Di 26.06.2007
I. Bonapartismus und Faschismus
Versuchen wir, uns kurz zu vergegenwärtigen, was geschehen ist und wo wir stehen.
Dank der Sozialdemokratie verfügte die Brüning-Regierung über die Unterstützung des Parlaments, um mit Hilfe von Notverordnungen zu regieren. Die sozialdemokratischen Führer sagten: „Auf diese Weise werden wir dem Faschismus den Weg zur Macht versperren.“ Die Stalinsche Bürokratie sagte: „Nein, der Faschismus hat bereits gesiegt, das Brüningregime ist eben Faschismus.“ Das eine wie das andere war falsch. Die Sozialdemokraten gaben das passive Zurückweichen vor dem Faschismus als Kampf gegen den Faschismus aus. Die Stalinisten stellten die Sache so dar, als liege der Sieg des Faschismus bereits zurück. Die Kampfkraft des Proletariats wurde von beiden Seiten untergraben und der Sieg des Feindes erleichtert und nähergebracht.
Wir haben seinerzeit die Brüningregierung als Bonapartismus („Karikatur auf den Bonapartismus“) bezeichnet, d.h. als ein Regime militärisch-polizeilicher Diktatur. Sobald der Kampf zweier sozialer Lager – der Besitzenden und Besitzlosen, der Ausbeuter und Ausgebeuteten – höchste Spannung erreicht, sind die Bedingungen für die Herrschaft von Bürokratie, Polizei, Soldateska gegeben. Die Regierung wird „unabhängig“ von der Gesellschaft. Erinnern wir nochmals daran: steckt man zwei Gabeln symmetrisch in einen Kork, so kann er sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten. Dies ist eben das Schema des Bonapartismus. Gewiss, eine solche Regierung hört nicht auf, Kommis der Eigentümer zu sein. Doch sitzt der Kommis dem Herrn auf dem Buckel, reibt ihm den Nacken wund und steht nicht an, seinem Herrn gegebenenfalls mit dem Stiefel über das Gesicht zu fahren.
Man konnte annehmen, Brüning werde sich bis zur endgültigen Lösung halten. Doch hat sich in den Gang der Ereignisse noch ein Glied eingefügt: die Papen-Regierung. Wollten wir genau sein, so müssten wir an unserer alten Bezeichnung eine Berichtigung vornehmen: die Brüning-Regierung war eine vorbonapartistische Regierung. Brüning war nur ein Vorläufer. In entwickelter Gestalt ist der Bonapartismus als Papen-Schleicher-Regierung auf die Bühne getreten.
Worin besteht der Unterschied? Brüning beteuerte, kein höheres Glück zu kennen, als Hindenburg und dem Paragraphen 48 zu „dienen“. Hitler „stützte“ mit der Faust Brünings rechte Hüfte. Mit dem linken Ellbogen aber hielt Brüning sich an Wels’ Schulter. Im Reichstag fand Brüning eine Mehrheit, die ihn der Notwendigkeit enthob, mit dem Reichstag zu rechnen.
Je mehr Brünings Unabhängigkeit vom Parlament wuchs, desto unabhängiger fühlte sich die Spitze der Bürokratie von Brüning und den hinter ihm stehenden politischen Gruppierungen. Es blieb nur übrig, endgültig die Bande mit dem Reichstag zu zerreißen. Die Regierung von Papens ging aus einer unbefleckten bürokratischen Empfängnis hervor. Mit dem rechten Ellbogen stützt sie sich auf Hitlers Schulter. Mit der Polizeifaust wehrt sie sich auf der linken gegen das Proletariat. Darin liegt das Geheimnis ihrer „Stabilität“, d.h. der Tatsache, dass sie im Moment ihrer Entstehung nicht zusammenbrach.
Die Brüningregierung hatte pfäffisch-bürokratisch-polizeilichen Charakter. Die Reichswehr blieb noch in Reserve. Als unmittelbare Ordnungsstütze diente neben der Polizei die „Eiserne Front“. In der Beseitigung der Abhängigkeit von der „Eisernen Front“ bestand eben das Wesen des Hindenburg-Papenschen Staatsstreichs. Die Generalität rückte dabei automatisch an die erste Stelle.
Die sozialdemokratischen Führer erwiesen sich als vollkommen übertölpelt. So geziemt es sich auch für sie in Perioden sozialer Krisen. Diese kleinbürgerlichen Intriganten scheinen klug nur unter Bedingungen, wo Klugheit nicht nötig ist. Jetzt ziehen sie nachts die Decke über den Kopf, schwitzen und hoffen auf ein Wunder. Am Ende wird man vielleicht doch nicht nur den Kopf retten können, sondern auch die weichen Möbel und die kleinen, unschuldigen Ersparnisse. Doch Wunder wird es nicht geben ...
Unglücklicherweise ist aber auch die Kommunistische Partei durch die Ereignisse vollkommen überrumpelt worden. Die Stalinsche Bürokratie hat nicht verstanden vorauszusehen. Heute sprechen Thälmann, Remmele u.a. bei jedem Anlass „vom Staatsstreich des 20. Juli“. Wie denn? Zuerst behaupteten sie, der Faschismus sei bereits da und nur die „konterrevolutionären Trotzkisten“ könnten davon als von etwas Zukünftigem sprechen. Jetzt erweist es sich, dass für den Übergang von Brüning zu Papen – vorerst nicht zu Hitler, sondern lediglich zu Papen ein ganzer „Staatsstreich“ nötig war. Doch der Klassencharakter Severings, Brünings und Hitlers, lehrten uns diese Weisen, ist „ein und derselbe“. Woher also und wozu der Staatsstreich?
