Unikliniken NRW: 11 Wochen Streik für Entlastung

Claus Ludwig

Dieser Artikel wurde ursrünglich am 24.07. 2002 auf der Seite der Sozialistischen Alternative (ISA in Deutschland, sozialismus.info – Website der SAV) veröffentlicht. 

 

Nach 11 Wochen Streik haben die Beschäftigten der sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) durchgesetzt und die Blockade der Arbeitgeber durchbrochen. Diese hatten versucht, den Streik auszusitzen und waren mit Hilfe gewerkschaftsfeindlicher Anwaltskanzleien gerichtlich gegen den Arbeitskampf vorgegangen.

 

Bisher gab es Regelungen zur Entlastung in einzelnen Kliniken in Jena, Mainz, Homburg, Augsburg sowie beim Berliner Klinikkonzern Vivantes und der Uniklinik Charité. Mit dem nordrhein-westfälischen TVE wird zum ersten Mal ein Flächentarifvertrag durchgesetzt. Damit steigen die Chancen für die bundesweite Ausdehnung des Kampfes um Entlastung im Gesundheitswesen.

Krankenhaus ist Teamarbeit

Die Auseinandersetzung in NRW war vom Erfolg der Berliner Streiks im Herbst 2021 inspiriert. Mit ihren Forderungen gingen die Kolleg*innen aus Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster allerdings über Berlin hinaus. “Krankenhaus ist Teamarbeit” – die tarifliche Entlastung sollte nicht für die Pflege gelten, sondern für alle Bereiche.

Die Arbeitgeber verweigerten zunächst, über die nicht direkt pflegerischen Bereiche zu verhandeln, diese seien “nicht refinanzierbar”. Der Hintergrund: Die Abrechnung von Krankenhausleistungen mit den Krankenkassen basiert nicht auf den real entstehenden Kosten, sondern auf sogenannten „Fallpauschalen“ (DRG – Diagnosis Related Groups). Mit deren Einführung 2004 wurden die kapitalistische Logik im Gesundheitswesen und der Druck, mit weniger Personal mehr Fälle zu behandeln, intensiviert. Aufgrund steigender Unzufriedenheit in den Kliniken wurde 2018 ein Teil der Pflege „am Bett“ aus den Fallpauschalen herausgelöst und über ein zusätzliches “Pflegebudget” finanziert. Die Klinikvorstände bekommen zusätzliche Personalkosten in der Pflege von den Kassen ersetzt, während sie die reinen DRG-Bereiche aus dem Budget der Klinik bezahlen müssten. Nach rund 10 Wochen Streik und rund 2500 ausgefallenen Operationen gaben die Arbeitgeber ihre Abwehrhaltung gegen die Einbeziehung aller Beschäftigten auf und stimmten zu, alle im Streik befindlichen Bereiche in den TVE reinzunehmen.

Ein Hebel für die Pflege

Der Tarifvertrag gilt ab dem 1. Januar 2023. Für die Pflege inklusive der psychiatrischen Stationen und der Notaufnahmen gilt das “Modell 1”. Damit wird das Verhältnis von Beschäftigten zu Patient*innen festgelegt, auf jede Schicht bezogen. Wenn zu wenig Beschäftigte im Dienst sind – wegen Personalmangel, Ausfällen oder mehr Patient*innen – bekommen die betroffenen Kolleg*innen “Belastungspunkte”. Bei sieben Punkten bekommen sie einen Tag Freizeitausgleich. 2023 können daraus maximal 11 freie Tage entstehen, 2024 14 und ab 2025 18 Tage.

Für die Auszubildenden gab es deutliche Verbesserungen, was wichtig ist, um diese davon abzuhalten, noch während oder kurz nach der Ausbildung den Job zu wechseln.

