Mi 29.03.2023
Seit 2015 hat es in Deutschland kaum noch große Streikbewegungen gegeben. Seit Jahren blicken Sozialist*innen und linke Gewerkschafter*innen mit Neid nach Frankreich und Britannien und wünschen sich eine ähnliche Streikbewegung. Seit Anfang 2023 könnte dieser Wunsch in Erfüllung gehen: eine durchschnittliche Inflation von etwa 8 %, ein gewissermaßen hausgemachter Arbeitskräftemangel in einigen Branchen, wachsende Wut über hohe Gewinne (vor allem in den privatisierten Verkehrs- und Paketdiensten Deutsche Post und Deutsche Bahn) und ein Pflegenotstand in Krankenhäusern und Kindergärten. All dies hat die Beschäftigten auf die Straße und in die Streikpostenkette gebracht. Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mehr als 65.000 neue Mitglieder geworben.
Die Streikbewegung fällt mit mehreren größeren Verhandlungsrunden in verschiedenen Sektoren zusammen. Die größte ist jene der Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Kommunen und der Landesbeschäftigten. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordert 10,5 % mehr Lohn und mindestens 500 Euro mehr pro Monat, also bis zu 20 % für die am schlechtesten bezahlten Gruppen im öffentlichen Dienst. Dazu gehören Krankenpfleger*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, aber auch verschiedenste Beschäftigte im öffentlichen Dienst: Flughafen- und Hafenbeschäftigte, Tunnelsicherheitsdienste und Beschäftigte im öffentlichen Nahverkehr bei Bus- und Straßenbahnen.
Die zweite Verhandlungsrunde betrifft den Postsektor, die bereits abgeschlossen sein könnte - zum Zeitpunkt als dieser Artikels verfasst wird gibt es immer Abstimmungen zu einer neuen Vereinbarung. Ursprünglich forderte ver.di eine Lohnerhöhung von 15 % für ein Jahr, hat diese aber inzwischen auf weniger als 11 % heruntergeschraubt. Nicht vergessen werden darf, dass die Deutsche Post im Jahr 2022 einen Gewinn von 8,4 Milliarden Euro gemacht hat. Viele Postbeschäftigte sind mit dem neuen Angebot unzufrieden.
Drittens verhandelt die Eisenbahngewerkschaft EVG derzeit mit der Deutschen Bahn über eine Lohnerhöhung von 12%, während das Management der Deutschen Bahn eine Gehaltserhöhung von 14% für ihre eigenen Vorstandsvorsitzenden beschlossen hat.
Politische Streikbewegung
Bereits am 3. März traten die Klimabewegung und die Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs (Bus und Straßenbahn) in einen gemeinsamen Klimastreik. Am 8. März rief ver.di parallel zum feministischen internationalen Frauenstreiktag die Krankenpfleger*innen und die Beschäftigten der Kindergärten zum Streik auf. Politische Streiks sind in Deutschland offiziell nicht erlaubt, aber es wurde versucht, die Arbeiter*innenbewegung und die sozialen Bewegungen zu verbinden. Am 22. März wurde ein weiterer großer Streiktag im öffentlichen Dienst organisiert, der bisher größte und politischste Streiktag, an dem Tausende von Beschäftigten nicht nur streikten, sondern sich an Demonstrationen und Streikpostenketten in mehreren hundert Städten beteiligten.
Mega-Streik-Tag
Am Montag dem 27. März organisierten ver.di und EVG zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen koordinierten Streik. Wie ver.di in ihrer Erklärung vom 23. März schrieb: "Das hat es in dieser Form noch nie gegeben: Aus Protest gegen unzureichende Angebote in den Tarifauseinandersetzungen für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen sowie für die Beschäftigten der Unternehmen der Deutschen Bahn AG legen die Mitglieder der DGB-Mobilitätsgewerkschaften ver.di und EVG am kommenden Montag (27. März) erstmals gemeinsam die Arbeit nieder (...) und senden damit ein deutliches Signal an die Arbeitgeber: 'Gemeinsam können wir mehr erreichen!'"
Und tatsächlich: Der deutsche Verkehr war lahmgelegt. Kaum ein Flugzeug, Zug, Bus, Straßenbahn oder anderes öffentliches Verkehrsmittel bewegte sich. Frachtschiffe wurden gestoppt, Tunnel gesperrt. Für ver.di war dies eine wichtige Botschaft: Die dritte Verhandlungsrunde mit Bund und Kommunen hat begonnen. Sie wird drei Tage dauern. Die ver.di-Führung hofft auf einen ordentlichen Abschluss, sodass die Beschäftigten keine Urabstimmung über einen unbefristeten Streik fordern. Deshalb hat sie viel Energie in den "Megastreik" investiert, um ihn zum Endpunkt einer beginnenden Streikbewegung zu machen.
