Fr 08.10.2010
Am frühen Abend des 30. September wird im Stuttgarter Schlossgarten ein kleines Flugblatt mit folgendem kurzen Text verteilt: “100 verletzte Kinder, 1 Schädelbasisbruch, 1 zerstörtes Auge, 6 gebrochene Nasen, viele hundert Verletzte bei gewaltsamem Polizeigroßeinsatz im Park zur Vorbereitung der Baumfällarbeiten für S21". Die Bilanz eines Tages, den die Stuttgarterinnen und Stuttgarter nicht vergessen werden und der das Bewusstsein Tausender nachhaltig verändert hat.
Seit Wochen und Monaten demonstrieren Woche für Woche immer mehr Menschen in Stuttgart gegen das milliardenschwere Prestigeprojekt Stuttgart 21, den Neubau eines unterirdischen Hauptbahnhofs. Niemand zweifelt daran, dass eine Mehrheit in der Stadt und auch in Baden-Württemberg das Projekt ablehnt. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Landesregierung keinen Volksentscheid durchführen lässt. Nachdem in den letzten Wochen der Nordflügel des oberirdischen Bahnhofsgebäudes abgerissen wurde, standen nun der Südflügel und die fast 300 Bäume in dem Teil des Schlossparks auf der Abrissliste der Landesregierung, der für Stuttgart 21 platt gemacht werden soll.
Schülerstreik
Für den gestrigen 30.9. war von der ‘Jugendoffensive gegen Stuttgart 21" zum Schülerstreik aufgerufen worden. Kurz nachdem die Auftaktkundgebung der Jugendlichen begann wurde Parkschützer-Alarm ausgelöst. Per SMS wurden tausende Menschen unterrichtet, dass Polizeikräfte auf dem Weg zum Park sind, um die Baumfällarbeiten vorzubereiten. Spontan zogen die bis zu 2.000 SchülerInnen in den Park und führten dort an den Zufahrtswegen Sitzblockaden durch, um zu verhindern, dass Baugeräte, Wasserwerfer und Absperrgitter in den Park transportiert werden können.
In den Vormittagsstunden fanden sich mehrere tausend DemonstrantInnen im Park ein, manche ketteten sich an Bäume, andere beteiligten sich an Sitzblockaden, wieder andere suchten durch direkten Ansprechen deeskalierend auf Polizeibeamte einzuwirken oder wollten durch ihre Präsenz im Park ihren Protest gegen das Abholzen der Bäume ausdrücken. Über den ganzen Tag waren sicherlich Zehntausende im Park, um an dem Protest teilzunehmen. Bis in die Nacht harrten Tausende aus und schrien der Polizei immer wieder ihre Wut und Fassungslosigkeit entgegen: “Schämt Euch!” und “Kinderschläger!” wurde immer wieder skandiert. Doch auch sie konnten das Fällen der ersten Bäume nicht verhindern. Was war geschehen?
Polizeigewalt
Schülerinnen und Schüler hatten einen Zufahrtsweg in den Park blockiert und in einem Moment, in dem die Polizeifahrzeuge, die die Absperrgitter transportierten, unbewacht waren, diese ebenfalls besetzt. Kurze Zeit später wurde außerdem ein Wasserwerfer blockiert. Von den Jugendlichen, darunter auch zwölf-, dreizehnjährige Kinder, ging bei diesen Aktionen des zivilen Ungehorsams keinerlei Provokationen oder Gewalt aus. Die Polizeikräfte begannen dennoch mit brutalem Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern den Teil des Parks zu räumen und abzusperren, in dem die ersten Bäume gefällt werden sollen.
Es spielten sich unfassbare Szenen ab. Ein Gewerkschafter berichtete, wie er aus nächster Nähe von einem Polizisten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht bekam, obwohl er nur einen Baum schützte und es noch zu keinen Handgreiflichkeiten mit der Polizei gekommen war. Michael Koschitzki, Jugendsprecher der SAV und die ehemalige ver.di-Vorsitzende Sybille Stamm konnten dasselbe berichten.
Florian Tuniotti von der Jugendoffensive erklärte, dass es kein Zufall gewesen sein kann, dass der Polizeieinsatz ausgerechnet am Tag des Schülerstreiks durchgeführt wurde. Die SchülerInnen hatten bis 17 Uhr eine Kundgebung im Park genehmigt bekommen, die ihnen ohne Begründung von der Polizei verweigert wurde und ihr Lautsprecherwagen durfte nicht in den Park. “Landesregierung und Polizei haben Kinder und Jugendliche bewusst einer Gefahr ausgesetzt, so Tuniotti. Wahrscheinlich war eine Eskalation der Situation im Park von Regierungsseite gewollt, um DemonstrantInnen Gewalt vorwerfen, den Schülerstreik diskreditieren und die Bewegung spalten zu können. Das ist aber gehörig schief gegangen. Während noch im Nachmittag von polizeilicher Seite behauptet wurde, aus der Schülerdemonstration heraus habe es Angriffe auf Polizisten mit Pfefferspray und Pflastersteinen gegeben, musste die Polizei selber diese Behauptung wieder zurück nehmen, weil zu viele Menschen mit eigenen Augen gesehen hatten, was passiert war. Unter den StuttgarterInnen ist die Empörung und Wut auf die Polizeiwillkür und die Arroganz der Macht riesig, Und selbst die meisten Medien konnten angesichts der Eindeutigkeit der Bilder die Verantwortung für die Gewalt nicht den DemonstrantInnen in die Schuhe schieben.
