Do 23.05.2013
Der Neoliberalismus befindet sich ideologisch in der Defensive. Neoliberale Reformen werden heute weniger ideologisch begründet als durch angebliche „Sachzwänge“ – dennoch existiert er weiter.
Der Neoliberalismus fiel in den 1970ern nicht einfach vom Himmel. Schon Marx schrieb, dass jede Ära ihre eigenen Persönlichkeiten hervorbringt, bzw. sie sich selbst schafft. Thatcher war der personifizierte Ausdruck der Reaktion des Kapitalismus auf das Ende des Nachkriegsaufschwungs.
Dieser Aufschwung war der längste, den der Kapitalismus je sah. Klar: Viel war kaputt, viel musste wieder aufgebaut werden. Das schafft Nachfrage, Arbeitsplätze, Kaufkraft etc. Die Nachkriegszeit war von einem Konsens in den politischen Eliten dominiert, der einen starken Staat favorisierte: Staatliche Intervention und Regulation stabilisierten, und progressivere Steuern hatten einen leicht umverteilenden Effekt. Arbeitslosigkeit wurde in vielen entwickelten kapitalistischen Ländern minimiert. Das Kapital brauchte viel Arbeitskraft – die Arbeitslosen, die „industrielle Reservearmee“ (Marx) wurden in den Arbeitsprozess geholt, Frauen fanden Jobs, was die Frauenrechtsbewegung erheblich stärkte, ArbeiterInnen aus dem Ausland wurden geholt. Teilweise herrschte sogar Arbeitskräftemangel. Dadurch verbesserte sich die Verhandlungsposition der ArbeiterInnenklasse: Die Gewerkschaften waren stark aufgestellt. Die Folgen: Stetige Reallohnerhöhungen und ein höherer Anteil am geschaffenen Mehrwert. In Deutschland beispielsweise stiegen die Reallöhne 1950-59 um 4,66% jährlich (im Vergleich zu 1,51% 1925-38 und 1,27% 1895-1913). Das bedeutete ein Sinken der Profitrate, was für das Kapital allerdings nicht schlagend wurde, solange der Kuchen insgesamt größer wurde. Hohes Produktivitätswachstum erlaubte gleichzeitig hohe Proftiniveaus und hohe Reallohnniveaus.
Aber jeder kapitalistische Boom hat ein Ende. Der Nachkriegsaufschwung endete Ende der 1960er in den USA und Anfang der 1970er in Europa. Der Vorrat an verhältnismäßig billigen und gefügigen ArbeiterInnen war weitgehend aufgebraucht. Die Trümmer waren beiseite geschafft, Europa wieder aufgebaut. Es gab keinen Anreiz, in neue Technologien zu investieren – das Kapital blickt immer zuerst auf den Absatzmarkt, und da lief noch alles gut. Es folgte eine Stagnation der Wachstumsraten der Produktivität bei der produzierenden Industrie. In einem letzten Aufbäumen versuchte der Keynesianismus, die Wirtschaft durch Anwerfen der Notenpressen und erhöhte Staatsverschuldung zu beleben, aber es war zwecklos: Die Nachkriegsparty war vorbei. Die ArbeiterInnenklasse war nach wie vor stark organisiert. Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren eine Periode hoher betrieblicher Militanz: Von den Fabriksbesetzungen in Britannien und im italienischen „Heißen Herbst“ 1969 bis zum Generalstreik und den revolutionären Unruhen in Frankreich 1968. Die ArbeiterInnen wehrten sich massiv gegen die Erhöhung der Ausbeutung (Verschlechterungen bei Arbeitszeiten und Löhnen) in den Fabriken. Der keynesianische Weg war an sich selbst gescheitert und spätestens mit dem Ölpreisschock und der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er brauchte das Kapital dringend eine neue Strategie – Vorhang auf für ÖkonomInnen wie Friedman oder Hayek und PolitikerInnen wie Thatcher und Reagan.
Wer vom Neoliberalismus spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen!
Die neuen neoliberalen WortführerInnen schritten zur Tat: Massenhafte Privatisierungen, die neue Märkte schufen – So fand das angehäufte Kapital wieder profitable Anlageoptionen. Für die Gesellschaft bedeutete das das Gegenteil: Jobs wurden abgebaut und privatisierte Dienstleister trieben die Preise in die Höhe und die Qualität nach unten.
