Russland: Putin unter Druck

Die massiven Jugendproteste gegen die Pensionsreform sind nur die Vorboten für breitere Proteste.
Rob Jones, Sozialistische Alternative (CWI in Russland)

2018 war ein schwieriges Jahr für die Herrschenden in Russland. Sie erwarteten die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, die Fußball Weltmeisterschaft zu feiern und die Unterstützung bei den Regionalwahlen im September zu festigen. Doch gleich nach Putins Sieg im April begann alles schief zu laufen - seine Ankündigung, die Pensionsreform durchzupeitschen, traf die russische Gesellschaft wie ein Blitz. 80% waren gegen die Anhebung des Pensionsalters und die Unterstützung für Putin und seine Institutionen sanken dramatisch - die aktuellen Umfragewerte sind die tiefsten seit dem ersten Amtsantritt.

Russland schaut auf ein verlorenes Jahrzehnt - bestenfalls kann man es als Periode der Stagnation bezeichnen. 2018 lag das BIP bei ca.1,6 Billionen US-Dollar - ungefähr derselbe Wert wie 2007/8. Die Realeinkommen sinken seit fünf Jahren. Obwohl der „Durchschnittslohn“ bei 43.000 Rubel (570 Euro) im Monat liegt, verdient die Hälfte der russischen Arbeiter*innen weniger als 26.000 Rubel (350 Euro). Eine wirkliche Verbesserung ist kurz- und mittelfristig nicht zu erwarten.

Die Unzufriedenheit wächst deutlich, was sich in den durch Alexei Navalnii organisierten Jugendprotesten zeigte. Weil die Jugend wiederholt auf die Straße ging, ohne Angst vor der Polizei oder vor Verhaftungen, sind auch andere Schichten selbstbewusster geworden, um ebenfalls aufzustehen - z.B. gegen die Abfallmisswirtschaft, zur Verteidigung von Internetrechten, gegen Polizeiwillkür etc. Die Pensionsproteste machten die riesige Wut sichtbar, die sich in der russischen Gesellschaft aufbaut.

Die Veränderung im Bewusstsein zeigt sich am deutlichsten unter der Jugend. Die Mehrheit der Schüler*innen und Studierenden denkt, dass der Staat für soziale Gleichheit, für gleiche Einkommen, garantierte Jobs und Lebensstandards wie auch freie Bildung und Gesundheitsversorgung sorgen sollte.

Die jüngste Ankündigung durch Navalnii, eine Gewerkschaft aufzubauen, zeigt eine weitere Bewegung des ehemaligen rechtsextremen Politikers in Richtung Linkspopulismus. Die Methoden, die er einsetzt - Überprüfung des Lohnniveaus und anschließend Meldung an die zuständigen Stellen – ist zwar nicht falsch, fußt aber nicht auf einer echten Einheit der Beschäftigten im kollektiven Kampf. Dennoch wirft diese Initiative die Frage von niedrigen Löhnen unter einer breiteren Schicht von Arbeiter*innen auf und markiert eine bedeutende Richtungsänderung durch die Opposition, hin zu einem direkten Appell an die Arbeiter*innenklasse, besonders im Öffentlichen Dienst.

Solche Entwicklungen machen unsere Arbeit in den Gewerkschaften umso wichtiger - innerhalb der Mediengewerkschaft und bezüglich der Initiative für eine Schüler*innen- und Studierendengewerkschaft. Wir intensivieren auch unsere Kampagne "300 Rubel/Stunde", die einen zentralen Slogan v.a. bei der Organisierung des prekären Sektors darstellt.

Unsere Kernaufgabe ist die Vorbereitung und Unterstützung der breiten Opposition der Arbeiter*innenklasse gegen Ausbeutung und Repression. Wenn sich diese Opposition entwickelt (und die Geschichte zeigt dass, sobald der Prozess gestartet ist, das sehr schnell gehen kann), ist es zentral, dass es einen gut vorbereiteten und erfahrenen jugendlichen und dynamischen Kader gibt, der die Bewegung organisieren helfen kann und vor allem sie mit einem sozialistischen Programm bewaffnen kann.

Gegenwärtig markieren die Proteste, die wir initiieren bzw. auf weiterer Ebene Proteste wie jene, die durch Navalnii organisiert werden, eine dramatische Veränderung in der Stimmung der Gesellschaft und vor allem der Jugend. Sie sind noch relativ klein, sowohl im Vergleich zu manchen Massenbewegungen in anderen Ländern wie auch im Vergleich zur russischen Bevölkerung – doch es ist unvermeidbar, dass zu einem gewissen Zeitpunkt weitere Proteste ausbrechen. Wie die Erfahrung aus der vergangenen Periode zeigt und wie sich in der Paranoia des Kremls widerspiegelt, können solche Proteste durchaus den Charakter der "Farbenrevolutionen" annehmen, die Massenunmut von unten ausdrückten, aber keinen klaren Klassencharakter hatten bzw. sich nicht klar auf die Arbeiter*innenklasse orientierten. In solchen Bewegungen müssen wir auf die Elemente der Arbeiter*innenklasse orientieren und für ein klares sozialistisches Programm argumentieren. Darin sollten sich nicht nur wirtschaftliche Forderungen finden, wie z.B. jene nach einem Mindestlohn von 300 Rubel/Stunde, gegen Arbeitslosigkeit oder soziale Forderungen, wie die Verteidigung von Frauen- und LGBT-Rechten, sondern auch Forderungen nach Verteidigung von Minderheitenrechten bezüglich Sprache und Nationalität sowie gegen Repression und für demokratische Rechte. Keine dieser Fragen kann von den anderen isoliert werden, aber alle benötigen den Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse, die für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft kämpfen kann.


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