Mauerfall im Klassenzimmer

Was uns die Schule über die DDR und ihr Ende erzählt
Elisabeth Brahier

"Im Gegensatz zur BRD ging der Wiederaufbau in der DDR nur langsam vor sich. Die schlechte Versorgung, die Erhöhung der Leistungsnormen für die Arbeiter und der politische Druck führten im Juni (Anmerkung: 1953) zu einem offenen Aufstand gegen die Sozialistische Einheitspartei und die Regierung. Der Aufstand wurde jedoch mit Hilfe sowjetischer Panzer innerhalb von zwei Tagen brutal niedergeschlagen." So steht es, als knapper Text umrahmt mit Stacheldraht-Bildchen im Geschichtsbuch einer 8. Schulstufe. Vierzehnjährige SchülerInnen sollen zu diesem Thema somit folgende Botschaft mitnehmen: "Die Ostdeutschen wollen keinen Kommunismus", "dem Westen ging's besser" und "die Russen sind ein brutales Volk." Wahrlich brach am 17.6.1953 - ausgehend von einer Bauarbeiterdemonstration - ein Aufstand aus. Jedoch richtete er sich gegen die korrupte Bürokratie und die mangelnde Demokratie in ihrem stalinistisch geführten Staat und proklamierte keineswegs den Kapitalismus als Alternative. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang vielmehr gerade die Rolle des Westens: der West-Radiosender RIAS Berlin etwa weigerte sich, den Aufruf zum Streik zu senden - der Streik war nämlich nicht (so wie es im oben zitierten Schulbuch den Anschein nimmt) primär pro-kapitalistisch. Den ostdeutschen ArbeiterInnen ging es nicht um die Wiedereinführung des Kapitalismus - Ziel war eine demokratische, sozialistische Gesellschaft.

Was wollte die Bewegung 1989 ursprünglich?

Angesichts der ökonomischen und politischen Krise der Bürokratie hatte sich im Jahr 1989 eine kämpferisch-revolutionäre Stimmung innerhalb der Bevölkerung der DDR (sowie in ganz Osteuropa) aufgestaut. Anfänglich waren die Demonstrationen jedoch keineswegs auf die - kapitalistische - "Wiedervereinigung" ausgerichtet. So begann die Großdemonstration am 4.11.1989 mit den Worten "Das ist eine sozialistische Kundgebung". Die Forderungen waren vor allem auf eine Demokratisierung, ein Ende der Unterdrückung durch die Stasi (Ministerium für Staatssicherheit, DDR-Geheimdienst) und - sehr oft - auf einen besseren oder anderen Sozialismus gerichtet. Auf den Demos tauchten zahllose Transparente mit Losungen wie "Alle Macht den Räten", "Sozialismus - ja, aber besser" oder "Gegen Monopolsozialismus - für demokratischen Sozialismus" auf.
Unsere Schulbücher haben zu diesem Jahr allerdings folgendes zu sagen: "(…) Immer mehr BürgerInnen forderten: ‚Wir wollen raus!'. Die DDR-Machthaber wagten es nicht mehr, gewaltsam gegen Demonstranten vorzugehen. Durch Zugeständnisse wollte die regierende Einheitspartei SED ihre Macht retten: Die Berliner Mauer wurde geöffnet, endlich gab es Reisefreiheit! Doch die Demonstrationen gingen weiter und man hörte ‚Wir sind ein Volk!' und ‚Deutschland, einig Vaterland!'. (…)"
Natürlich gab es auch anfänglich bereits eine Strömung, die klar auf die "Wiedervereinigung" setzte und diese oft mit nationalistischen Untertönen mixte, doch war diese noch keineswegs bestimmend. Dominierend war die Losung "Wir sind das Volk". Sogar der "Demokratische Aufbruch", eine Oppositionsorganisation, die später der CDU beitrat, forderte anfänglich "eine sozialistische Gesellschaft auf demokratischer Grundlage". Auch die bekannteste Vertreterin der anfänglich wichtigsten Oppositionsgruppe, des "Neuen Forum" (das später in den Grünen aufging), Bärbel Bohley, bekannte sich zum Sozialismus. Laut der Financial Times vom 11.11.1989 meinten in einer Umfrage 86%, sie seien für sozialistische Reformen, hingegen wollten nur 5% eine kapitalistische Restauration. Eine revolutionäre Entwicklung war also durchaus nicht ausgeschlossen. Es existierte allerdings - im Gegensatz zu den prokapitalistischen Parteien - keine organisierte Kraft in der DDR, welche die Bewegung in diese Richtung weitertreiben hätte können. Die "Wiedervereinigung" - jahrzehntlang im Westen als Propagandaformel getrommelt - entwickelte sich für viele zur einzig greifbaren Perspektive welche allerdings von der Regierung Kohl zunächst nur zögerlich aufgegriffen wurde.

Aus "Wir  sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk"

Erst am 13.1.1990 befürworteten bundesdeutsche PolitikerInnen öffentlich eine "deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion". Der Großteil der alten BürokratInnen lief nun mit fliegenden Fahnen ins kapitalistische Lager über. Kanzler Helmuth Kohl versprach in der Folge "blühende Landschaften" und damit eine scheinbare, positive Alternative zum gescheiterten Stalinismus. Gegenüber "Wir sind das Volk" setzte sich nun "Wir sind ein Volk" endgültig als Motto der Demonstrationen durch. Die damit verbundenen Hoffnungen sollten in den folgenden Jahren allerdings bitter enttäuscht werden: Der wirtschaftliche Ausverkauf begann nämlich bereits mit der Gründung der Treuhand am 1.3.1990, die in der Folge alles verkaufen und privatisieren sollte, was nicht niet- und nagelfest war. (Die Politik der Treuhand wird übrigens heute von 63% der ostdeutschen Arbeitslosen als Hauptursache für die hohe Arbeitslosigkeit im Osten genannt.) Und bereits am 2.7. -  dem Tag nach der Währungsunion - bekamen 600.000 ArbeiterInnen den blauen Brief.

Quellen:
‚Deutsche Wiedervereinigung - 10 Jahre danach’; aus Zeitbilder 4, öbv&hpt;
‚Perestroika’, Michail Gorbatschow;
www.sozialismus.info
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