“Für die Auszubildenden haben wir ein super Ergebnis erreicht. Für alle Ausbildungsgänge haben wir zwei Selbstlerntage pro Lehrjahr zur freien Verfügung rausgeholt. Zudem haben wir es für die Pflegeberufe geschafft, statt der gesetzlich vorgeschriebenen 10% Praxisanleitung bis zu 15%  festzuhalten. Die Azubis bekommen acht Wochen vorher den Dienstplan, zudem eine Orientierungszeit von drei Tagen bei jedem Praxiseinsatz. 60% der Praxisanleitung müssen in einem 1:1-Verhältnis durchgeführt werden, das Verhältnis von Lehrkräften zu Pflege-Azubis war durch eine Landesverordnung vorübergehend verschlechtert worden. Durch den Tarifvertrag wird es wieder auf 1:20 verbessert, früher als gesetzlich vorgesehen.”

Albert Nowak, stellvertretender Vorsitzender der Jugend- und Auszubildenden-Vertretung (JAV) am Uniklinikum Köln (UKK) und Pfleger auf der neurochirurgischen Intensivstation.

In der Radiologie, bei Therapeut*innen, im Betriebskindergarten und im Service gilt das bereichsbezogene “Modell 2”. Dort werden pauschal 10% bzw. 15% mehr Personal aufgebaut. Wird das unterschritten, entstehen bis zu fünf Entlastungstage pro Jahr. Im “Modell 3” enthalten die Beschäftigten im Case- und Patient*innenmanagement drei Tage Entlastung im Jahr (weitere Details im ver.di-Flyer). Dadurch werden die eigentlichen Probleme nicht gelöst. Unterfinanzierung und Profitorientierung bleiben bestehen, auch der Personalmangel wird nicht schnell beendet, denn Bezahlung und Arbeitsbedingungen bleiben eher unattraktiv. Doch die Beschäftigten haben zum ersten Mal einen bedienbaren Hebel, um auf Überlastung und Personalmangel zu reagieren, können sich freie Tage oder mehr Geld erkämpfen und damit Druck auf die Klinikleitungen erzeugen, mehr Personal einzustellen. Die verhandelte Regelung hat nicht wenige Haken. Sie gilt erst ab 2023. Die Klinikleitungen haben bis zu eineinhalb Jahre Zeit, die für die Erfassung notwendige Software für das “Modell 1” einzurichten. Bis diese läuft, gibt es für die betroffenen Bereiche pauschal fünf zusätzliche freie Tage. Die spürbare Entlastung wirkt dort möglicherweise erst in zwei Jahren. Die Umsetzung bei den Berliner Kliniken Charité und Vivantes ging schneller, die im Herbst 2021 verhandelten Regelungen werden ab diesem Sommer umgesetzt.  Zudem sind die Ausgleichstage für die Belastung gedeckelt, Belastung ohne Ende führt nicht zu unbegrenztem Ausgleich. Der größte Haken in NRW ist allerdings, dass die klaren Regelungen nicht für alle Bereiche gelten.

Krötenschlucken

Während für die Pflege ein schichtgenaues Modell der Entlastung gelten soll, werden die “nicht refinanzierbaren” Bereiche wie Ambulanz, Labore oder Patient*innentransport nur pauschal berücksichtigt, indem pro Klinik 30 zusätzliche Stellen geschaffen werden sollen. Die Verteilung dieser Stellen auf die einzelnen Bereiche wird nicht im Tarifvertrag festgeschrieben, sondern über die Personalräte mit den jeweiligen Klinikleitungen verhandelt.

Bitter ist, dass es keine klinikübergreifende Regelung gibt – dies haben die Vorstände verweigert –, sondern jede Klinik 30 Stellen erhält, obwohl die betroffenen Bereiche sehr unterschiedlich groß sind. Während in Köln Bereiche wie Küche, Kantine und Haustechnik outgesourced und damit überhaupt nicht vom Streik und der Tarifeinigung betroffen sind, gehören diese in Düsseldorf zur Klinik und hatten sich zudem stark am Streik beteiligt.

