Fr 19.07.2024
In Kenia überschlagen sich aktuell die Ereignisse. Der erst 2022 ins Amt berufene Präsident William Ruto löste Mitte Juli sein Kabinett aufgrund der eskalierenden Proteste gegen die von der Regierung geplante Steuerreform auf. Eine junge Generation an Protestierenden zieht schon seit Mitte Juni 2024 auf die Straßen, um gegen die Verabschiedung der Reform zu protestieren. (In Nigeria werden sogar aktuell auch bundesweite Proteste für die kommenden Wochen geplant, die an jene in Kenia anknüpfen!) In Nairobi gingen die Proteste so weit, dass das Parlament am 25. Juni besetzt und teilweise in Brand gesetzt wurde, nachdem Ruto die Protestierenden öffentlich “organisierte Kriminelle” nannte. Die Regierung antwortete mit dem härtesten aller Mittel: Der Einberufung des Militärs. Mindestens 50 Menschen haben in den aktuellen Protesten schon ihr Leben verloren, mehrere Hunderte wurden verletzt, abermals Hunderte verharren in Polizeigewahrsam. In Nairobi sind die Gefängnisse dermaßen überfüllt, dass sich sogar in ihnen Revolte entwickeln, u.a. initiiert von im Zuge der Proteste inhaftierten Frauengruppen.
Die “Generation Z” führt diese Proteste auf den Straßen von Nairobi, Mombasa, Kisumu und vielen weiteren Städten und Dörfern an. In Nairobi schreien junge Studierende lauthals “Ruto must go" und fordern seinen Rücktritt, während die von der Polizei zerstörten Barrikaden wieder aufgebaut werden. Obwohl die Protestierenden ehrenamtlich eigene kollektive Hospize, Notdienste und Rechtsberatungen eingerichtet haben, geht die Polizei weiterhin repressiv und mit Waffen, Wasserwerfern und Tränengas gegen sie vor. Die Kenianer*innen bleiben wütend und laut.
Was passiert in Kenia?
Was die Proteste politisch so einmalig macht, ist, dass sie weder von einer politischen Partei noch von einer zentralen (Nichtregierungs-)Organisation aus angeführt werden und ganz klar das Misstrauen der jungen Kenianer*innen als Klasse gegenüber dem Staat ausdrücken. Über die Sozialen Medien wird mittels den Hashtags #RejectFinanceBill2024 oder #TotalShutdownKenya eine Bewegung von wütenden jungen Massen getragen - und das nicht nur auf die Straße. Sie zeigt eine neue politische Perspektive auf, die revolutionäres Potential für die Organisierung der Arbeiter*innenklasse bedeuten kann - trotz ethnischer Konflikte und anderen dem Kapitalismus und Kolonialismus verschuldeten Unterdrückungen.
Die Bewegung hat bis zum 3. Juli bereits 234.000 US-Dollar an Spenden eingenommen, die sie für die Versorgung der Protestierenden aufwendet. Krankenhausrechnungen der Verletzten, Beerdigungskosten für die von der Polizei Getöteten und selbstorganisierte Rechtsberatungen werden dadurch abgedeckt. Auf spontan erstelltem Flyer-Material wurden neben dem klaren Boykott der Steuerreform weitere Forderungen aufgestellt: Lebensmittelspenden für unterversorgte und verletzte Protestierende, die Besetzung von Bars und Clubs für die Mobilisierung, das Verbot, in Kirchen Politiker*innen Redebeiträge zu überlassen, Unterschriftenlisten gegen die Umsetzung der Reform und schließlich der Aufruf zu einem Generalstreik am 25. Juni, der aufgrund mangelnder Koordination und fehlender Unterstützung der Gewerkschaften nicht stattgefunden hat. Weil die Regierung aber zunehmend unter Druck geraten ist, rudert Ruto zurück, bremst die Steuerreform aus und sagt Mitte Juli, er wolle einen Schritt auf die Protestierenden zugehen. Wie sehr die Regierung unter Druck steht, zeigt die nun notwendig gewordene Auflösung des Kabinetts.
