Sa 11.08.2018
Kristofer Lundberg wurde in diesem Jahr zum Vorsitzenden der Mietergewerkschaft der Westküstenregion (Göteborg) in Schweden gewählt, die etwa 77.000 Haushalte vertritt. René Arnsburg sprach mit ihm über die Kampagnen, die sie durchgeführt haben, welche Funktion die Gewerkschaft hat und wie Kristofer gewählt wurde. Ḱristofer Lundberg ist langjähriges Mitglied der Rättvisepartiet Socialisterna (RS – Sozialistische Gerechtigkeitspartei in Schweden, Schwesterorganisation der SLP und dortige Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale KAI/CWI)
Was ist die Mietergewerkschaft?
Zuerst muss man sagen, dass man ihr nur als Haushalt beitreten kann. Das bedeutet, dass die Anzahl der Mitglieder in Personen in etwa mit dem Doppelten angegeben werden kann. Die Gewerkschaft hat eine lange Tradition in Schweden, ist über hundert Jahre alt und hat auch eine recht radikale Vergangenheit. Die ersten Mietergewerkschaften wurden 1915 gegründet und die erste nationale Organisation wurde 1923 ins Leben gerufen. Ihr Vorsitzender war gleichzeitig der schwedische Vertreter der Kommunistischen Internationale. Die Mietergewerkschaft war eine sehr kämpferische Gewerkschaft mit Mietstreiks, Besetzungen, Massendemonstrationen und wuchs sehr schnell.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dann die Sozialdemokratie die Kontrolle übernommen und sie wurde eher zu einer Institution oder Versicherungsgesellschaft als einer Gewerkschaft. Aber sie hat weiterhin ihre Strukturen und ihre Ortsgruppen behalten und heute hat sie im ganzen Land 540.000 Mietgliedshaushalte mit 10.000 gewählten Vertreter*innen in ihrer Organisation auf lokaler oder nationaler Ebene und 900 hauptamtlich Beschäftigte aller Art wie AnwältInnen, lokale Organisator*innen und mehr.
Wie wurdest du zum Präsidenten der Region gewählt?
Das erste Mal wurde ich in einer Ortsgruppe vor sieben Jahren zum Vorsitzenden gewählt. Wir verwandelten sie von einer sozialdemokratischen und passiven Organisation, die ab und zu ein paar soziale Veranstaltungen durchführte in eine kämpferische und politische Gruppe. Vor einigen Jahren hatten wir eine Kampagne für eine Rekommunalisierung. Wir wurden damals von einer Gruppe Mieter*innen kontaktiert, die in einem Stadtteil mit 900 privaten Wohnungen lebten. Sie waren in einem äußerst schlechten Zustand und mussten dringend renoviert werden. Die Immobilienfirma tat jedoch nichts. Also stellten wir eine Kampagne auf die Beine, um das Viertel zu organisieren. Wir führten Demonstrationen durch, machten öffentliche Veranstaltungen, trafen uns mit der Eigentümerfirma und einer staatlichen Firma aus der Nachbarschaft. Wir forderten, dass diese übernehmen sollte, wenn die private Firma die Renovierungen nicht durchführt, wir kontaktierten Politiker*innen und so weiter. Die Kampagne wurde von RS ins Leben gerufen und später von der Mietergewerkschaft unterstützt. Dann griff sie eine Konferenz der 16 Göteborger Mietergruppen auf und setzte den Stadtrat so sehr unter Druck, dass er der Rekommunalisierung 2015 zustimmte. Einige rechtspopulistische Parteien stimmten ebenfalls zu, wollten aber einen Deal machen, dass die Hälfte der Wohnungen direkt an die Mieter*innen weiterverkauft wird. Das sagten sie allerdings nicht öffentlich. Als wir davon erfuhren, belebten wir die Kampagne auf ein Neues und organisierten Widerstand in dem Bezirk. Besagte PolikiterInnen hatten gesehen, dass wir einmal gewonnen haben, also nahmen sie schnell von ihrem Plan Abstand. Als der Stadtrat dann die Renovierungen durchführen wollte, sagten sie, dass sie die Mieten erhöhen müssen. Bei Renovierungen gibt es Mietsteigerungen von fünfzig oder sechzig Prozent, weil diese nicht verhandelt werden müssen, da die Wohnung eine neue Ausstattung hat.