Dabei ist aber die Verwirrung nicht zu Ende. Obgleich der Unterschied zwischen Bonapartismus und Faschismus nun deutlich genug zutage getreten ist, sprechen Thälmann, Remmele u.a. vom faschistischen Staatsstreich des 20. Juli. Gleichzeitig warnen sie die Arbeiter vor der nahenden Gefahr der Hitlerschen, d.h. gleichfalls faschistischen Umwälzung. Schließlich wird die Sozialdemokratie dabei nach wie vor als sozialfaschistisch bezeichnet. Die Bedeutung der einander folgenden Ereignisse besteht demnach darin, dass verschiedene Spielarten von Faschismus mit Hilfe „faschistischer“ Staatsstreiche einander die Macht abnehmen. Ist es nicht klar, dass die ganze Stalinsche Theorie eigens dazu geschaffen ist, die menschlichen Gehirne zu verkleistern?
Je weniger vorbereitet die Arbeiter waren, um so mehr musste der Auftritt der Papenregierung auf der Bühne den Eindruck von Kraft erwecken: völliges Ignorieren der Parteien, neue Notverordnungen, Auflösung des Reichstags, Repressalien, Belagerungszustand in der Hauptstadt, Beseitigung der preußischen „Demokratie“. Und mit welcher Leichtigkeit! Einen Löwen tötet man mit Kugeln, den Floh zerdrückt man zwischen den Fingernägeln, sozialdemokratische Minister erledigt man mit einem Nasenstüber.
Doch die Papen-Regierung ist – trotz des Anscheins konzentrierter Kräfte – „an und für sich“ noch schwächer als ihre Vorgängerin. Das bonapartistische Regime kann verhältnismäßig stabilen und dauerhaften Charakter nur dann erlangen, wenn es eine revolutionäre Epoche abschließt, wenn das Kräfteverhältnis bereits in Kämpfen erprobt wurde, wenn die revolutionären Klassen sich bereits verausgabt, die besitzenden Klassen sich aber noch nicht von der Furcht befreit haben, ob der morgige Tag nicht neue Erschütterungen bringen wird. Ohne diese Grundbedingung, d.h. ohne vorherige Erschöpfung der Massenenergien im Kampfe, ist das bonapartistische Regime außerstande, sich zu entfalten.
Durch die Papenregierung haben die Barone, Kapitalmagnaten und Bankiers den Versuch unternommen, ihre Sache durch Polizei und reguläre Armee zu sichern. Der Gedanke, die ganze Macht an Hitler abzutreten, der sich auf die gierigen und entfesselten Banden des Kleinbürgertums stützt, ist für sie durchaus nicht beglückend. Sie bezweifeln natürlich nicht, dass Hitler zu guter Letzt ein gefügiges Werkzeug ihrer Herrschaft sein würde. Doch das wäre verbunden mit Erschütterungen, mit dem Risiko eines langwierigen Bürgerkrieges und großer Unkosten. Allerdings führt der Faschismus, wie Italiens Beispiel zeigt, letzten Endes zur militärisch-bürokratischen Diktatur bonapartistischen Typs. Doch braucht er dazu, selbst im Falle eines vollständigen Sieges, eine Reihe von Jahren – in Deutschland länger als in Italien. Es ist klar, dass die besitzenden Klassen einen ökonomischeren Weg vorziehen würden, d.h. den Weg Schleichers und nicht den Hitlers, ganz davon abgesehen, dass Schleicher sich selbst den Vorzug gibt.
Die Tatsache, dass die Neutralisierung der unversöhnlichen Lager die Existenzbasis der Papen-Regierung ist, bedeutet natürlich keineswegs, dass die Kräfte des revolutionären Proletariats und der reaktionären Kleinbourgeoisie auf der Waage der Geschichte einander gleich sind. Die ganze Frage verschiebt sich hier auf das Gebiet der Politik. Durch den Mechanismus der „Eisernen Front“ paralysiert die Sozialdemokratie das Proletariat. Mit der Politik des kopflosen Ultimatismus verlegt die Stalinsche Bürokratie den Arbeitern den revolutionären Ausweg. Bei richtiger Führung des Proletariats würde der Faschismus mühelos zunichte gemacht werden und für den Bonapartismus nicht eine Ritze offen bleiben. Unglücklicherweise ist es anders. Die paralysierte Kraft des Proletariats hat die trügerische Form einer „Kraft“ der bonapartistischen Clique angenommen. Das ist die politische Formel des heutigen Tages.
Die Papen-Regierung stellt den unpersönlichen Schnittpunkt großer historischer Kräfte dar. Ihr selbständiges Gewicht ist beinahe Null. Darum musste sie vor ihren eigenen Gesten erschrecken und schwindlig werden vor der rings um sie herum entstehenden Leere. Damit und nur damit ist es zu erklären, dass in den Handlungen der Regierung bisher auf ein Teil Verwegenheit zwei Teile Feigheit kamen. Preußen, d.h. der Sozialdemokratie gegenüber führte die Regierung ein sicheres Spiel; sie wusste, diese Herren würden keinerlei Widerstand leisten. Aber nachdem sie den Reichstag aufgelöst hatte, schrieb sie Neuwahlen aus und wagte es nicht, diese hinauszuschieben. Nach Verkündung des Belagerungszustandes eilte sie, zu erklären, dies solle nur den sozialdemokratischen Führern die kampflose Kapitulation erleichtern.
Aber es gibt doch eine Reichswehr? Wir werden sie nicht vergessen. Engels bezeichnete den Staat als bewaffnete Abteilungen von Menschen, die über materielle Hilfsmittel wie Gefängnisse usw. verfügen. In bezug auf die gegenwärtige Regierungsmacht kann man sogar sagen, dass nur die Reichswehr wirklich besteht. Doch die Reichswehr ist keineswegs ein gefügiges und sicheres Werkzeug in den Händen jener Gruppe von Leuten, an deren Spitze Papen steht. In Wirklichkeit ist die Regierung eher eine Art politische Kommission der Reichswehr.