Das Parlament brennt und der IWF ist schuld
Stellt man sich die Frage nach dem Ursprung der Proteste, so müssen wir den Blick auf die aktuelle Regierung und ihre Staatskrise werfen. Neben anhaltenden Streiks im Gesundheitssektor ziehen seit Jänner schon Frauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf die Straßen der kenianischen Städte. Die Welle der Proteste gegen die Femizide hat den Weg für die aktuelle Bewegung geebnet. All diese Krisen zeigen, dass der 2022 gewählte Präsident Ruto seine Versprechen über die Verbesserung der Lebenssituation der Kenianer*innen nicht hält. Die Wahlbeteiligung war bei den unter 30-Jährigen unter 40%, was deren Enttäuschung in das Establishment klar zeigt. Ruto präsentierte sich damals noch als nicht korrumpierbarer Kandidat, der sich von den alteingesessenen, neoliberalen Politiker*innen abheben würde, sich aber tatsächlich nicht viel von den anderen neoliberalen Herrschenden unterscheidet. Die Regierung steht seit ihrem Bestehen dermaßen unter Druck, dass sie mittlerweile 60% ihrer Einnahmen für die Schuldentilgung dem IWF abtreten muss. Ein Drittel davon deckt nur die Rückzahlung der Kreditzinsen ab. Der kenianische Staatshaushalt hat insgesamt etwa $80 Milliarden Schulden. Davon gehören etwa $35 Milliarden ausländischen Gläubiger*innen, beispielsweise aus China, der Weltbank oder dem IWF selbst.
Die immense Verschuldung ausländischer, kapitalistischer Institutionen gegenüber lässt sich auf einen Wirtschaftsboom der 2000er-Jahre zurückführen. Als die Regierung bei verschiedenen internationalen Gläubiger*innen Kredite aufnahm, um öffentliche Infrastrukturprojekte, die Förderung der Landwirtschaft und ihre Unternehmen zu finanzieren, kam es gleichzeitig zu in der Region üblichen und anhaltenden Krisen: Vom politischen Missmanagement um Covid19 bis zu Naturkatastrophen und ineffektiven, neoliberalen Steuerstrategien. Die Staatsverschuldung hat sich seit der Bankenkrise 2008 mehr als verdoppelt. Covid19 hat dann eine zusätzliche Finanzkrise ausgelöst, der ausbleibende (Getreide-)Handel mit der Ukraine seit dem Krieg unterstützt die wirtschaftliche Misere Kenias zusätzlich. Erst im Mai 2024 sorgte der letzte Tropensturm in Ostafrika für heftige Regenfälle und Überschwemmungen mit etlichen Toten. Der wirtschaftliche und infrastrukturelle Wiederaufbau nach diesen Krisen hat die Notwendigkeit der IWF-Kredite ausgelöst. Im Gegenzug für die Kredite hat sich die Regierung für die Privatisierung von staatlichen Unternehmen, die Streichung von Subventionen und Steuererhöhungen entscheiden müssen.
Aus leeren Taschen ist nichts zu holen
Gerade junge Kenianer*innen sind seit Jahren schon mit der hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit, hohen Lebenshaltungskosten, der stagnierenden Wirtschaft, mit den Dürrekatastrophen, Nahrungsmittelkrisen und der korrupten, tatenlosen Regierung konfrontiert. Während Unterernährung und fehlender Zugang zu Wasser und Nahrungsmittel die Massen an einem guten Leben hindern, gehören die kenianischen Politiker*innen zu den mitunter bestbezahltesten Afrikas. Gleichzeitig sind sie mit Korruptionsskandalen konfrontiert und posten in den Sozialen Medien von ihrem luxuriösen Lebensstilen.
Was das Fass die letzten Wochen zum Überlaufen gebracht hat, ist die erwähnte Staatskrise, die nun die Kenianer*innen selbst ausbaden sollen: Die Staatskasse ist leer und der IWF zwingt die Regierung dazu, die Kredite aus der Vergangenheit zurückzuzahlen. Wie im Kapitalismus auch in neokolonialen Ländern wie Kenia üblich, leiden darunter die arbeitenden Massen: Geplant war eine 16%-ige Mehrwertsteuer und die Erhöhungen von Verbrauchs-, Einkommens- und Kraftfahrzeugsteuern. Das führt mitunter dazu, dass besonders die Preise von Hygiene- und Menstruationsartikeln, von Lebensmitteln wie Öl und Brot, aber auch digitalen Finanzüberweisungen angehoben werden sollten. Es ist eine Steuer, die auf die leistbare Alltagsversorgung der armen, ausgebrannten Bevölkerung abzielt, darüber hinaus aber besonders Kinder, Jugendliche und Frauen angreift. Die Steuerreform ist nicht nur ein gezielter Angriff der weiteren Unterdrückung gegen die wütenden Kenianer*innen. Dass die Steuereinnahmen auch über eine mögliche Vermögenssteuer auf die Bestverdienenden gehen könnten, haben die Regierenden natürlich nicht in der Reform berücksichtigt. Anstatt die Reichen zu besteuern und sich gegen die Rückzahlung der Kredite zu wehren, will man gerade auf Grundnahrungsmittel und Produkte des täglichen Bedarfs die Preise erhöhen. Was die Regierung damit erreichen will, ist klar: Die Schulden gegenüber dem IWF zu tilgen - auf dem Rücken der leidenden Massen.
