freien Willens” liegen, sondern in der objektiven Wirklichkeit, in der Natur. Bewußtsein entsteht aus dem Unbewußten, Psychologie aus der Physiologie, die organische Welt aus der anorganischen, das Sonnensystem aus Nebeln. Auf allen Sprossen dieser Leiter der Entwicklung werden quantitative Veränderungen in qualitative umgewandelt. Unser Denken, einschließlich des dialektischen Denkens, ist nur eine der Ausdrucksformen der sich ändernden Materie. Innerhalb dieses Systems ist weder Platz für Gott, noch für den Teufel, noch für die unsterbliche Seele, noch für ewige Normen der Gesetze und der Moral. Die Dialektik des Denkens, die aus der Dialektik der Natur erwachsen ist, ist folglich durch und durch materialistisch.
Der Darwinismus, der die Entwicklung der Arten durch quantitative Veränderungen, die in qualitative übergehen, erklärt, war der größte Sieg der Dialektik auf dem ganzen Gebiet der organischen Materie. Ein anderer große Sieg war die Entdeckung des Periodischen System der chemischen Elemente und ferner die Umwandlung eines Elements in ein anderes.
Mit diesen Verwandlungen (Arten, Elemente usw.) ist die Frage der Klassifikation eng verbunden, gleichermaßen bedeutend in den Natur- wie in den Gesellschaftswissenschaften. Linnés System (18. Jahrhundert), das als Ausgangspunkt die Unveränderlichkeit der Arten nimmt, war auf die Beschreibung und Klassifizierung der Pflanzen nach ihren äußeren Merkmalen beschränkt. Die Kindheit der Botanik entspricht der Kindheit der Logik, da sich ja die Formen unseres Denkens wie alles Lebende entwickeln. Nur die entschiedene Zurückweisung der Idee der unveränderlichen Arten, nur die Untersuchung der Entwicklungsgeschichte der Pflanzen und ihrer Anatomie bereiteten die Grundlage für eine wirklich wissenschaftliche Klassifizierung.
Marx, der im Gegensatz zu Darwin ein bewußter Dialektiker war, entdeckte die Grundlage für die wissenschaftliche Klassifizierung der menschlichen Gesellschaften in der Entwicklung ihrer Produktivkräfte und der Struktur der Eigentumsverhältnisse, die das Gerippe der Gesellschaft bilden. Der Marxismus ersetzte die übliche beschreibende Klassifizierung der Gesellschaften und Staaten, die sogar bis jetzt noch in den Universitäten blüht, durch eine materialistische dialektische Klassifizierung. Nur durch den Gebrauch der Marxschen Methode kann man beides richtig bestimmen, den Begriff des Arbeiterstaates und den Augenblick seines Unterganges.
All dies enthält, wie wir sehen, nichts “Metaphysisches” oder “Scholastisches”, wie die eitle Unwissenheit behauptet. Die dialektische Logik drückt die Bewegungsgesetze im zeitgenössischen wissenschaftlichen Denken aus. Der Kampf gegen die materialistische Dialektik drückt dagegen eine entfernte Vergangenheit aus, den Konservatismus des Kleinbürgertums, den Eigendünkel der Universitätsroutiniers und ... einen Funken der Hoffnung auf ein zukünftiges Leben.