Mo 24.07.2023
Am 15. Mai finden in der Türkei sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen vor dem Hintergrund von Erdbeben und anhaltenden wirtschaftlichen Problemen statt. Obwohl sich Erdogan noch immer als “starker Mann” präsentiert, bekommt dieses Image immer größere Risse und die brutale Realität seiner reaktionären und brutalen kapitalistischen Politik wird sichtbarer. Schon vor dem Erdbeben spitzten sich die wirtschaftlichen Probleme zu, die Inflation erreichte 50% - besonders bei Nahrungsmitteln. Unmut steigt und verwandelt sich auch in Widerstand - 2022 entwickelte sich trotz Repression eine wachsende Streikbewegung.
Aber v.a. die Reaktion auf das Erdbeben hat das Regime sogar in den Augen vieler Unterschützer*innen der Regierungsartei AKP entlarvt. In der direkten Reaktion verhinderte Erdogans Machtpolitik effektive Hilfe und das Ausmaß der Zerstörung zeigt die Verbrechen der eng mit Erdogan verbundenen Baulobby.
Kleineres Übel = Übel
Politisch stehen sich 2 Blöcke gegenüber: einerseits das breite Sechsparteienbündnis um die liberal-nationalistische CHP, dessen zentrale Gemeinsamkeit “alles außer Erdogan” ist; andererseits Erdogans Bündnis, das neben der AKP auch die ultranationalistische MHP und die islamistische BBP beinhaltet. Das Erdogan-Regime wird immer gefährlicher, umso mehr es unter Druck gerät: um sich an der Macht zu halten, setzt es auf die rechtesten Kräfte und intensiviert Angriffe auf nationale Minderheiten und Frauen. Es gab unmittelbar nach dem Erdbeben militärische Angriffe auf kurdische Gebiete und sowohl MHP als auch BBP wollen letzte noch verbliebene Regeln zum Schutz vor Gewalt an Frauen abschaffen. Man darf auch nicht davon ausgehen, dass Erdogan - ähnlich wie Trump oder Bolsonaro - bei einer Wahlniederlage seine Position einfach räumt bzw. wie “fair” die Wahlen ablaufen. Aktuell sitzen z.B. unzählige Vertreter*innen der linken und kurdischen HDP im Gefängnis.
Eine Alternative kann nur von unten kommen
Aber das Bündnis um die CHP ist nur eine begrenzte Alternative zum Erdogan-Block. Selbstverständlich atmen bei einem Regimewechsel Millionen türkische Arbeiter*innen, Jugendliche und Frauen auf. Aber die CHP ist keine echte Alternative, das zeigt sich besonders bei der Frage der Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung: die CHP und andere Parteien aus dem Oppositionsbündnis unterstützen Unterdrückung und Militäreinsätze in kurdischen Gebieten. Und: dieses Bündnis ändert auch nichts an der Orientierung des türkischen Kapitalismus, die immer mehr Menschen in die Armut treibt. Eine neue Regierung, die die Lebensrealität der Bevölkerung nicht tatsächlich verbessert, würde dadurch auch den Boden für die Rückkehr der AKP oder noch reaktionärer Alternativen bereiten. Ähnliches sehen wir in Lateinamerika, wo das Scheitern von mitte-links-Regierungen, die nicht mit der kapitalistischen Logik brechen, die extreme Rechte immer wieder erstarken lässt. Eine echte Alternative zu Armut, Unterdrückung, Krieg und Nationalismus in der Türkei liegt im Bündnis mit Widerstand in der Region, im Iran, Afghanistan, Irak gegen repressive Regime. Liegt in der Ausweitung der Streiks, liegt in der Organisierung von unten von sowohl türkischen als auch kurdischen Arbeiter*innen, Frauen und Jugendlichen gegen Repression und gegen kapitalistische Ausbeutung.
Info:
Nach dem Erdbeben ließ Erdogan, um Kritik zu verhindern, soziale Medien sperren, was Rettungsmaßnahmen erschwerte. Es gab deutlich weniger Hilfe für Gebiete, in denen es Opposition zum AKP-Regime oder einen größeren kurdischen Bevölkerungsanteil gibt. Der Wirtschaftsboom unter der AKP-Regierung ist eng verbunden mit einem Bauboom. Dabei hat die Bauindustrie u.a. durch schlechte Qualität riesige Profite erwirtschaftet.
Bild: President.az, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons