Mo 13.01.2014
Die in den 1980er Jahren eingeläutete „Deindustrialisierung“ betraf auch Österreich. Schon Anfang der 1990er Jahre hatte die Fernsehserie „Ein echter Wiener geht nicht unter“, die das Schicksal der Proletarierfamilie Sackbauer beschreibt, für jüngere Zuseher weitgehend exotisch-skurrilen Charakter: „Sowas gibt's heut' ja gar nicht mehr“.
Tatsächlich schien alles dafür zu sprechen. So sank der ÖGB-Organisationsgrad der unselbständig Beschäftigten von 62,8 % (1970) auf 46, 9 % (1980) und betrug 2010 gar nur mehr 28,1 %. Laut WKO waren 2012 von 2,272.260 unselbständig Beschäftigten nur 630.160 im Sachgüterbereich tätig – und davon waren nur 374.012 ArbeiterInnen.
Heißt das nun tatsächlich, dass es die ArbeiterInnen als Klasse nicht mehr gibt, dass jedeR als „Ich-AG“ im Dienstleistungsbereich seines/ihres eigenen Glückes Schmied sei und somit von der Knechtschaft der schnöden Lohnarbeit befreit?
„Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich.“ (Marx / Engels: Manifest der Kommunistischen Partei)
Diese auch global(isiert)e Konkurrenz nutzte das von Reagan, Thatcher und Kohl geförderte Wirtschaftsmodell des Neoliberalismus. Der Nachkriegsaufschwung war vorbei, es wurde schwerer, Geld gewinnbringend zu investieren. Um dem entgegenzuwirken, mussten die Arbeitskosten reduziert werden. Durch Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer und Schwächung der ArbeiterInnenbewegung „daheim“. So wurden in den Industrienationen große Betriebseinheiten filetiert, einzelne Bereiche ausgelagert, privatisiert und/oder geschlossen. So fanden sich die früher in einem einzigen Betrieb versammelten Belegschaften nun als vereinzelte MitarbeiterInnen vieler Einzelunternehmen wieder. Wohl auch deswegen drängte 2012 die Unternehmerseite vor den Kollektivvertragsverhandlungen auf ein Branchen-Splitting der bis dahin geeint verhandelnden MetallerInnen.
Das alles hatte gemeinsam mit der Propagandawelle vom Ende der Geschichte auch Auswirkungen aufs Bewusstsein. JedeR wollte zur Mittelschicht gehören, keiner ein „Prolet“ sein. Anders ausgedrückt: Das Klassenbewusstsein sank parallel zum Grad der Industrialisierung und den fehlenden Klassenkämpfen.
Der Bedarf der Wirtschaft an Lohnarbeit ist seither freilich nicht gesunken. Er verlagerte sich im ehemals industrialisierten Westen in den Dienstleistungssektor und in prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Hier ist die Arbeitskraft billiger – weil oft ungelernt und/oder oft schlechter organisiert. Viele der „neuen Selbstständigen“ sitzen zumindest für eine Zeit der Illusion auf, selbstbestimmt zu sein und „es mit Fleiß zu was zu bringen“.
Zwar gibt es bis heute keine genaue statistische Erfassung, jedoch ergeben aktuelle Hochrechnungen, dass in Österreich zwischen 35 % und 45 % aller Berufstätigen in atypischen oder prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind: in unbezahlten Praktika, in befristeten oder sogenannten „freien“ Arbeitsverhältnissen und in Leiharbeit. Und das alles weitgehend unter Umgehung arbeitsrechtlicher Bestimmungen oder kollektivvertraglicher Regelungen. Der französische Soziologe Pierre Bordieu bezeichnet das als eine „Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen“. Es stellt zwar keine gänzlich neue Qualität in der Herrschaft des Kapitalismus dar, aber doch einen verkomplizierenden Faktor. Diese Veränderungen haben die Gewerkschaften im großen Ganzen schlicht – verschlafen. Zwar hat die GPA/djp schon vor Jahren die IG „work@flex“ zum Thema eingerichtet. Aber insgesamt zeigt sich der ÖGB eher rat- und tatlos: „Flucht aus Arbeitsrecht durch atypische Beschäftigung ist zu verhindern … Verhindern, dass ArbeitnehmerInnen in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt werden“, heißt es recht unbeholfen im aktuellen Leitantrag.
Mit der Verschärfung der Krise und der Erfahrung, dass es nicht reicht, fleißig zu sein, verändert sich auch das Bewusstsein in diesem Teil der ArbeiterInnenklasse. Es kommt zu Organisierung und auch zu Protesten. Dass auch atypisch beschäftigte ArbeitnehmerInnen gemeinsam etwas bewegen können, zeigte etwa der Streik beim Botendienst „Veloce“ von 2004. Es ist an der Zeit, dass sich alle, die nichts anderes zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft – egal, ob als ungewollt „freie Selbständige“, atypisch Beschäftigte oder „Fixe“ – nicht nur eine „Klasse an sich“ sind, sondern sich auch als „Klasse für sich“ wahrnehmen. Denn die „Arbeiterklasse“ ist nicht tot. Aber sie schläft nur noch ein bisschen.