Für Teile der Belegschaft ist der Erfolg damit eher symbolisch. Ein Ambulanz-Kollege in Köln merkte auf der Bereichsbesprechung am 19. Juli an, dass man damit faktisch die nächsten fünf Jahre so weiterarbeiten müsse wie bisher. Dies führte dazu, dass bei der Düsseldorfer Streikversammlung am selben Tag, bei dem das Verhandlungsergebnis diskutiert wurde, 70% der Kolleg*innen gegen die Annahme stimmten und es Bereitschaft gab, den Kampf fortzuführen. In Essen, Köln, Bonn, Aachen und Münster stimmten hingegen zwischen 70 und 90% der Anwesenden für die Annahme.

Trotzdem ein Durchbruch

Für die Pflege sind reale Fortschritte enthalten, die über die Unikliniken und NRW hinaus wirken können. 77 Tage Streik zeigen, dass sich Kämpfen und Organisierung lohnen, dass die Verhältnisse geändert werden können. Der Abschluss ist ein Durchbruch, basierend auf einem Kampf, der stärker als andere Tarifbewegungen demokratisch von unten organisiert wurde.

ver.di hat die Schwächen des Abschlusses nicht verschwiegen, sondern offen kommuniziert, dass ein Teil der Ziele nicht erreicht wurde:

“Erstmalig ist es gelungen, einen Flächentarifvertrag an sechs Unikliniken in NRW zu erreichen, mit einer wirksamen Regelung, wenn der Schlüssel Personal-Patient*innen nicht erreicht wird … Alle Berufsgruppen sind im Würgegriff der sogenannten Fallpauschalen … es gilt überall das Prinzip, mit möglichst wenig Personal möglichst viele Operationen durchzuführen. Und da haben wir uns nicht an allen Punkten durchgesetzt …”

Katharina Wesenick, ver.di-Landesfachbereichsleiterin Gesundheit in NRW und Verhandlungsführerin, auf der abendlichen Pressekonferenz am 19.7.2022

 

“Ich möchte in aller Klarheit sagen, dass das nicht für alle Berufsgruppen zufriedenstellend ist. Und das nicht alle Berufsgruppen, die unter diesen Tarifvertrag fallen, gute Arbeitsbedingungen haben … Der von den Beschäftigten selber formulierte Bedarf wurde nicht berücksichtigt. Wir sind uns in der Tarif- und Verhandlungsgruppe einig, dass in Düsseldorf ein größerer Bedarf bei diesen Gruppen besteht … Wir sehen, dass das ein klarer Angriff der Arbeitgeber ist. Das ist bitter und tut weh, uns wurde da ganz klar ein kapitalistischer Riegel vorgeschoben … wir haben festgestellt, dass die Arbeitgeber ein wirklich großes Interesse daran haben, unsere gewerkschaftliche Arbeit … zu spalten.”

Lucy Hamel, UK Düsseldorf, zu den Bereichen des „Modell 4“.

Wäre mehr möglich gewesen?

Am Kölner Uniklinikum sind die Kolleg*innen stolz auf das Erreichte. Marieke Nill, Mitglied der Streikleitung und Labor-Beschäftigte, auf die Frage von sozialismus.info, ob sie mehr Licht oder mehr Schatten sehe:

“Noch strahlt das Licht heller, wir haben manche Bereiche in der Pflege, da haben wir super Ratios (Verhältnis Pflegekräfte zu Patient*innen, die Red.) bekommen. Doch ich bin im Zwiespalt bezüglich des Ergebnisses. Angesichts der Wochen vorher, wo sich nichts bewegt hat, haben wir superkrass viel geleistet und einen guten Tarifvertrag bekommen, aber wenn ich an Laborbereiche denke, ist es gedämpfter. Zu den 30 Stellen im Modell 4 können wir noch gar nicht viel sagen, wir müssen schauen, wie wir diese über die Ambulanzen und die Labore verteilen. Vielleicht ist es besser als gedacht, vielleicht kriegen aber auch nur so wenig Stellen, dass es nicht wirklich was gebracht hat, außer, dass die Bereiche mit drin stehen im TVE. Die Labore wurden ja immer vergessen und jetzt separat im TVE zu stehen, ist schon ein Erfolg. Das ist vielleicht nicht der beste TV Entlastung der Welt. Aber wir haben einen guten Start hingelegt, das ganze System DRG und Profit in den Krankenhäusern anzubohren.”