Viele Gewerkschaftssekretär*innen der mittleren Ebene und einfache Gewerkschaftsmitglieder hoffen jedoch auf eine Urabstimmung und einen unbefristeten Streik, um mehr als das zu erreichen. In Wirklichkeit geht es bei dem Streik nicht nur um die Löhne. Es geht um Unterbesetzung, Burn-outs und Arbeitsbedingungen, die Kinder in der Kinderbetreuung, Patient*innen in Krankenhäusern und Fahrgäste in Zügen und Bussen gefährden. Es ist eine Bewegung von zentraler Bedeutung, die bereits das Potenzial gezeigt hat, einen großen Teil der deutschen Arbeiter*innenklasse zu re-politisieren. In einigen Sektoren wie Flughäfen, Häfen und einigen Eisenbahnen hatte es seit mehr als 30 Jahren keine Streiks mehr gegeben.
Es gibt eine enorme Kampfbereitschaft. Viele Kolleg*innen sagen, dass die geforderten 500 Euro Festgehalt für zwölf Monate schon ein Minimum sind und dass man nicht darunter gehen darf. Auch eine Kompensation in Form einer steuer- und beitragsfreien Einmalzahlung ist inakzeptabel. Eine solche Einmalzahlung muss zusätzlich gezahlt werden. Aber eine fixe Lohnerhöhung von 500 Euro muss jetzt kommen.
Keine faulen Kompromisse
Die Post-Tarifrunde ist ein wichtiges Zeichen für den gesamten öffentlichen Dienst. Denn obwohl 85,9 % der Postbeschäftigten für einen unbefristeten Streik gestimmt haben, ist ver.di am Tag des Urabstimmungsergebnisses sofort wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt und hat sich auf ein Angebot geeinigt, das nicht viel besser ist als das, das die Beschäftigten gerade abgelehnt haben. Das ist eine Warnung an die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die in der gleichen Gewerkschaft organisiert sind. Viele Kolleg*innen bei der Post sind unzufrieden, und es gibt viele Petitionen unter den Beschäftigten, mit "Nein" zu stimmen und für ein besseres Angebot wieder an die Streikposten zu gehen. Die Abstimmung über die Annahme des Ergebnisses wird bis zum 30. März stattfinden. Und obwohl die Medien die Briefwahlrunde bereits als abgeschlossen bezeichnet haben, bleibt der Ausgang ungewiss. Allerdings ist die Hürde für die Ablehnung eines Angebots in einer Urabstimmung in Deutschland sehr hoch: Mehr als 75 % der Beschäftigten müssen das Angebot ablehnen, sonst gilt es als angenommen.
Gleichzeitig erklärte die Eisenbahngewerkschaft EVG, dass die nächsten Streiktermine nach Ostern liegen werden - das untergräbt das Potenzial den Druck zu erhöhen und jetzt eine echte Streikbewegung aufzubauen. Rund 30.000 Eisenbahner*innen und mehr als 120.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes an 800 Standorten beteiligten sich am Megastreik. Allerdings blieben die Reden und Aktivitäten politisch weit hinter jener kämpferischen Stimmung zurück, die in den vorangegangenen Streiktagen des öffentlichen Dienstes sichtbar war. Dennoch unterstützte die Klimabewegung, wie z.B. Fridays for Future, offen den Megastreik im Gegenzug zur Unterstützung des Klimastreiks Anfang März durch die Beschäftigten.
SAV-Mitglieder in Deutschland haben für die aktuelle Streikbewegung mobilisiert und sich an ihr beteiligt. Wir fordern die vollständige Umsetzung der Forderungen, eine eskalierende Streikstrategie hin zu einem unbefristeten Vollstreik und den Aufbau von demokratischen Strukturen mit Delegierten und Streikkomitees in allen Betrieben. Wir haben entlang der Demonstrationsrouten der Streiks Flugblätter verteilt, uns an Protesten und Streikpostenketten beteiligt, Unterschriften zur Unterstützung der Streiks gesammelt, unsere Zeitung verkauft und wurden eingeladen, auf Streikkundgebungen zu sprechen. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob die Streiks weiter eskalieren, weil die Beschäftigten niedrige Angebote ablehnen, oder ob es der Gewerkschaftsführung gelingt, die Wut noch einmal zu dämpfen. Selbst dann rechnet die SAV damit, dass weitere Verhandlungsrunden, die noch in diesem Jahr zu erwarten sind, die Stimmung weiter eskalieren lassen könnten. Auch die fieberhaften Äußerungen der Unternehmensverbände zur weiteren "Regulierung des Streikrechts" deuten wohl in diese Richtung.