Aber trotz all ihrem Übergewicht über die Regierung kann die Reichswehr nicht auf eine selbständige politische Rolle Anspruch erheben. Hunderttausend Soldaten, wie zusammengeschweißt und gestählt sie auch sein mögen (was noch zu erproben bleibt), können nicht eine von tiefsten sozialen Gegensätzen zerrissene Nation von 65 Millionen kommandieren. Die Reichswehr ist nur ein Element – nicht das entscheidende – im Kräftespiel.
Der neue Reichstag spiegelt in seiner Art nicht schlecht die politische Lage im Lande wider, die zum bonapartistischen Experiment geführt hat. Das Parlament ist ohne Mehrheit, mit unversöhnlichen Flügeln, ein anschauliches und unwiderlegbares Argument zugunsten der Diktatur. Nochmals treten mit aller Klarheit die Grenzen der Demokratie zutage. Wo es um die Grundlagen der Gesellschaft selbst geht, entscheidet nicht die parlamentarische Arithmetik. Da entscheidet der Kampf.
Wir werden es nicht versuchen, aus der Ferne zu erraten, auf welchen Wegen in den nächsten Tagen versucht werden wird, die Regierung zu bilden. Unsere Hypothesen kämen ohnehin verspätet, und überdies wird die Frage nicht durch die möglichen Übergangsformen und Kombinationen entschieden. Ein Block der Rechten mit dem Zentrum würde die „Legalisierung“ der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten bedeuten, d.h. die geeignetste Deckung für den faschistischen Staatsstreich bieten. Welches Verhältnis sich in der ersten Zeit zwischen Hitler, Schleicher und den Zentrumsführern herausbilden würde, ist wichtiger für sie selbst, als für das deutsche Volk. Politisch bedeuten alle denkbaren Kombinationen mit Hitler die Auflösung von Bürokratie, Gericht, Polizei und Armee im Faschismus.
Nimmt man an, das Zentrum werde nicht auf eine Koalition eingehen, in der es um den Preis des Bruchs mit den eigenen Arbeitern die Rolle der Bremse in Hitlers Lokomotive übernimmt, so bleibt einzig der unverhüllte außerparlamentarische Weg offen. Eine Kombination ohne das Zentrum würde das Übergewicht der Nationalsozialisten noch leichter und rascher sichern. Sollten diese nicht sofort mit Papen einig werden und gleichzeitig nicht zu direktem Angriff übergehen, so wird der bonapartistische Charakter der Regierung noch deutlicher zum Vorschein kommen müssen; von Schleicher würde seine „hundert Tage“ haben.., ohne die vorausgegangenen Napoleonschen Jahre.
Hundert Tage – nein, das ist zuviel. Die Reichswehr entscheidet nicht. Schleicher genügt nicht. Die außerparlamentarische Diktatur der Junker und der Magnaten des Finanzkapitals lässt sich nur durch die Methoden eines langwierigen und unbarmherzigen Bürgerkrieges sichern. Wird Hitler diese Aufgabe erfüllen können? Das hängt nicht nur vom bösen Willen des Faschismus, sondern auch vom revolutionären Willen des Proletariats ab.
II. Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Proletariat
Jede wirkliche Analyse der politischen Lage muss von den Beziehungen zwischen drei Klassen ausgehen: Bourgeoisie, Kleinbürgertum (samt Bauernschaft) und Proletariat.
Die wirtschaftlich mächtige Großbourgeoisie stellt an sich eine verschwindende Minderheit der Nation dar. Um ihre Herrschaft zu befestigen, muss sie bestimmte Beziehungen zum Kleinbürgertum sichern und – durch dessen Vermittlung – mit dem Proletariat.
Zum Verständnis der Dialektik dieser Verhältnisse muss man drei historische Etappen unterscheiden: den Anfang der kapitalistischen Entwicklung, als die Bourgeoisie zur Lösung ihrer Aufgaben revolutionäre Methoden benötigte; die Blüte- und Reifeperiode des kapitalistischen Regimes, wo die Bourgeoisie ihrer Herrschaft geordnete, friedliche, konservative, demokratische Formen verlieh; endlich den Niedergang des Kapitalismus, wo die Bourgeoisie gezwungen ist, zu Bürgerkriegsmethoden gegen das Proletariat zu greifen, um ihr Recht auf Ausbeutung zu wahren.
Die diese drei Etappen charakterisierenden politischen Programme: Jakobinertum, reformistische Demokratie (darunter auch: Sozialdemokratie) und Faschismus sind ihrem Wesen nach Programme kleinbürgerlicher Strömungen. Schon das beweist, welch große, richtiger, welch entscheidende Bedeutung die politische Selbstbestimmung der kleinbürgerlichen Volksmassen für das Schicksal der gesamten bürgerlichen Gesellschaft besitzt!
Aber die Wechselbeziehungen zwischen der Bourgeoisie und ihrer grundlegenden sozialen Stütze, dem Kleinbürgertum, beruhen keineswegs auf gegenseitigem Vertrauen und friedlicher Zusammenarbeit. In seiner Masse ist das Kleinbürgertum eine ausgebeutete und benachteiligte Klasse. Es steht der Großbourgeoisie mit Neid und oft mit Hass gegenüber. Die Bourgeoisie ihrerseits misstraut dem Kleinbürgertum, während sie sich seiner Unterstützung bedient, denn sie fürchtet ganz zu Recht, es sei stets geneigt, die ihm von oben gesetzten Schranken zu überschreiten.