Wir starteten also eine neue Kampagne und forderten Renovierungen unter der Kontrolle der Mieterschaft ohne Mieterhöhung. Nach einem Jahr trat der Stadtrat dann vor die Öffentlichkeit und teilte mit, dass sie die Idee hatten, die Wohnungen ohne Mieterhöhung zu sanieren, weil es in Schweden ein Problem mit der Gentrifizierung gäbe. Das entsprach genau unseren Forderungen, aber sie wollten uns den Sieg nicht eingestehen. Alle Leute in dem Bezirk wussten aber, dass wir es waren, die gewonnen haben.
Diese drei Kampagnen wurden in der gesamten Region wahrgenommen und ich wurde gebeten, mich zur Wahl zu stellen. Erst hatte ich nein gesagt, weil wir auf örtlicher Ebene schon soviel Arbeit machen, aber dann wurde mir klar, dass wir eine weitergehende Verantwortung haben. Wir haben lange darüber gesprochen, dass die Gewerkschaft eine neue Führung braucht, dass die Gemeinden die Kontrolle wiedererlangen müssen, also musste ich zur Wahl antreten und habe gewonnen.
Welche politische Bedeutung hat deine Wahl?
Gleich im Anschluss kam die Nachricht, dass der Stadtrat dreihundert Wohnungen in einem anderen Bezirk verkaufen will. Wir beriefen eine Versammlung ein und einhundert Leute kamen, aber der Raum war viel zu klein. Also verschoben wir sie um eine Woche und 360 Menschen aus dreihundert Wohnungen kamen!
Wir organisierten drei Aktivengruppen, Unterschriftensammlungen und Demonstrationen. Nach einigen Monaten knickte der Stadtrat ein. Damit hatten wir bewiesen, dass nicht die Verhandlungen mit den Firmen, sondern die Organisation in den Gemeinden entscheidend ist.
Göteborg war immer der radikalste und am weitesten links stehende Bezirk, sogar schon in der Gründungsphase und ist es immer noch, was sich unter anderem in meiner Wahl zum regionalen Präsidenten ausdrückt. Es war eine Wahl, in der sich zwei Seiten gegenüberstanden: auf der einen die institutionalisierte Sozialdemokratie, auf der anderen eine kämpferische Organisation.
Ich kandidierte auf der Grundlage eines radikalen Programms, für eine kämpferische Gewerkschaft und dafür, dass die lokalen Organisationen die Kontrolle zurückbekommen. Es gab eine große Begeisterung für meinen Wahlantritt und ich wurde von Ortsgruppen in der ganzen Region eingeladen, um über meine Kandidatur zu sprechen. Das jagte der Bürokratie und der Sozialdemokratie Angst ein. Sie versuchten von der nationalen Ebene aus zu verhindern, dass ich gewählt werde, sie versuchten Leute zu beeinflussen, die mich nomierten. Als die Jahreshauptversammlung stattfand, wurde ich dennoch mit 60 Prozent der Stimmen gewählt.
Das hat im ganzen Land einen großen Medienrummel verursacht, es wurde in den Zeitungen davon berichtet, im Fernsehen und im Radio. Die Schlagzeilen waren zum Beispiel: “Revolutionäre SozialistInnen übernehmen die Mietergewerkschaft.” “Nehmt Euch vor den Trotzkist*innen in Acht!” und sowas. Die Zeitschrift der Gewerkschaft schrieb einen langen Artikel und machte ein Interview mit mir, in dem erklärt wird, was wir unter Trotzkismus verstehen und was wir mit revolutionären Sozialismus meinen. Das war kein Angriff, die Zeitung stellte nur dar, was wir sagen und wer wir sind. Es gab auch eine regionale Zeitung, die ein Interview mit mir darüber führte, was Trotzkismus und revolutionärer Sozialismus sind. Diese Zeitung geht an 1,1 Millionen Menschen!
Es war also auch eine sehr gute Berichterstattung für unsere Partei und unser Programm. Die Absicht war, die Leute abzuschrecken, doch stattdessen wuchs deren Interesse an uns nur.