Neokoloniale Politik und Kenias historischer Kampf gegen den Imperialismus
Das Problem hinter Krisen wie solchen ist die kapitalistische Logik und die Fortführung neokolonialer Politik u.a. durch die Strukturanpassungsprogramme gegenüber ehemals kolonisierten Ländern wie Kenia. Diese Strukturanpassungsprogramme sind zinsgünstige Kredite, die dazu verhelfen sollen, Strukturreformen durchzuführen. Diese Programme, aber auch die Schulden sind eines der vielen konkreten neokolonialen Werkzeuge von Institutionen wie dem IWF. Aber auch die blutige Geschichte der britischen Kolonialisierung hängt mit der anhaltenden Unterdrückung zusammen. Die deutsche und britische Kolonialherrschaft haben nach Jahrzehnten an systematischer Unterdrückung, Landraub, Ausbeutung und Versklavung erst dann zu einem Ende geführt, als sich 1952 eine Unabhängigkeitsbewegung von “unten” mobilisierte und so einer der blutigsten Kolonialkriege der britischen Kolonialregierung seinen Lauf nahm. Die Land and Freedom Army organisierte sich rund um Jomo Kenyatta, dem 1963 ersten Präsidenten Kenias (der Entkolonialisierungskampf Kenias ist aus britischer Sicht auch bekannt als “Mau Mau-Aufstand”) und setzte die Unabhängigkeit auf dem Papier um.
Die 1960er-Jahre zeichneten sich durch einen anhaltenden Kampf gegen die von den Kolonialherren indoktrinierten Eliten aus: Sozialistische Bewegungen wurden niedergeschlagen, Oppositionsparteien unterdrückt, jede de facto Organisierung der Jugend gegen die vom britischen Kapitalismus aufgebauten Eliten verboten oder mit Polizeirepression verhindert. Das erinnert uns stark an die Szenen der Proteste von heute. Die Unabhängigkeit hieß damals schon keine Befreiung. Das Problem bleibt heute bestehen. Weil sich die regierende Elite nach der Unabhängigkeit um Jomo Kenyatta (damals Befreiungskämpfer), ähnlich wie heute Ruto an den Verhandlungstisch mit den ehemaligen Kolonialherren setzte (die Familie Kenyatta ist heute übrigens eine der reichsten Familien Kenias), bleiben die kapitalistischen und imperialistischen Unterdrückungen heute aufrecht.
Dasselbe Spiel spielt heute Ruto mit dem IWF: Ausländisches Kapital verbindet sich mit den herrschenden Klassen Kenias, indem es als “Vermittler” bei der Ausbeutung der Arbeiter*innen unterstützt, um die Ressourcen des Landes weiterhin für sich zu gewinnen und die Ausbeutungsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Das ist nicht erfunden, es ist nachweisbar: Heute saugen bis zu 100 britische Unternehmen den Ressourcenreichtum des Landes weiter ab. Der IWF hält die (un)sichtbare, neokoloniale Hand weiterhin über den Entwicklungen Kenias und nimmt sich, was er braucht. Kenianer*innen bleiben und werden so weiterhin heute zum Spielball westlicher, multinationaler Unternehmen und Organisationen.
Was braucht es?
Wenn 2024 die Rückzahlung des IWF-Kredites die Erhöhung von kenianischen Steuereinnahmen bedeutet, dann heißt das gleichzeitig eine Kürzung von sozialen Dienstleistungen: Es wird an allem gespart, wovon die Kenianer*innen ohnehin zu wenig haben: Gesundheit, Bildung, Kinderbetreuung, Löhne, Gewaltschutz usw. Gerade letzteres kommt in Kenia zu kurz. Zwischen 2016 und heute kam es zu 500 gemeldeten Femiziden. Die Dunkelziffer ist wie in allen Fällen vermutlich noch viel höher. Alleine im Jänner 2024 wurden 10 Frauen ermordet. Ein 33-jähriger Serienmörder gesteht Mitte Juli, dass er in den letzten 2 Jahren 42 Frauen ermordet hat. Diese schrecklichen Femizide, jede Form der geschlechtsspezifische Gewalt, Rassismus, Queer- und Transfeindlichkeit und Sexismus sind die konkreten Auswirkungen der patriarchalen Strukturen, die der Kapitalismus in Kenia aufrechterhält. Obwohl schon über das Frühjahr hinweg die Protestierenden gegen geschlechtsspezifische Gewalt durch die Straßen zogen, bleiben feministische Forderungen und eine Verknüpfung vom Kampf gegen diese spezifischen Unterdrückungen mit dem Kampf gegen die Steuerreform leider noch aus.