Während die Jakobiner der bürgerlichen Entwicklung den Weg bahnten, gerieten sie bei jedem Schritt in heftige Zusammenstöße mit der Bourgeoisie. Sie dienten ihr in unversöhnlichem Kampfe gegen sie. Nachdem sie ihre begrenzte historische Rolle erfüllt hatten, wurden die Jakobiner gestürzt, denn die Herrschaft des Kapitals war vorherbestimmt.
Über mehrere Etappen hin festigte die Bourgeoisie ihre Macht unter der Form der parlamentarischen Demokratie. Wiederum weder friedlich noch freiwillig. Die Bourgeoisie hatte tödliche Furcht vor dem allgemeinen Wahlrecht. Letzten Endes aber gelang es ihr, sich durch eine Kombination von Gewaltmaßnahmen und Zugeständnissen, von Hungerpeitsche und Reformen, im Rahmen der formalen Demokratie nicht nur das alte Kleinbürgertum unterzuordnen, sondern in bedeutendem Maße auch das Proletariat, mit Hilfe des neuen Kleinbürgertums – der Arbeiterbürokratie. Im August 1914 war die imperialistische Bourgeoisie imstande, mittels der parlamentarischen Demokratie Dutzende von Millionen Arbeiter und Bauern in den Krieg zu führen.
Aber gerade mit dem Krieg beginnt der deutliche Niedergang des Kapitalismus, vor allem seiner demokratischen Herrschaftsform. Jetzt geht es schon nicht mehr um neue Reformen und Almosen, sondern um Schmälerung und Wegnahme der alten. Die politische Herrschaft der Bourgeoisie gerät damit in Widerspruch nicht nur zu den Einrichtungen der proletarischen Demokratie (Gewerkschaften und politische Parteien), sondern auch zur parlamentarischen Demokratie, in deren Rahmen die Arbeiterorganisationen entstanden sind. Daher der Feldzug gegen den „Marxismus“ einerseits, gegen den demokratischen Parlamentarismus andererseits.
Wie aber die Spitzen der liberalen Bourgeoisie seinerzeit außerstande waren, aus eigener Kraft mit Monarchie, Feudalität und Kirche fertig zu werden, so sind die Magnaten des Finanzkapitals außerstande, aus eigener Kraft mit dem Proletariat fertig zu werden. Sie brauchen die Hilfe des Kleinbürgertums. Zu diesem Zweck muss es aufgepeitscht, auf die Beine gebracht, mobilisiert und bewaffnet werden. Doch diese Methode ist gefährlich. Während die Bourgeoisie sich des Faschismus bedient, fürchtet sie ihn. Pilsudski war im Mai 1926 gezwungen, die bürgerliche Gesellschaft durch einen gegen die herkömmlichen Parteien der polnischen Bourgeoisie gerichteten Staatsstreich zu retten. Es kam so weit, dass der offizielle Führer der polnischen Kommunistischen Partei, Warski, der von Rosa Luxemburg nicht zu Lenin, sondern zu Stalin übergegangen war, Pilsudskis Umsturz für den Weg zur „revolutionär-demokratischen Diktatur“ hielt und die Arbeiter zur Unterstützung Pilsudskis aufrief.
In der Sitzung der polnischen Kommission des Exekutivkomitees der Komintern am 2. Juli 1926 sagte der Verfasser dieser Zeilen anlässlich der Ereignisse in Polen:
„In seiner Gesamtheit gesehen ist Pilsudskis Umsturz die kleinbürgerliche, ‚plebejische‘ Art der Lösung der unaufschiebbaren Aufgaben der in Zersetzung und Niedergang befindlichen bürgerlichen Gesellschaft. Hier besteht bereits eine direkte Annäherung an den italienischen Faschismus.
Beide Strömungen haben unzweifelhaft gemeinsame Züge: ihre Stoßtruppen rekrutieren sich vor allem aus dem Kleinbürgertum; Pilsudski wie Mussolini arbeiteten mit außerparlamentarischen, offen gewalttätigen Mitteln, mit den Methoden des Bürgerkrieges; beide waren nicht um den Sturz, sondern um die Rettung der bürgerlichen Gesellschaft bemüht. Während sie das Kleinbürgertum auf die Beine gebracht hatten, vereinigten sie sich nach der Machteroberung offen mit der Großbourgeoisie. Hier drängt sich unwillkürlich eine historische Generalisierung auf, wenn man sich der von Marx gegebenen Einschätzung des Jakobinertums als der plebejischen Abrechnung mit den feudalen Feinden der Bourgeoisie erinnert ... Das war in der Aufstiegsepoche der Bourgeoisie. Jetzt muss man sagen, dass in der Niedergangsepoche der bürgerlichen Gesellschaft die Bourgeoisie abermals einer ‚plebejischen‘ Lösung ihrer nun nicht mehr progressiven, sondern durch und durch reaktionären Aufgaben bedarf. In diesem Sinne ist der Faschismus eine reaktionäre Karikatur auf das Jakobinertum ...
Die untergehende Bourgeoisie ist unfähig, sich mit den Methoden und Mitteln des von ihr selbst geschaffenen parlamentarischen Staates an der Macht zu halten. Sie braucht den Faschismus als Waffe der Selbstverteidigung, zumindest in den kritischsten Augenblicken. Doch die Bourgeoisie liebt die ‚plebejische‘ Lösung ihrer Aufgaben nicht. Sie blieb dem Jakobinertum gegenüber, das den Entwicklungsweg der bürgerlichen Gesellschaft mit Blut gesäubert hatte, durchweg feindlich. Die Faschisten sind der Verfallsbourgeoisie unermesslich näher als die Jakobiner der aufsteigenden. Doch die solide Bourgeoisie sieht auch die faschistische Lösung ihrer Aufgaben ungern, denn die Erschütterungen, die das mit sich bringt, sind für sie, obwohl sie im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft liegen, mit Gefahren verbunden. Daher der Gegensatz zwischen dem Faschismus und den herkömmlichen bürgerlichen Parteien ...