Deindustrialisierung bzw. die Umsiedlung der Industrien in Billiglohnländer – so konnte die Profitrate wieder gesteigert und Überkapazitäten abgebaut werden. Mit katastrophalen Folgen für die ArbeiterInnenklasse: 1978-83 sank der Output der verarbeitenden Industrie in Britannien um 30 %, während die Arbeitslosigkeit auf 3,6 Millionen anstieg. Von 1970 bis 1994 sank laut einer IWF-Studie von 1997 in den 23 meistentwickelten Volkswirtschaften der Welt der Anteil an Beschäftigten in der Produktion von 28% auf 18%. Strukturelle Massenarbeitslosigkeit entstand, die neuen Jobs waren prekär und unterbezahlt.
Deregulierung und groteskes Aufblähen des Finanzsektors – so konnte durch Kredite trotz stagnierender bzw. sinkender Reallöhne der Konsum stimuliert werden, während sich in den oberen Sphären der Finanzwelt angehäuftes Kapital austoben und fiktiv vermehren konnte.
Erhöhung der Ausbeutung der neokolonialen Länder: Am brutalsten gestaltete sich die neoliberale „Schocktherapie“ (Naomi Klein) durch IWF, WTO & Co in der sogenannten „3.Welt“. Im Austausch für akute Finanzhilfen verpflichteten sie sich zu weitreichenden Zwangsöffnungen und sogenannten „Strukturanpassungsprogrammen“ (SAP). Die Folgen: Seit den ersten SAPs 1981 hat sich die Zahl der Nahrungsmittelengpässe pro Jahr in Afrika verdreifacht. 1992 starben in Somalia 300.000 Menschen an einer Hungersnot, für die SAPs mitverantwortlich waren. 1986-2001 verdoppelte sich die Zahl der AfrikanerInnen, die von 1 USD am Tag leben müssen, auf 313 Millionen.
Ideologisch bedeutete der Neoliberalismus einen Backlash, der durch den Zusammenbruch des Stalinismus und das verkündete „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) beschleunigt wurde. Der Schlachtruf lautete „Mehr Privat – Weniger Staat!“ und wurde von Thatcher auf die Spitze getrieben: „There is no such thing as society“ („So etwas wie eine Gesellschaft/Gemeinschaft gibt es nicht“). Für Frauen bedeuteten Privatisierungen im Gesundheitssystem und Arbeitsplatzabbau einen sozialen und ideologischen Rückschlag. Sie wurden wieder an die Herde und häuslichen Pflegebetten gedrängt. Die Idee von Solidarität wurde als „leistungsfeindlich“ gebrandmarkt – Neoliberalismus bedeutet das Überleben des Stärkeren. Wer sich am Markt nicht durchsetzen kann, hat es verdient, in der Gosse zu landen und muss selbst versuchen, rauszukommen. Das nennt man dann „Verantwortung des Individuums“. Hier treffen sich Liberalismus und Rechtsextremismus: Die deutsche FDP organisierte ihre Parteitage nach dem Krieg nach dem Vorbild der NSDAP und forderte erstmals eine Generalamnestie für Nazis. Das neoliberale „Liberale Forum“ entwickelte sich aus der FPÖ. Trotz der scheinsozialen Rhetorik stützt sich die FPÖ nach wie vor auf ein stramm neoliberales Programm.
Doch trotz der neoliberalen Offensive hat sich der Kapitalismus nicht nachhaltig erholt, im Gegenteil. Das Wiederaufleben der Profite wurde nicht von einem Investitionsboom begleitet. Das Wachstum des Nettokapitalbestands war viel langsamer als während des Nachkriegsaufschwungs. Die Nachfrage nach Rohstoffen war verhältnismäßig schwächer. Höhere Profitniveaus kamen nicht aus höherer Produktivität, sondern aus gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft. Die Widersprüche kulminierten im Finanzcrash 2008. Seither fällt das neoliberale Kartenhaus in sich zusammen und enthüllt die strukturellen Schwächen des Kapitalismus. Der Kapitalismus ist zurück in seinem Normalzustand, weder keynesianische noch neoliberale Modelle konnten seine Krisenhaftigkeit eindämmen.