Marieke Nill, Mitglied der Streikleitung UKK Köln

 

“Wir haben so viel rausgeholt, wie das in der Situation möglich war. Wir haben um alles gekämpft, wir haben nichts leichtfertig fallen lassen, keine Berufsgruppen und Bereiche, auch wenn es Abstufungen gibt im Ergebnis. Es sind einige gute Ergebnisse dabei, aber auch welche, bei denen es nicht für die Bereiche reicht. Wir haben alle im Geltungsbereich mit drin, aber das haben wir an vielen Stellen teuer bezahlt. Mit etwas Abstand werden wir das als Erfolg sehen.”

Albert Nowak, stellvertretender Vorsitzender der JAV UKK

Der Streik war held*innenhaft, das Engagement schlicht beeindruckend, das argumentative Niveau und die politische Entwicklung der Kolleg*innen große Klasse. Die Betonung von ver.di-Funktionär*innen in der Endphase des Kampfes, eine Ablehnung des Ergebnisse würde zu einer Schlichtung führen und deren Ergebnis wäre automatisch schlechter, war allerdings nicht hilfreich. Durch dieses Suggerieren einer vermeintlichen Alternativlosigkeit wurde die Diskussion abgewürgt, bevor sie sich entwickeln konnte.

Die Probleme, den Streik fortzuführen, waren für alle offensichtlich. Nach Wochen der Verzögerung durch die Arbeitgeber waren die Streikenden müde, die Beteiligung sank zwar nur langsam, aber eine Umkehr dieser Entwicklung wäre schwierig gewesen. Doch eine offene Debatte über die Alternativen, auch darüber, welche Wirkung es hätte, wenn sich die Kolleg*innen gegen die offensichtliche Absicht der Arbeitgeber stellen, die Belegschaften durch unterschiedliche Regelungen zu spalten, wäre sinnvoll gewesen. Am Ende dieser Diskussion hätte sich möglicherweise die Mehrheit trotzdem für eine Annahme entschieden, aber das Düsseldorfer Abstimmungsergebnis verweist auf die Potenziale, sich gegen die Spaltung zu wehren. Die Klinik-Beschäftigten haben alles gegeben. Krankenhäuser sind ein schwieriges Terrain, mit vielen Beschäftigten, die nicht zum Streik aufgerufen werden können, mit Notdienstvereinbarungen, mit enormer moralischer Stimmungsmache, man lasse die Patient*innen im Stich, seitens der Klinikleitungen und teilweise der Medien. Dazu kommt der relativ geringe wirtschaftliche Druck im Vergleich mit Produktionsbetrieben. Die Kolleg*innen haben diesen Widerständen lange standgehalten. Doch für einen noch stärkeren Streik hätte es mehr Unterstützung von außen geben müssen.

Wo war der DGB?