Die Großbourgeoisie liebt den Faschismus ebenso wenig wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen. Die besseren Kreise der bürgerlichen Gesellschaft verfolgten mit Widerwillen das Werk des Zahnarztes Pilsudski, letzten Endes aber fügten sie sich in das Unvermeidliche, wenn auch mit Drohungen, mit Handeln und Feilschen. So verwandelt sich der gestrige Abgott des Kleinbürgertums in den Gendarmen des Kapitals.“
Diesem Versuch, die historische Funktion des Faschismus als die politische Ablösung der Sozialdemokratie zu kennzeichnen, wurde die Theorie vom „Sozialfaschismus“ gegenübergestellt. Anfangs konnte sie als anmaßende, marktschreierische, aber harmlose Dummheit erscheinen. Die weiteren Ereignisse haben gezeigt, welchen verderblichen Einfluss die Stalinsche Theorie auf die gesamte Entwicklung der Komintern ausübte. 1*
Ergibt sich aus der historischen Rolle von Jakobinertum, Demokratie und Faschismus, dass das Kleinbürgertum verdammt ist, bis ans Ende seiner Tage ein Werkzeug in den Händen des Kapitals zu bleiben? Stünden die Dinge so, so wäre die Diktatur des Proletariats in einer Reihe von Ländern, wo das Kleinbürgertum die Mehrheit der Nation bildet, ausgeschlossen und in anderen Ländern, wo das Kleinbürgertum eine bedeutende Minderheit darstellt, äußerst erschwert. Zum Glück stehen die Dinge nicht so. Schon die Erfahrung der Pariser Kommune hat zumindest in den Grenzen einer Stadt, wie nach ihr die Erfahrung der Oktoberrevolution in unvergleichlich größerem räumlichen und zeitlichen Maßstab gezeigt, dass das Bündnis von Groß- und Kleinbourgeoisie nicht unauflöslich ist. Ist das Kleinbürgertum unfähig zu selbständiger Politik (weshalb sich insbesondere auch die kleinbürgerliche „demokratische Diktatur“ nicht verwirklichen lässt), so bleibt ihm nur die Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
In der Epoche von Aufstieg, Wachstum und Blüte des Kapitalismus ging das Kleinbürgertum trotz heftiger Ausbrüche von Unzufriedenheit im großen und ganzen gehorsam im kapitalistischen Gespann. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Fäulnis und wirtschaftlichen Ausweglosigkeit aber versucht die Kleinbourgeoisie, sich den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft zu entwinden. Sie ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen. Hierzu ist nur eines erforderlich: Das Kleinbürgertum muss die Überzeugung gewinnen, dass das Proletariat fähig ist, die Gesellschaft auf einen neuen Weg zu führen. Ihm diesen Glauben einzuflößen, vermag das Proletariat nur durch seine Kraft, durch die Sicherheit seiner Handlungen, durch geschickten Angriff auf die Feinde, durch die Erfolge seiner revolutionären Politik.
Doch wehe, wenn die revolutionäre Partei sich als unfähig erweist! Der tägliche Kampf des Proletariats verschärft die Unbeständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Streiks und politische Unruhen verschlechtern die Wirtschaftslage des Landes. Das Kleinbürgertum wäre bereit, sich vorübergehend mit den wachsenden Entbehrungen abzufinden, wenn es durch die Erfahrung zur Überzeugung käme, dass das Proletariat imstande ist, es auf einen neuen Weg zu führen. Erweist sich aber die revolutionäre Partei trotz des ununterbrochen zunehmenden Klassenkampfs immer wieder von neuem als unfähig, die Arbeiterklasse um sich zu scharen, schwankt sie, ist sie verwirrt, widerspricht sie sich selbst, dann verliert das Kleinbürgertum die Geduld und beginnt in den revolutionären Arbeitern die Urheber seines eigenen Elends zu sehen. In diese Richtung drängen es alle bürgerlichen Parteien, darunter auch die Sozialdemokratie. Wird nun die soziale Krise unerträglich, so tritt eine besondere Partei auf, deren direktes Ziel es ist, das Kleinbürgertum bis zur Weißglut zu bringen und seinen Hass und seine Verzweiflung gegen das Proletariat zu richten. Diese historische Funktion erfüllt in Deutschland der Nationalsozialismus, eine breite Strömung, deren Ideologie sich aus allen Verwesungsgerüchen der verfallenden bürgerlichen Gesellschaft zusammensetzt.
Die politische Hauptverantwortung für das Wachstum des Faschismus liegt selbstverständlich bei der Sozialdemokratie. Seit dem imperialistischen Krieg läuft die Arbeit dieser Partei darauf hinaus, die Idee einer selbständigen Politik im Bewusstsein des Proletariats auszulöschen, ihm den Glauben an die Ewigkeit des Kapitalismus einzuflößen und es Mal um Mal vor der verfallenden Bourgeoisie auf die Knie zu zwingen. Das Kleinbürgertum kann dem Arbeiter folgen, wenn es in ihm den neuen Herrn erblickt. Die Sozialdemokratie lehrt den Arbeiter, Lakai zu sein. Einem Lakaien wird das Kleinbürgertum nicht folgen. Die Politik des Reformismus nimmt dem Proletariat die Möglichkeit, die plebejischen Massen des Kleinbürgertums zu führen, und verwandelt sie dadurch schon in Kanonenfutter für den Faschismus.