Schon 2023 kam es aber immer wieder zu militanten Ausschreitungen gegen die erhöhten Lebenshaltungskosten und die Inflation (von 6%). 2017 streikten Beschäftigte im Gesundheitsbereich für 100 Tage durchgehend und erst heuer im März gab es einen 56-tägigen Generalstreik der staatlichen Gesundheitsbeschäftigten. Dabei sind mehr als 7.000 Menschen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Leider gab es - ähnlich wie jetzt zu befürchten ist - ein Abkommen zwischen Gewerkschaften und Regierung mit unzureichenden Veränderungen für die Arbeiter*innen.
Noch nie war aber so klar, dass die verarmten, unterdrückten, arbeitslosen, hungernden Massen in Kenia ihre Wut in so eine Form von Widerstand gießen, die zu Straßensperren, einem brennenden Parlament und der Auflösung der Regierung führt. Was nötig wäre: Eine Verbindung all dieser Kämpfe von der neuen, wütenden und jungen Bewegung an Kenianer*innen. Wir sehen schon jetzt, dass sich diese fortgeschrittene Schicht unabhängig von Ethnie, Religion und Herkunft sehr spontan, mit notwendigen, wichtigen Forderungen an die Regierung, aber noch ohne politischen Rückhalt, organisiert. Die fehlende Unterstützung politischer Parteien mag ein Vorteil in der Flexibilität, Spontanität und dem klaren Widerstand gegen das etablierte Establishment sein, gleichzeitig fehlt es ihr derzeit aber noch an einer klaren marxistischen Organisation oder Partei, die die Bewegung unterstützen müsste. Es wäre die Aufgabe einer marxistischen Organisation, ein klares Programm aufzustellen, das den möglichen Sturz der Regierung im Zuge des notwendigen Sturzes des Kapitalismus als Wurzel der sozialen Miseren aufzeigt. Dazu braucht es als ersten Schritt die Verbindung all der unterschiedlichen Proteste gegen die Femizide, die Regierung und vor allem der Streikbewegungen am Arbeitsplatz.
Das aktuelle, starke Bewusstsein dieser jungen kämpferischen Schichten zeigt sich anhand der Forderungen, die sie aufstellen, anhand des Drucks, den sie gegen die Regierung aufgebaut haben, und dem daraus resultierenden Erfolg, dass nun sogar der Präsident sein Kabinett auflösen musste. Eine so starke Bewegung von unten hat es in dieser Form seit dem Unabhängigkeitskampf nicht mehr gegeben. Ein Generalstreik Ende Juni hätte der gesamten Bewegung noch den nötigen Halt gegeben, um den Aufbau von Komitees an Arbeiter*innen, Studierenden und Schüler*innen in Betrieben, Universitäten und Schulen zu initiieren und sich als Arbeiter*innenklasse zu formieren.
Diese neue revolutionäre Bewegung der Generation Z in Kenia bedarf unserer absoluten Solidarität. Was es jetzt bräuchte, ist nicht auf “bessere”, halbe Lösungen der Regierenden zu warten, sondern sich konkret kollektiv in den Städten und Dörfern Kenias in Komitees zu organisieren, um Streiks in allen Sektoren (aber v.a. im Gesundheitsbereich, wo ohnehin schon die letzten Monate gestreikt wurde), Proteste an die Universitäten zu bringen und nicht nur die Steuerreform zu boykottieren, sondern die gesamte Rückzahlung von IWF-Krediten, die zu einer weiteren Verarmung der Bevölkerung führen.
Der Erlass von Schulden des IWF und die Überführung der Banken und Finanzinstitutionen in öffentliches Eigentum sind damit verbunden auch unerlässlich, denn Institutionen wie der IWF selbst sind nicht reformierbar. So wenig wie eine neue Regierungsbildung den wütenden Arbeiter*innen in Kenia Hoffnung geben wird, so notwendig ist jetzt eine kollektive, strukturierte Organisierung der jungen Bewegung von unten. Ein Kampf gegen die Steuerreform und gegen die Regierung kann also zu einem Kampf gegen den Neokolonialismus, gegen imperialistische Eliten und für eine echte, sozialistische Alternative für ein besseres Leben in Kenia werden. Die aktuelle Bewegung in Kenia kann aber auch eine neue politische Perspektive für andere Länder Afrikas - von Südafrika bis zum Sudan - bieten, um sich von neokolonialen und kapitalistischen Unterdrückungen zu befreien. Unser Vertrauen in diese jungen, wütenden Massen ist groß. Wir schulden ihnen unsere Solidarität und unterstützen jeden Befreiungskampf gegen das neokoloniale, imperialistische System, das vom Kapitalismus gestützt wird!
Sitasimama waovu wakitawala!
Wir werden es nicht ertragen, wenn die Bösen herrschen.
(Einer der Chants, der sich bei den Protesten etabliert[e].)