Wegen der geringen ökonomischen Wirkung muss ein Streik im Gesundheitswesen als sozialer, politischer Streik geführt werden, um all die potenziellen Patient*innen zu erreichen. Gerade in den ersten Wochen hatte der Streik in den Medien kaum stattgefunden. Die wenigen Berichte thematisierten vor allem Probleme, die angeblich für Patient*innen entstehen würden. Das Argument der Streikenden, dass vor allem der Normalzustand die Versorgung und die Gesundheit der Patient*innen gefährde, wurde hingegen nicht transportiert. In dieser Situation hätte die Unterstützung seitens anderer ver.di-Bereiche und von Gewerkschaften wie der IG Metall ausgeweitet werden müssen. Es hätte bewusste Anstrengungen geben müssen, die Solidarität in die Betriebe, auf die Straße und die Öffentlichkeit zu bringen. Doch die historische Bedeutung des Streiks fand in den DGB-Gewerkschaften nur wenig Ausdruck. Wir reden an dieser Stelle gar nicht über Solidaritätsstreiks. Ein erster Schritt wäre gewesen, den Streik auf allen Betriebsversammlungen und – soweit vorhanden – Vertrauensleute-Sitzungen größerer Betriebe zu thematisieren. Per Flyer und Social Media hätte über den Streik informiert werden müssen. In einem zweiten Schritt hätte es lokale Demonstrationen geben können. Dort wären nicht Zehntausende gekommen, aber die Mobilisierung von Funktionär*innen und Aktiven der Gewerkschaften hätte je nach Ort Hunderte oder Tausende auf die Straße gebracht. Die Öffentlichkeitsarbeit hätte als gemeinsame Aufgabe der gesamten Gewerkschaftsbewegung verstanden werden müssen. Doch die Solidarität bestand überwiegend auf Resolutionen und Besuche beim Streikposten. Die Öffentlichkeitsarbeit blieb den Streikenden selbst und lokalen Gruppen von Unterstützer*innen – in Köln zum Beispiel die Gruppe “Profite schaden ihrer Gesundheit” – überlassen. Diese machten ihre Arbeit gut und die Streikenden haben eine ganze Reihe von beeindruckenden Demonstrationen organisiert und sich gegenseitig an den Standorten besucht. Die kollektive Anstrengung der Gewerkschaftsbewegung war jedoch gering und dies schränkte die Handlungsmöglichkeiten der Streikenden ein. Die Arbeitgeber konnten über Wochen laue Angebote und Provokationen kombinieren. Die Aachener Klinikleitung wollte den Auszubildenden die Streiktage als Fehltage angerechnen, die Leitung der Uniklinik Bonn (UKB) klagte gegen die Rechtmäßigkeit des Streiks, scheiterte allerdings vor Gericht. Die Schwächen des Abschlusses sind vor allem diesem Umstand zuzurechnen, dass es keine umfassende gewerkschaftliche Solidaritätskampagne gab. Alles, was erreicht wurde, geht hingegen auf das Konto der Streikenden, der ver.di-Aktiven in den Kliniken und der Unterstützer*innen-Gruppen. Es ist das Ergebnis der enormen Kampfbereitschaft der Beschäftigten und des erfolgreichen gewerkschaftlichen Organizings.

Belegschaft gestärkt

“Jede einzelne Kollegin auf jeder Station ist zumindest angesprochen worden. Alle Forderungen sind basisdemokratisch entstanden, jede Abteilung hat ihre eigenen Forderungen aufgestellt. Es war so demokratisch, dass es zu Anfang gar nicht verstanden wurde, viele waren überrascht, dass sie sich selber Gedanken machen sollten. Aber ich finde es super. So wird sich jede*r bei den Verhandlungen wiederfinden.”

Wibke, Kinderkrankenschwester an der UKK, in der ersten Streikwoche.

Bei der letzten Gehaltstarifrunde im Herbst 2021 gab es an den Kliniken viel Unmut über den Abschluss und darüber, dass ver.di die Ziele der Kolleg*innen nicht umgesetzt hat. Beim Streik für den TVE sah es anders aus. Die Gewerkschaft hatte die Beschäftigten an der Erstellung der Forderungen beteiligt, direkt am Streikposten saßen die einzelnen Bereiche immer wieder zusammen und konkretisierten ihre Vorschläge. Es gab eine Tarifkommission von 70 Mitgliedern und mit dem „Rat der 200“ ein breiteres Gremium, um die Verhandlungen in alle Bereiche rückzukoppeln. Die Aktivität und Kreativität war enorm. Jeden Tag war etwas los im Streikzelt. Es gab Workshops, Info-Veranstaltungen, Filmabende und Partys. Das klingt locker, aber es ist harte Arbeit, einen Streik über 11 Wochen durchzuhalten. Aktionen wie Demos sind intensiv und brauchen Vorbereitung, gleichzeitig kann nach vielen Wochen Streikposten auch Langeweile aufkommen.