Politisch ist aber für uns die Frage nicht damit erledigt, dass die Sozialdemokratie die Verantwortung hat. Seit Kriegsbeginn haben wir diese Partei für eine Agentur der imperialistischen Bourgeoisie im Proletariat erklärt. Aus dieser Neuorientierung der revolutionären Marxisten erwuchs die Dritte Internationale, deren Aufgabe darin bestand, das Proletariat unter dem Banner der Revolution zu vereinigen und ihm dadurch die Möglichkeit des führenden Einflusses auf die unterdrückten Massen des Kleinbürgertums in Stadt und Land zu sichern.
Die Nachkriegsperiode war in Deutschland mehr als in anderen Ländern eine Zeit der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit und des Bürgerkriegs. Internationale wie innere Bedingungen stießen das Land gebieterisch auf den Weg des Sozialismus. Jeder Schritt der Sozialdemokratie machte ihre Verkommenheit und Ohnmacht, das reaktionäre Wesen ihrer Politik, die Käuflichkeit ihrer Führer offenbar. Welche Bedingungen waren denn sonst noch nötig für die Entfaltung der Kommunistischen Partei? Doch der deutsche Kommunismus trat nach den ersten Jahren bedeutender Erfolge in eine Ära der Schwankungen, der Zickzacks, des Wechsels von Opportunismus und Abenteurertum ein. Die zentristische Bürokratie hat die proletarische Vorhut systematisch geschwächt und sie gehindert, die Klasse zu führen. Damit hat sie dem Proletariat als Ganzem die Möglichkeit geraubt, die unterdrückten Massen des Kleinbürgertums hinter sich herzuführen. In den Augen der proletarischen Avantgarde trägt die stalinistische Bürokratie die direkte und unmittelbare Verantwortung für das Wachstum des Faschismus.
III. Bündnis oder Kampf zwischen Sozialdemokratie und Faschismus?
Die Beziehungen zwischen den Klassen in Gestalt eines ein für allemal fixierten Schemas zu begreifen, ist verhältnismäßig einfach. Unendlich viel schwieriger ist es, von Fall zu Fall die konkreten Beziehungen der Klassen zu bestimmen.
Die deutsche Großbourgeoisie schwankt gegenwärtig – ein Zustand, den die Großbourgeoisie im allgemeinen selten erlebt. Der eine Teil ist endgültig zur Überzeugung von der Unvermeidlichkeit des faschistischen Weges gelangt und möchte die Operation beschleunigen. Der andere Teil hofft, die Lage mit Hilfe der bonapartistischen, militärisch-polizeilichen Diktatur meistern zu können. Eine Rückkehr zur Weimarer „Demokratie“ wünscht in diesem Lager niemand.
Das Kleinbürgertum ist zerspalten. Der Nationalsozialismus, der die erdrückende Mehrheit der Zwischenklassen unter seiner Flagge vereinigt hat, will die ganze Macht in seine Hände nehmen. Der demokratische Flügel des Kleinbürgertums, der noch immer Millionen Arbeiter hinter sich führt, wünscht die Rückkehr zur Demokratie Ebertschen Stils. Einstweilen ist er bereit, die bonapartistische Diktatur zumindest passiv zu stützen. Die Sozialdemokratie rechnet folgendermaßen: Unter dem Druck der Nazis wird die Papen-Schleicher-Regierung gezwungen sein, durch Verstärkung ihres linken Flügels ein Gleichgewicht herzustellen; unterdessen wird vielleicht eine Milderung der Krise erfolgen, im Kleinbürgertum vielleicht „Ernüchterung“ eintreten; das Kapital wird vielleicht seinen maßlosen Druck gegen die Arbeiterschaft mindern, – und so mit Gottes Hilfe alles wieder in Ordnung kommen.
Die bonapartistische Clique wünscht tatsächlich nicht den vollständigen Sieg des Faschismus. Sie wäre durchaus nicht abgeneigt, in gewissen Grenzen die Unterstützung der Sozialdemokratie auszunützen. Zu diesem Zwecke müsste sie aber die Arbeiterorganisationen „tolerieren“, was nur dann zu verwirklichen wäre, wenn man wenigstens bis zu einem gewissen Grade das legale Bestehen der KPD zuließe. Überdies würde die Unterstützung der Militärdiktatur durch die Sozialdemokratie die Arbeiter unweigerlich in die Reihen des Kommunismus stoßen. Eine Stütze gegen den braunen Teufel suchend, würde die Regierung bald unter die Schläge des roten Beelzebubs geraten.
Die offizielle kommunistische Presse erklärt, die Tolerierung Brünings durch die Sozialdemokratie habe Papen den Weg gebahnt, und die halbe Duldung Papens werde Hitlers Machtantritt beschleunigen. Das ist vollkommen richtig. In dieser Frage gibt es zwischen uns und den Stalinisten keine Meinungsverschiedenheiten. Aber gerade das bedeutet, dass sich in Zeiten der sozialen Krise die Politik des Reformismus nicht mehr gegen die Massen allein, sondern auch gegen ihn selbst richtet. In diesem Prozess ist jetzt der kritische Moment eingetreten.
Hitler toleriert Schleicher. Die Sozialdemokratie widersetzt sich Papen nicht. Ließe sich diese Lage wirklich für lange Zeit sichern, so würde sich die Sozialdemokratie in den linken Flügel des Bonapartismus verwandeln und dem Faschismus die Rolle des rechten Flügels überlassen. Theoretisch ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass diejenige, beispiellos dastehende Krise des deutschen Kapitalismus zu keiner entscheidenden Lösung führt, d.h. weder mit dem Siege des Proletariats endet noch mit dem Triumph der faschistischen Konterrevolution.
