Di 09.07.2024
Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede gibt es zwischen Anarchismus und Marxismus? Und welche Bedeutung hat das für die aktuelle Frage, wie wir uns organisieren können, um kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung zu bekämpfen und zu überwinden?Das widerspruchsvolle Verhältnis von Marxismus und Anarchismus geht auf Debatten in der Arbeiter*innenbewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Damals waren Marx und Bakunin (der zentrale Stichwortgeber des Anarchismus) wichtige Figuren der “Internationalen Arbeiter-Assoziation” - der ersten internationalen, revolutionär-antikapitalistischen Organisation.
Wer ist hier autoritär?
Doch schon bald taten sich Differenzen auf, vor allem zur Frage der Organisierung: Marx und seine Mitstreiter*innen argumentierten dafür, jeden konkreten “innersystemischen” Kampf zu unterstützen, z.B. für höhere Löhne oder gleiche Rechte. Ihr Argument war, dass auf diese Weise die Arbeiter*innenklasse ihre eigene Macht erfahren würde und sich selbst befreien könnte. Die revolutionäre Organisation verstanden sie als den Ort, an dem die entschlossensten und fortgeschrittensten Arbeiter*innen sich (wenn möglich legal) organisieren konnten, um den Kämpfen der breiteren Klasse eine revolutionäre Perspektive zu geben. Bakunin lehnte dies ab. Er und andere sahen darin nur eine Festigung des Systems. Stattdessen setzten sie auf revolutionäre Zirkel, die im Geheimen arbeiten und aus dem Untergrund mit gezielten Aktionen (“Propaganda der Tat”) Aufstände anzetteln sollten.Bakunins Organisationskonzept, mit dem ja auch heutige “autonome” Strukturen viel gemeinsam haben, war für Marx elitär und autoritär: eine kleine, verschworene Gruppe erledigt die Befreiung der Massen stellvertretend für diese. Marx kritisierte, dass in so einer Vorstellung die Massen nur “als Kanonenfutter” existierten, während die Anarchist*innen die Revolution “monopolisierten”. Diese Kritik ist heute hochaktuell: den elitären Zugang des Anarchismus erkennt man schon in den “schwarzen Blocks” auf Demos. Diese Blocks wirken aktiv ausschließend - sie stellen schon durch ihr Auftreten klar, dass sie nicht auf der Demo sind, um neue Menschen anzusprechen, zu überzeugen und einzubinden. Während sich solche Strukturen antiautoritär und basisdemokratisch präsentieren, laufen ihre Organisations- und Aktionsformen auf einen Ausschluss des größten Teils der Arbeiter*innenklasse hinaus.
Die Frage des Staats
Die Differenzen in Fragen der Organisation verweisen aber auch auf tiefere theoretische Unterschiede. Dass heutige Autonome sich bei gefühlt jeder Gelegenheit mit der Polizei anlegen wollen - egal ob dies gerade notwendig ist oder nicht -, hängt damit zusammen, dass der Anarchismus seit Bakunin auf die Frage des Staats fixiert ist: Die Existenz des Staates sei das Grundübel, mit seiner Zerschlagung würden Ausbeutung und Unterdrückung verschwinden. Auch Marxist*innen wollen eine Gesellschaft ohne Staat. So schreibt Leo Trotzki: “Die Marxisten sind sich mit den Anarchisten bezüglich des Endzieles, der Liquidierung des Staates, vollkommen einig. Der Marxismus bleibt "staatlich" nur, soweit die Liquidierung des Staates nicht vermittels der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden kann.“ Damit meint er, dass für Marxist*innen die Existenz des Staates ein Symptom dafür ist, dass die Gesellschaft in ausbeutende und unterdrückte Klassen gespalten ist - der Staat ist eine Konstruktion, um diese Klassenspaltung einerseits aufrechtzuerhalten, andererseits um sie so zu regulieren, dass die Gesellschaft nicht an diesem Widerspruch der Klassen zusammenbricht.Die Schlussfolgerung ist, dass man den Staat nicht einfach “abschaffen” kann. Er kann nur in dem Maße “absterben”, in dem es gelingt, im Zuge revolutionärer Prozesse eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen. Die Revolution, die Zerschlagung der alten, unterdrückerischen Staatsmaschinerie, ist dafür nur der erste Schritt. Somit fasst Marx zusammen: “Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates.”