An der Uniklinik Köln ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter den Beschäftigten-Gruppen, die sich am Streik beteiligt haben, auf über 50% gestiegen.

“Die Bereiche, die sich beteiligt haben, die Labore, die Blutspende, die Ambulanzen … waren stark, waren von Tag 1 dabei und haben sich auch mehrheitlich organisiert.”

Marieke Nill auf der ver.di-Pressekonferenz, 19.7.22. 

Trotz der kommenden Mühen der Ebene bei der Umsetzung des Kompromisses und der vom Arbeitgeber nutzbaren Ansätze zur Spaltung ist ein erster großer Erfolg dieses Streiks das enorm gewachsene Selbstbewusstsein der Beschäftigten. Sie werden sich nach dieser Erfahrung weniger von Vorgesetzten und Klinikleitungen gefallen lassen.

Wir im Pflegebereich haben zu lange zu viel mit uns machen lassen. Jetzt haben wir gesehen, wie viel Macht in den Beschäftigten des Gesundheitswesens steckt.”

Albert Nowak, JAV UKK, gegenüber sozialismus.info

Der TVE ist ein besonderer Tarifvertrag. Er greift – zumindest ansatzweise – in die Verfügungsgewalt der Arbeitgeber ein und definiert qualitative Arbeitsbedingungen nach den Kriterien der Beschäftigten. Damit leitet er über zur Idee, dass nicht die Besitzer*innen der Betriebe diese gestalten, sondern diejenigen, die dort arbeiten. Insofern war der Streik von Beginn an hochpolitisch, viele Kolleg*innen haben ihre Ideen weiterentwickelt. Bei Pressekonferenzen und in Interviews war immer wieder die Rede davon, die kapitalistische Logik im Gesundheitswesen müsse überwunden werden.

DRG abschaffen

Was bleibt … ist der Personalmangel. Der Tarifvertrag Entlastung alleine wird nicht dafür sorgen, dass Pflegekräfte in großer Zahl in ihren alten Beruf zurückkehren. Die Arbeitsbedingungen werden sich nicht schlagartig ändern, sondern langsam. Menschen, die in die Pflege gehen, werden sich jetzt möglicherweise eher für die Uniklinik entscheiden als für eine städtische Klinik, bei der der TVE nicht gilt. Das erhöht den Druck auch auf diese Kliniken. Doch das Problem der Bezahlung bleibt, außer Klatschen nichts gewesen, die nötigen mehreren Hundert Euro mehr für alle Beschäftigten sind in weiter Ferne. Vor allem bleiben die Fallpauschalen (DRG), flankiert von der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens und der Zweiklassen-Medizin der Kassen- und Privatpatient*innen. Mittels der DRG wird ein beständiger Kostendruck auf die Kliniken ausgeübt. Nicht die Versorgung der Patient*innen steht im Mittelpunkt, sondern die Profitlogik. Aufwändige Operationen und massiver Geräte-Einsatz spülen Geld in die Kassen, die menschliche Betreuung der Patient*innen, Gespräche, Zeit und Zuwendung bleiben aus Sicht der Klinikleitungen – darunter auch private, nur für den Profit existierende Konzerne – unnötige Kostenfaktoren. Entlastungstarifverträge sind erste Schritte, doch sie müssen ergänzt werden durch breite Kampagnen zur Vergesellschaftung der Pflege, zur Enteignung privater Konzerne und Rekommunalisierung von Krankenhäusern mit mehr demokratischer Kontrolle der dort Arbeitenden sowie zur Abschaffung der Fallpauschalen und Finanzierung des Gesundheitswesens nach den Bedürfnissen von Patient*innen und Beschäftigten. Der unter dem Strich erfolgreiche Streik von Nordrhein-Westfalen ist eine wichtige Wegmarke in diesem Kampf.