Di 01.04.2014
Nach den Protesten gegen den rechtsextremen Wiener „Akademikerball“ stießen FPÖ, Krone & Co eine „Gewaltdebatte“ an. Es wurde nicht mehr über den rechtsextremen Ball diskutiert – sondern über ein paar zerbrochene Fensterscheiben. Besonders hervor taten sich Grüne wie Peter Pilz: "Es gibt eine Grenze, und die heißt 'Gewalt'. Wer sie überschreitet, gehört nicht zu uns." verlautbarte er.
Haben die einzelnen Akte des Vandalismus den Protesten geholfen? Nein, das steht außer Frage. Im Gegenteil: Sie waren eine Einladung an Staat und Medien, die Linke als Ganzes zu kriminalisieren. Doch darum geht es Pilz & Co nicht. Sondern darum, Politik, die sich nicht an die Grenzen des Systems hält, als „gewalttätig“ und deswegen „böse“ zu schubladisieren. Die „Gewalt“ gegen Fensterscheiben ist den bürgerlichen Medien unzählige Artikel und Fernsehbeiträge wert – die Ermordung von 14 Flüchtlingen durch die spanische Grenzwache zwei Wochen später kaum eine Randnotiz. Wenn in Bagdad mal wieder 60 Menschen durch einen Anschlag sterben, wird das gar nicht mehr wahrgenommen. Aber auch die himmelschreiende Gewalt, mit der AsylwerberInnen in Österreich behandelt werden, oder die allgegenwärtige häusliche Gewalt, mit der sich Frauen konfrontiert sehen, sorgt höchstens für mitleidiges Achselzucken.
Wir alle erleben täglich Gewalt, ob im persönlichen Umfeld oder in den Nachrichten. Abscheu davor zu empfinden ist verständlich, es ist sogar ein Zeichen gesamt-zivilisatorischen Fortschritts. Doch Gewalt ist Teil des Kapitalismus, und sie wird es immer bleiben. Im „Kapital“ beschreibt Marx die Entstehungsgeschichte des Privateigentums und die Methoden, die dazu notwendig waren: „Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z.B. das Kolonialsystem. […] Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“
Wenn in Kambodscha hunderte ArbeiterInnen bei einem Fabrikbrand umkommen, weil das Unternehmen bei Sicherheitsvorkehrungen gespart hat, ist das Gewalt. Wenn der griechische Staat über streikende Fährleute die Militärgerichtsbarkeit verhängt, ist das Gewalt. Wenn die EU durch ihr Spardiktat die Lebensstandards von zig Millionen ArbeiterInnen und Jugendlichen ruiniert, ist das Gewalt. Wenn in Österreich 1 % der Bevölkerung 37 % des Reichtums besitzt, jedoch 50 % nur 2,2 % - dann ist das Gewalt. Wenn in einer Zeit, in der es technisch möglich wäre, ausreichend Nahrung und Medikamente zu produzieren, Menschen noch an Hunger oder heilbaren Krankheiten sterben – dann ist das Gewalt.
Die Gewalt des Kapitalismus übersteigt durch ihre Ausmaße jegliche Vorstellungskraft, auch deswegen wirkt sie so oft abstrakt. Doch das macht sie nicht weniger tödlich. Wenn wir wollen, dass diese Gewalt aufhört, müssen wir das System stürzen. Wenn wir dies tun, tun wir nichts anderes, als ihm und seinen VertreterInnen die Möglichkeit zu nehmen, diese Gewalt auszuüben. Dabei müssen wir in der Lage sein, uns zu wehren. Ist es verwerflich, einen besetzten Betrieb zu verteidigen, wenn nötig auch mit allen zu Gebote stehenden Mitteln? Wir finden: Nein.
So sehr wir Gewalt auch verabscheuen mögen: Sie ist, wie alles andere, nicht per se „gut“ oder „böse“. Gewaltausübung hat immer gesellschaftliche Hintergründe und dient einem konkreten Zweck. Wir verstehen und unterstützen es, wenn sich eine Frau gegen ihren Vergewaltiger wehrt oder ArbeiterInnen ihre Bosse einsperren, um ihre Jobs zu behalten. In beiden Fällen sind die „Gewalttätigen“ nicht Aggressoren, sondern wehren sich gegen die Folgen eines Systems, das strukturell und ideologisch gewalttätiger ist, als sie es je sein könnten.
Leo Trotzki schreibt in „Ihre Moral und unsere“ (1938): „Aber nichtsdestoweniger sind doch Lüge und Gewalt 'an sich' zu verurteilen? Selbstverständlich: ebenso wie die Klassengesellschaft, die sie erzeugt. Eine Gesellschaft ohne soziale Widersprüche wird natürlich eine Gesellschaft ohne Lüge und Gewalt sein. Doch kann man zu dieser Gesellschaft nicht anders eine Brücke schlagen, als unter Anwendung von revolutionären, d.h. gewaltsamen Mitteln.“
In gewisser Weise mag die Enteignung eines Waffenproduzenten „Gewalt“ darstellen. Doch was ist sie gegen die Gewalt, die seine Waffen täglich ausüben? Was ist sie vor dem Hintergrund, dass nach der Enteignung die Produktion in seinen Fabriken auf Güter umgestellt werden kann, die Leben retten statt sie zu zerstören?
Historische Beispiele wie Russland, Spanien oder Chile zeigen, dass das herrschende kapitalistische System bereit ist, tödliche Gewalt anzuwenden, um weiterbestehen zu können. Auch aktuell in Syrien, der Türkei und Bosnien wird im Namen der „rechtsstaatlichen Ordnung“ geprügelt und geschossen. Wenn wir den Kapitalismus stürzen wollen, müssen wir darauf gefasst sein, dass seine RepräsentantInnen ihre Macht nicht freiwillig hergeben.
Diesen revolutionären Prozess so unblutig wie möglich zu machen, auch das gehört zu den Aufgaben einer revolutionären Organisation. Denn ein Programm, das die Bedürfnisse und Nöte ins Zentrum steckt und umreißt, wie die Macht möglichst effektiv aus den Händen des Kapitals in den Schoß der ArbeiterInnenklasse gelegt werden kann, ist der beste Garant gegen unkontrollierte Gewaltausbrüche und Bürgerkriegsszenarien – aber auch gegen die Gewalt dieses Systems.