Wenn die Kommunistische Partei ihre Politik des stumpfsinnigen Ultimatismus fortsetzt und so die Sozialdemokratie vor dem sonst unvermeidlichen Zerfall rettet; wenn sich Hitler in der nächsten Zeit nicht zum Umsturz entschließt und damit die unausbleibliche Zersetzung der eigenen Reihen provoziert; wenn die Wirtschaftskonjunktur aufwärts geht, ehe Schleicher fällt, – dann könnte die bonapartistische Kombination des Paragraphen 48 der Weimarer Verfassung, der Reichswehr, der halboppositionellen Sozialdemokratie und des halboppositionellen Faschismus sich vielleicht halten (bis zu einem neuen sozialen Anstoß, der jedenfalls bald zu erwarten wäre).
Doch einstweilen sind wir weit entfernt von einer solch glücklichen Fügung der Bedingungen, wie sie Gegenstand der sozialdemokratischen Träumereien ist. Sie ist keineswegs gesichert. An die Widerstandsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des Papen-Schleicher-Regimes glauben auch die Stalinisten kaum. Alles spricht dafür, dass ein Dreieck Wels-Schleicher-Hitler auseinander fiele, ehe es sich recht konstituiert hätte.
Vielleicht aber würde es durch die Kombination Hitler-Wels ersetzt? Nach Stalin sind sie „Zwillinge, nicht Antipoden“. Nehmen wir an, die Sozialdemokratie würde, ohne sich vor den sozialdemokratischen Arbeitern zu scheuen, von Hitler die Duldung der Sozialdemokratie erkaufen wollen. Aber – der Faschismus braucht diese Ware nicht; er braucht nicht Duldung, sondern Abschaffung der Sozialdemokratie. Die Hitlerregierung kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie den Widerstand des Proletariats gebrochen und alle potentiellen Organe eines solchen Widerstandes ausgeschaltet hat. Darin besteht eben die geschichtliche Rolle des Faschismus.
Die Stalinisten beschränken sich auf eine rein psychologische, genauer gesagt moralische Einschätzung jener feigen und habsüchtigen Kleinbürger, die die Sozialdemokratie leiten: Kann man denn wirklich annehmen, diese geeichten Verräter würden sich von der Bourgeoisie trennen und ihr entgegentreten? Eine solche idealistische Methode hat wenig mit dem Marxismus gemein, der nicht davon ausgeht, was die Menschen über sich denken und was sie wünschen, sondern vor allem davon, unter welche Bedingungen sie gestellt sind und wie sich diese Bedingungen verändern werden.
Die Sozialdemokratie unterstützt das bürgerliche Regime nicht wegen der Gewinne der Kohlen-, Stahl- etc. Magnaten, sondern um jener Gewinne willen, die sie selbst als Partei in Gestalt ihres vielköpfigen und mächtigen Apparats bezieht. Gewiss, der Faschismus bedroht in keiner Weise das bürgerliche Regime, für dessen Verteidigung die Sozialdemokratie da ist. Aber der Faschismus gefährdet die Rolle, die die Sozialdemokratie im bürgerlichen Regime spielt, und die Einkünfte, die die Sozialdemokratie für diese ihre Rolle bezieht. Wenn die Stalinisten diese Seite der Sache vergessen, so verliert die Sozialdemokratie selbst diese tödliche Gefahr für keinen Moment aus dem Auge, die ihr – nicht der Bourgeoisie, sondern gerade ihr, der Sozialdemokratie – durch den Sieg des Faschismus droht.
Als wir vor ungefähr drei Jahren darauf verwiesen, dass der Ausgangspunkt der kommenden politischen Krise in Österreich und in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach die Unvereinbarkeit von Sozialdemokratie und Faschismus sein werde, als wir, darauf gestützt, die Theorie des „Sozialfaschismus“ verwarfen, die den nahenden Konflikt nicht aufdeckte, sondern vertuschte; als wir auf die Möglichkeit aufmerksam machten, dass ein bedeutender Teil des sozialdemokratischen Apparats durch den Gang der Ereignisse in einen Kampf mit dem Faschismus hineingezogen werde, was für die Kommunistische Partei einen günstigen Ausgangspunkt für den weiteren Angriff abgeben werde, beschuldigten uns sehr viele Kommunisten – nicht nur bezahlte Bürokraten, sondern auch ganz ehrliche Revolutionäre – der ... „Idealisierung“ der Sozialdemokratie. Man konnte nur mit den Achseln zucken. Schwer ist es, mit Leuten zu streiten, deren Gedanke dort Halt macht, wo für den Marxisten das Problem erst beginnt.
In Gesprächen brachte ich manchmal folgendes Beispiel: Die jüdische Bourgeoisie des zaristischen Russlands war ein äußerst eingeschüchterter und demoralisierter Teil der gesamten russischen Bourgeoisie. Und dennoch war sie gezwungen, soweit die Schwarzhundert-Pogrome, die sich hauptsächlich gegen die jüdische Armut richteten, auch die Bourgeoisie trafen, zur Selbstverteidigung zu greifen. Gewiss, sie bewies auch auf diesem Gebiet keine bemerkenswerte Tapferkeit. Doch angesichts der über ihren Köpfen hängenden Gefahr sammelten die liberalen jüdischen Bourgeois zum Beispiel beträchtliche Summen für die Bewaffnung revolutionärer Arbeiter und Studenten. Auf diese Weise kam eine zeitweilige praktische Verständigung zustande zwischen den revolutionärsten Arbeitern, die bereit waren, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, und der erschrockensten Bourgeoisgruppe, die ins Gedränge geraten war.
