Di 05.02.2019
Eine Person - Eine Stimme. Das Konzept leuchtet ein und sollte doch dazu führen, dass Politik im Sinne der Mehrheit gestaltet wird. Seit 1848 geisterte die Forderung nach dem allgemeinen, freien und gleichen Wahlrecht durch radikal-idealistische, auch bürgerliche Kreise. Die junge Arbeiter*innenbewegung nahm sie gerne auf und übernahm auch die Debatte um das Frauen-Wahlrecht. Bis das endlich in die Forderungen aufgenommen wurde, brauchte es aber einen langen und heftigen Kampf von Marxist*innen und proletarischer Frauenbewegung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bürgerlichen schon längst wieder die Bühne der Revolution verlassen und überall war es die Arbeiter*innenbewegung, die das allgemeine Wahlrecht erkämpfte.
Die Rechnung war einfach: Die Arbeiter*innen, spätestens zusammen mit der armen Landbevölkerung, stellen die Mehrheit im Staat. Wenn es gelänge, ihr das Wahlrecht zu erkämpfen, wären keine weiteren Kämpfe nötig, alles könne dann über das Parlament erreicht werden. Was würde dann die Mehrheit der Wähler*innen daran hindern, den Staat zu übernehmen, Löhne und Arbeitszeiten gesetzlich festzulegen, die Monarchie abzuschaffen und schließlich den Sozialismus einzuführen? Und das alles ganz ohne entbehrungsreiche Streiks, Demonstrationen und vor allem: Ohne Gewalt.
Diese Argumente brachte auch die Führung der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ)“ 1918/19, als sie sich mit der Rätebewegung konfrontiert sah. Die Arbeiter*innen eiferten der russischen Oktoberrevolution nach, in der diese Räte nur ein Jahr zuvor den Zarismus ersetzt hatten. In Betrieben, durch Soldaten, Dorfgemeinschaften und Nachbarschaften wurden Räte gewählt und von dort aus Delegierte in zentralere Räte geschickt, um sehr direkt über die eigenen Geschicke zu bestimmen. Hier wurde ein Gegenstück zur bürgerlichen, repräsentativen Demokratie geschaffen, wie wir sie heute noch haben. Diese Rätedemokratie endete nicht vor dem Betriebstor: Statt Kapitalist*innen die Macht über die Wirtschaft zu lassen, wurde auch diese von Räten verwaltet und geplant. Das nahmen die Kapitalist*innen nicht einfach hin und zogen Russland in einen langen und blutigen Bürgerkrieg.
War das allgemeine Wahlrecht eine Alternative dazu? Lässt sich Kapitalismus abwählen? Lassen sich die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, also zwischen Kapitalist*innen und Proletariat, in einem Parlament versöhnen?
Hinter diesem Gedanken steht eine Vorstellung vom Staat als „scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht“ (Engels). Aber Marxist*innen wissen: Jeder Staat ist ein Klassenstaat. Z.B. wird „Schutz des Eigentums“ in jeder bürgerlichen Verfassung groß geschrieben. Gemeint ist der Schutz des Eigentums der herrschenden Klasse gegen „Umverteilung“ nach unten! Es geht nie um das „Gemeinwohl“, sondern um das Wohl ganz Weniger. Der Bürgerliche Staat schützt zuerst die bürgerliche Klasse, über Gesetze, Polizei und Gefängnisse.
Zwar dämpft der Staat viele Klassenkonflikte, die eben nicht immer mit Gewalt ausgetragen werden, aber er schafft sie nicht ab. Daran ändert auch das Wahlrecht nichts. Dort, wo Arbeiter*innenparteien die Mehrheit hatten und sie genutzt haben, um an den Grundfesten des Kapitalismus, dem Privateigentum an Produktionsmitteln, zu rütteln, griffen die Kapitalist*innen zu den Waffen; so wie in Frankreich 1871, in Chile 1973 oder im Iran 1979. Selbst das „Rote Wien“, das so ohne die revolutionären Erreignisse von 1918/9 nicht möglich gewesen wäre, wurde 1934 durch Gewalt vernichtet. Demokratie im Kapitalismus ist eben nur in engen Grenzen und auf Zeit möglich. Erfordert es die politische und/oder wirtschaftliche Situation, setzen die Herrschenden auf Diktatur.
„Freie Wahlen“ schützen die Arbeiter*innenbewegung nicht vor der Gewalt der Herrschenden. Oft genug fühlten sich sozialdemokratische Parteien, die ja auf diesen Kurs setzten, so sicher im Staat, dass sie die Gewalt der Bürgerlichen dann umso mehr überraschte und diese umso blutiger wüten konnten, wie z.B. 1933 in Deutschland. Marx hatte schon 1875 der Sozialdemokratie in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ aufgezeigt, dass sie die Befreiung der Arbeiter*innenklasse nicht im bürgerlichen Staat erreichen kann: „Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben [...] an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben [...]“
Auch in Russland versuchten viele 1917 vergeblich, eine bürgerliche Demokratie einzuführen. Anders die Bolschewiki; sie wussten: Die Fragen der Demokratie und die des Sozialismus müssen, spätestens im 20. (und sowieso im 21. Jahrhundert), in dem sich der Kapitalismus längst international durchgesetzt hat, in einem Rutsch geklärt werden. Es nützt nichts, sich auf die Macht im Staat zu beschränken, es braucht auch die Macht über die Produktionsmittel. Sozialist*innen setzen auf die soziale Revolution als Anfang von echter Demokratie. So wird eine Gesellschaft möglich, die weit über das hinausgeht, was 1919 erreicht wurde und bis heute in Österreich und anderswo existiert.