Ich werde weiterhin zu Treffen eingeladen, sowohl der Mietergewerkschaft, als auch anderer Gewerkschaften. Letztens sprach ich auf einer Vertrauensleutekonferenz mit hundert Teilnehmenden der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes. Wir haben darüber diskutiert, an welchen Punkten wir zusammenarbeiten können und wir haben auch gemeinsame Treffen mit der Hafengewerkschaft mit ebensoviel Leuten durchgeführt.
Wie kann so eine Zusammenarbeit mit Berufsgewerkschaften aussehen?
Auf dem letzten Kongress der Mietergewerkschaft vor drei Jahren wurde beschlossen, dass sie nicht nur über das Thema Wohnen spricht, sondern über die Lebensbedingungen insgesamt. Das heißt, wenn wir über bestimmte Stadtteile sprechen, beschäftigen wir uns mit Fragen, die direkt mit der Wohnung zusammenhängen wie Mieterhöhungen, Renovierungen und so weiter. Aber wir sprechen auch über die Notwendigkeit besserer Schulen, die Gesundheitsversorgung, ansprechende Dienstleistungen, eine gute Infrastruktur und Sicherheit. Die Mietergewerkschaft ist zu einer politischen Organisation geworden, die sich nicht mehr nur um die Unterkunft allein kümmert, sondern um die Wohngebiete – wir sind eine Organisation der Stadtteile. Und deshalb müssen wir mit der Lehrergewerkschaft für bessere Schulen, mit der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, der Pflegegewerkschaft und anderen zusammenarbeiten.
Demnach ist die Mietergewerkschaft jetzt die größte politische Organisation in Schweden?
Ja, sie ist größer als die größte Berufsgewerkschaft. Wie ich bereits sagte, organisiert die Gewerkschaft 540.000 Haushalte, aber sie verhandelt über Mieterhöhungen für drei Millionen Mieter*innen. Keine staatliche oder private Firma kann einfach die Mieten einführen, die sie wollen. Sie müssen vorher in Verhandlung gehen. Wenn wir widersprechen, können sie vor ein Schiedsgericht gehen und dann entscheidet das Gericht. Aber zumindest können sie nicht einfach für sich die Mieten festlegen.
Es läuft also ähnlich wie in einer Betriebsgewerkschaft ab, die über die Lohnhöhe verhandelt?
Ja, das ist ein Vermächtnis der “fortschrittlichen” Jahre der Sozialdemokratie, es wurde institutionalisiert. Aber in diesem Jahr sprachen sich alle rechten Parteien, einschließlich der rechtsradikalen Schwedendemokraten, für die Einführung der Marktmiete aus. Das ist die Hauptauseinandersetzung gerade und die Mietergewerkschaft wird dagegen in den Wahlen kämpfen (am 9. September 2018 finden in Schweden Parlamentswahlen statt). Wir haben einen Kampagnenplan aufgestellt, der besagt, dass es nicht nur die lokalen oder regionalen Gruppen sind, die dagegen mobilisieren müssen, sondern der Hauptamtlichenapparat wird mitmachen müssen. Der arbeitet bislang hauptsächlich intern. In Göteborg haben wir etwa achtzig Vollzeitkräfte, von denen nur zehn Außenarbeit machen und der Rest arbeitet im Büro. Jetzt, nachdem ich Präsident der Region geworden bin, haben wir beschlossen, dass wir alle während des Wahlkampfes rausholen werden. Wir werden die Büros nur mit einer Minimalbesetzung offen halten und alle restlichen Leute werden auf der Straße sein, um die Kampagne gegen die Einführung der Marktmiete zu führen.
Und wenn die neue Regierung nach den Wahlen sagt, dass sie die Marktmiete trotzdem einführen wollen?
Dann werden wir eine noch größere Kampagne auf die Beine stellen. Wir haben bereits den 1. September als einen landesweiten Protesttag gegen die Marktmiete festgelegt. Es wird in allen größeren Städten Demonstrationen geben und sogar in manch kleineren. Wir werden einhundert Leute aus Göteborg zur Demo nach Stockholm schicken, aber trotzdem unsere eigene Demonstration durchführen.
Du hast berichtet, dass ihr Massenversammlungen, Ortsgruppen und Demonstrationen organisiert. Aber wenn das alles nicht genug ist, was ist dann die nächste Stufe? Mietstreiks? Besetzungen?