Im vorigen Jahre schrieb ich, die Kommunisten seien im Kampf mit dem Faschismus verpflichtet, ein praktisches Abkommen nicht nur mit dem Teufel und seiner Großmutter, sondern sogar mit Grzesinski abzuschließen. Dieser Satz ging durch die ganze stalinistische Weltpresse – gab es einen besseren Beweis für den „Sozialfaschismus“ der Linken Opposition? Manche Genossen hatten mich im voraus gewarnt: „Sie werden sich an diesen Satz klammern“. Ich antwortete ihnen: „Er ist auch dazu geschrieben, dass sie sich an ihn klammern. Mögen sie sich nur ans heiße Eisen klammern und sich die Finger verbrennen. Das wird den Dummköpfen eine Lehre sein.“
Der Verlauf des Kampfes hat dazu geführt, dass von Papen Grzesinski mit dem Gefängnis bekannt machte. Ergab sich diese Episode aus der Theorie des Sozialfaschismus und aus den Voraussagen der stalinistischen Bürokratie? Nein, sie widersprach ihnen vollständig. Unsere Einschätzung der Lage hatte indes eine solche Möglichkeit ins Auge gefasst und ihr einen bestimmten Platz zugewiesen.
Aber die Sozialdemokratie ist ja auch diesmal wieder dem Kampf ausgewichen, wird ein Stalinist einwenden. Ja, sie ist ausgewichen. Wer erwartet hatte, die Sozialdemokratie werde auf Betreiben ihrer Führer selbständig den Kampf aufnehmen, noch dazu unter Bedingungen, wo sich die Kommunistische Partei selbst als kampfunfähig erwies, der musste natürlich eine Enttäuschung erleben. Wir haben solche Wunder nicht erhofft. Deshalb können wir auch keiner „Enttäuschung“ über die Sozialdemokratie ausgesetzt sein.
Grzesinski hat sich nicht in einen revolutionären Tiger verwandelt, das glauben wir gerne. Aber immerhin ist doch ein Unterschied zwischen der Situation, wo Grzesinski, in seiner Festung sitzend, Polizeiabteilungen zur Beschirmung der „Demokratie“ gegen revolutionäre Arbeiter aussandte, und jener Situation, wo der bonapartistische Retter des Kapitalismus Herrn Grzesinski selbst ins Gefängnis setzte. Und müssen wir nicht diesem Unterschied politisch Rechnung tragen und ihn ausnützen?
Kehren wir zu dem oben angeführten Beispiel zurück: Es ist nicht schwer, den Unterschied zu erfassen zwischen einem jüdischen Fabrikanten, der den zaristischen Schutzleuten für die Niederschlagung der Streikenden in seiner Fabrik ein Trinkgeld gibt, und dem gleichen Fabrikanten, der den gestrigen Streikenden Geld gibt für die Beschaffung von Waffen gegen Pogromisten. Der Bourgeois bleibt derselbe. Aber aus der Verschiedenheit der Lage ergibt sich eine Verschiedenheit des Verhaltens. Die Bolschewiki führten den Streik gegen den Fabrikanten. Später nahmen sie vom gleichen Fabrikanten Geld für den Kampf gegen Pogrome. Das hinderte natürlich die Arbeiter nicht, als die Stunde dazu gekommen war, ihre Waffen gegen die Bourgeoisie zu richten.
Bedeutet all das Gesagte, dass die Sozialdemokratie als Ganzes gegen den Faschismus kämpfen wird? Darauf antworten wir: ein Teil der sozialdemokratischen Funktionäre wird zweifellos zu den Faschisten überlaufen, ein beträchtlicher Teil wird sich in der Stunde der Gefahr unters Bett verkriechen. Auch die Arbeitermassen werden sich nicht in ihrer Gesamtheit schlagen. Im voraus zu erraten, welcher Teil der sozialdemokratischen Arbeiter in den Kampf hineingezogen werden wird und wann, welchen Teil des Apparats er mit sich reißen wird, ist vollkommen unmöglich. Das hängt von vielen Faktoren ab, auch von der Haltung der Kommunistischen Partei. Die Einheitsfrontpolitik hat zur Aufgabe, die, die kämpfen wollen, von denen, die es nicht wollen, abzusondern, die Schwankenden vorwärtszustoßen, schließlich: die kapitulantenhaften Führer vor den Augen der Arbeiter zu kompromittieren und so die Kampffähigkeit der Arbeiter zu stärken.
Wie viel Zeit hat man versäumt – zwecklos, sinnlos, schändlich! Wie viel wäre allein in den letzten zwei Jahren zu erreichen gewesen! War es doch von vornherein völlig klar, dass das Monopolkapital und seine faschistische Armee die Sozialdemokratie mit Fäusten und Knüppeln auf den Weg der Opposition und der Selbstverteidigung treiben würden. Man hätte diese Perspektive vor der gesamten Arbeiterklasse entwickeln müssen, selbst die Initiative zur Einheitsfront ergreifen und diese Initiative in jeder neuen Etappe fest durchhalten müssen. Man brauchte weder zu schreien noch zu kreischen, hätte ruhig ein offenes Spiel führen können. Es hätte genügt, klipp und klar die Unvermeidlichkeit des jeweils nächsten Schrittes des Feindes auszusprechen und ein praktisches Programm der Einheitsfront, ohne Übertreibungen und Gefeilsche, aber auch ohne Schwäche und Nachgiebigkeit aufzustellen. Wie stünde jetzt die Kommunistische Partei da, hätte sie sich das Abc der leninistischen Politik angeeignet und es mit der nötigen Beharrlichkeit angewandt!
Während sie die oben zitierte Rede vor der Partei und der Komintern versteckte, unternahm die stalinistische Presse einen ihrer üblichen Feldzüge dagegen. Manuilski schrieb, ich hätte gewagt, die Faschisten den Jakobinern „gleichzusetzen“, die doch unsere revolutionären Vorfahren seien. Das letztere ist mehr oder weniger richtig. Leider haben diese Vorfahren nicht wenige Nachkommen, die unfähig sind, von ihrem Kopf Gebrauch zu machen. Einen Nachhall dieses alten Streits kann man auch in den neuesten Erzeugnissen Münzenbergs gegen den Trotzkismus finden. Aber lassen wir das beiseite.