Die Jugendoffensive reagierte sofort und produzierte ein neues Flugblatt mit dem Titel “Der Streik war richtig”, in dem sie Vorwürfe der Instrumentalisierung von Jugendlichen zur Verteidigung des Parks zurückwiesen und SchülerInnen aufriefen, den Widerstand fortzusetzen. Im Laufe des Abends wurde von der Jugendgruppe noch eine Demonstration durchgeführt, die mehrere Kreuzungen blockierte und den Widerstand auf die Straße trug.
Für die Stuttgarterinnen und Stuttgarter war der Polizeieinsatz ein Lehrstück in kapitalistischer Demokratie. Sobald das Volk den Mächtigen gefährlich wird, lassen diese die geballte Staatsgewalt auf die Menschen los. Doch auch wenn es Landesregierung und Polizei gelungen ist, den Park so weit zu räumen, dass sie mit dem Abholzen erster Bäume loslegen können, so war ihr Vorgehen ein Eigentor und wird dem Widerstand gegen Stuttgart 21 hoffentlich weiter Auftrieb geben. Für den heutigen Abend ist eine weitere Massendemonstration geplant.
Die Ereignisse des gestrigen Tages zeigen aber auch die Grenzen von spontanem Protest auf. Leider waren die S21-GegnerInnen trotz ihres riesigen Mutes und ihrer Opferbereitschaft an diesem Tag dann doch zu wenige, nicht ausreichend koordiniert und auch zu wenig organisiert, um das Fällen der Bäume zu verhindern. Vor allem ist es ein Skandal, dass die Gewerkschaftsführungen trotz Beschlusslage gegen Stuttgart 21 immer noch nicht begonnen haben, die Bewegung zu unterstützen und stattdessen eine Beobachterrolle einnehmen. Die Schülerinnen und Schüler haben mit ihrem Streik ein Zeichen gesetzt, dass von GewerkschafterInnen aufgegriffen werden sollte: Arbeitsniederlegungen und Streiks gegen Stuttgart 21 - und nach dem gestrigen Tag auch gegen die willkürliche Polizeigewalt - wären das effektivste Mittel, um das Bauvorhaben noch zu stoppen. Es ist ein Skandal, dass die Führung der in der Region so mächtigen IG Metall immer noch keine Unterstützung für die Bewegung gegen Stuttgart 21 organisiert, während Tausende ihrer Mitglieder Woche für Woche dagegen auf die Straße gehen. Das Thema sollte nun in allen Vertrauenskörpern und Gremien der IG Metall auf die Tagesordnung gebracht und entsprechende Anträge gestellt werden. Erste Schritt könnten Betriebsversammlungen, eine Informationskampagne in den Betrieben, gewerkschaftliche Mobilisierungen zu den regelmäßigen Demonstrationen und Blockaden und die Einbeziehung des Widerstands gegen Stuttgart 21 in die geplante gewerkschaftliche Großdemonstration am 13.11.
Spätestens seit gestern ist Stuttgart 21 ein bundesweites Politikum. Spontane Solidaritätsaktionen fanden schon statt, weitere werden in den nächsten Tagen folgen. Es ist nun unter anderem Aufgabe der Partei DIE LINKE, eine bundesweite Kampagne zur Solidarität mit dem Protest in Stuttgart zu organisieren. Es ist gut und richtig, dass die Bundestagsfraktion der Partei heute eine aktuelle Stunde im Bundestag beantragt hat, dies darf aber nur eine Plattform sein, um den Protest weiter, und nun auch bundesweit, auf die Straße zu tragen und darf keine Ablenkung auf die parlamentarische Ebene bedeuten. “Mappus weg” wurde tausendfach skandiert am gestrigen Donnerstag. Doch weder ein Rücktritt noch eine Abwahl von Mappus bei den im Frühjahr anstehenden Landtagswahlen wären eine Gewähr für ein Ende des Milliardengrabs Stuttgart 21. Dies kann nur durch eine Fortsetzung und Steigerung des Widerstands erreicht werden. Dadurch, dass mehr Menschen auf die Straße gehen. Dadurch, dass sich Menschen in den Stadtteilen, Schulen, Betrieben zu Gruppen gegen S 21 organisieren. Dadurch, dass der Protest bundesweit ausgedehnt wird. Dadurch, dass weiterhin durch Aktionen zivilen Ungehorsams der Abriss der weiteren Bäume und des Südflügels gestört wird und diese notwendigen Blockaden besser koordiniert und organisiert werden. Und dadurch, dass die Gewerkschaften endlich in den Betrieben zu Aktionen bis hin zu Streiks aufrufen.
SAV
SAV-Mitglieder haben den Schülerstreik mit organisiert und waren an vorderster Front bei den gestrigen Protesten und Sitzblockaden dabei. Sie schlagen die Durchführung einer Versammlung von AktivistInnen unter Beteiligung aller relevanten Gruppen vor, um der Bewegung eine möglichst demokratische Struktur zu geben und zukünftige Widerstandsaktionen besser zu koordinieren.