Historisch gesehen war es genau das. Aber das kam in Schweden seit den 30er Jahren nicht mehr vor, glaube ich. Es gibt jedoch diese Vergangenheit und ich wurde in den Medien gefragt, ob ich das auch heute noch machen würde und meine Antwort war: “Wenn es nötig und wenn es das ist, was die Menschen machen wollen, dann werden wir es natürlich machen.” Es wird allerdings eine weitaus größere Bewegung erfordern, die ein höheres politisches Bewusstsein als heute hat. Die Gewerkschaft ist sehr aktiv und kämpferisch geworden, aber das politische Niveau ist immer noch nicht besonders hoch.
Wie ist die Wohnsituation in Schweden zur Zeit?
Es kommt sehr darauf an, wo du in Schweden lebst. Aber in den Rand- und Arbeiterbezirken gibt es einen großen Anteil von MigrantInnen und viel Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit unter in Schweden Geborenen beträgt beispielsweise um die drei Prozent, aber in den migrantisch geprägten Stadtteilen über zwanzig, unter Jugendlichen sogar dreißig Prozent. Die Arbeitslosigkeit und der Wohnungsmangel sind die Hautprobleme. In meinem Stadtteil, den die Polizei und die Bürgerlichen als “No-Go-Area” bezeichnen, bewerben sich dennoch auf eine freie Wohnung 800 Menschen, weil es so wenig Leerstand gibt. Das betrifft sogar die Gegenden, von denen alle denken, dass dort niemand leben will. Das ist wirkliche Wohnungsnot. Wir haben 1600 obdachlose Familien mit Kindern in Göteborg. In Stockholm und Malmö sieht es genauso aus. Es kommt vor, dass in einer Wohnung zwei oder drei Familien leben.
Wie viele neue Wohnungen müssten gebaut werden, um den Bedarf zu decken?
Es müssten 80.000 pro Jahr gebaut werden. Der Wohnungsbau hält schon lange nicht mehr mit dem Bedarf Schritt. Es gibt aber auch noch das Problem der “Millionengebiete”. In den 60ern und 70ern wurden eine Millionen Wohnungen gebaut, um die Wohnungsnot zu beseitigen. Und seit sie gebaut wurden, wurden sie kein einziges Mal saniert. Jetzt haben wir einen Sanierungsbedarf von 800.000 Wohnungen. Und die Frage ist, wer das bezahlen wird. Wir haben einen lokalen Sieg errungen, von dem ich erzählt habe. RS fordert, dass der Staat für die Sanierungen zahlen soll. Wir sehen, dass alle Firmen, egal ob öffentlich oder privat, Jahr für Jahr Gewinne machen, ohne zu sanieren, also finden wir, dass die Mieter*innen nicht dafür zahlen sollten.
Eine andere Frage ist die der Neubauten. Alle neuen Wohnungen dürfen nach Marktpreisen vermietet werden. Das können sie nicht bei den alten Häusern machen, aber bei allem, was neu gebaut wird. Ich habe beispielsweise eine Dreiraumwohnung, für die ich 600 Euro zahle. Dieselbe Wohnung würde neu gebaut mindestens das Doppelte oder Dreifache kosten. Wir haben also eine Situation, in der Häuser gebaut werden, in die es sich niemand leisten kann, einzuziehen.
Was sind Forderungen von RS für ein mietenpolitisches Programm?
Wir fordern staatliche Betriebe für den Wohnungsbau und natürlich die Enteignung der Banken, die an den Immobilienpreisen großen Anteil haben. Das alles unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung. Wir haben in unserer Zeitung gerade ein Programm formuliert, dass eine soziale Mietenpolitik fordert, dass wir die Privatisierungen stoppen müssen und dass wir bezahlbaren Wohnraum brauchen. In diesem Programm sagen wir auch, dass das Fehlen linker Vorschläge dazu geführt hat, dass jetzt private Firmen über soziale Wohnpolitik sprechen. Sie sagen, dass der Staat Geld für die Leute in die Hand nehmen muss, die sich keine Wohnungen leisten können. Was sie fordern ist nichts anderes, als dass der Staat für ihre Mietsteigerung zahlen soll. Sie sanieren und Menschen können es sich nicht leisten, sie bauen und niemand kann es sich leisten, also wollen sie jetzt staatliche Gelder haben, worüber aber niemand außer uns spricht, nicht einmal die Linkspartei (Vänsterpartiet).