Fr 12.02.2021
1851 fand die erste Weltausstellung im Londoner Hydepark als “Great Exhibition” im eigens dafür gebauten “Crystal Palace” statt. Diese Konstruktion aus Stahl und Glas war an und für sich schon ein Wunder an Ingenieurskunst. Nach der Weltausstellung wurde er aus Platzgründen vom Hydepark in den Süden Londons nach Lewisham verlegt und ist dort 1936 abgebrannt. Davor wurde aber im “Crystal Palace” noch 1905 der gleichnamige Fußballverein gegründet. Der hinkt zwar in Sachen Popularität und auch Erfolg, gemessen am Anspruch alteingesessener englischer Fußballvereine, dem Bauwerk hinterher, existiert dafür aber heute noch und pendelt zwischen den oberen Spielklassen.
Aufgabe der Weltausstellung war eine industrielle Leistungsschau der Nationen, die dort in eigenen Pavillons ihre Projekte, Erfindungen und Errungenschaften vorstellten. Die Besten und Beeindruckendsten erhielten Auszeichnungen. Natürlich ging es dabei auch darum, Investor*innen aus dem In- und noch viel mehr Ausland anzulocken. Das Format “Weltausstellung” gibt es heute noch unter dem geläufigeren Titel “Expo” (=Exposition Mondiale).
Russland um die Jahrhundertwende
Wenn wir über die Oktoberrevolution, die Bolschewiki, den Stalinismus usw. reden oder schreiben, betonen wir immer die extreme Rückständigkeit Russlands im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu dieser Zeit. Wenig überraschend war das um das Jahr 1905 herum nicht besser, sondern noch schlechter.
Die Leibeigenschaft wurde formal erst 1861 abgeschafft. Formal deswegen, weil sich viele Bäuer*innen und ihre Familien freikaufen mussten und damit um die Jahrhundertwende noch nicht “fertig” und somit verschuldet waren. Es gab keine Verfassung, an die der nur durch “Gottes Gnaden” herrschende Zar gebunden gewesen wäre. Ein eigenständiges, selbstbewusstes Bürgertum konnte sich in dieser Situation der Unterordnung bzw. Verzahnung mit Adel und Großgrundbesitz nicht herausbilden, sondern trappelte im Schlepptau derer, denen der überwiegende Teil des Landes gehörte. Weit über 80% der Bevölkerung lebte in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land als Bäuer*innen oder Landarbeiter*innen. Gewerkschaften waren verboten, von demokratischen Rechten war überhaupt keine Rede. In der Industrie herrschte ein 11,5 Stunden-Arbeitstag. Die Ochrana, die gefürchtete zaristische Geheimpolizei, war allgegenwärtig. Die Opposition wurde verfolgt, verschleppt, verbannt und ins Exil getrieben.
Schauplatzwechsel. Am 25. Mai 1896 fanden die formellen Krönungsfeierlichkeiten für Zar Nikolaus II. statt. Dazu wurde ein riesiges Fest mit Tribünen für das "einfache“ Volk geplant und organisiert. Der Besucherandrang war so groß, dass während der Feier eine Tribüne unter der Last der vielen Menschen zusammenbrach. Rund 1.000 Menschen waren unmittelbar tot, das Ausmaß des Unglücks so groß, dass es nicht ignoriert werden konnte und die Frage aufwarf, wie mit den Feierlichkeiten weiter umzugehen war. Der Zar und die Verantwortlichen sahen darin aber keinen Grund, die laufende Prozession auch nur zu unterbrechen, um die Verletzten besser zu versorgen oder die Toten bergen zu können. Alles ging weiter seinen geplanten Lauf. Für viele von uns ist das heute schwer vorstellbar. Wir sehen aber gerade auch wieder zunehmend, wie Tragödien heute von den Herrschenden benutzt werden. Die Palette reicht dabei von der Katastrophe 1989 im Hillsborough-Stadion in Sheffield, wo 96 Menschen beim Einsturz einer Tribüne ums Leben kamen. Die damalige konservative Regierung und ihre Medien versuchte durch gezielte Lügen einen Teil der britischen Arbeiter*innen-Klasse in Verruf zu bringen und ihre harte Kürzungs- und Strafpolitik zu rechtfertigen. Erst vor einigen Jahren wurden die Opfer auch offiziell rehabilitiert. Andere Beispiele sind die Flüchtlingskrise 2016 mit der Festung Europa an den EU-Außengrenzen und aktuell die “Wir zuerst” Propaganda und Hetze im Kampf um medizinische Versorgung und Impfstoff in der Corona-Krise durch das Chaos der kapitalistischen Marktwirtschaft. Und auch heute sehen wir wieder zunehmend eine Elite, ohne jegliches Unrechtsbewusstsein in ihrer Prunk- und Verschwendungssucht.
Pariser Weltausstellung
Vom 15. April bis 12. November 1900 fand die Weltausstellung in Paris auf sage und schreibe 216 Hektar statt. Um sich das besser vorstellen zu können, das entspricht der Fläche von über 300 Fußballfeldern. In diesem gigantischen Rahmen sollte das 20., von den industriellen Neuerungen geprägte, Jahrhundert eingeläutet werden. Versinnbildlicht wurde das durch die Eröffnung der Pariser Metro zur Weltausstellung. Neben anderen wurden die erste Rolltreppe und mit dem Lohner-Porsche das erste Elektro-Hybridauto präsentiert. Auch damals schon, weil durch die große Anzahl an Verbrennungsmotoren in den Städten die Luft verpestet wurde...
Die Brüder Lumiere stellten nach der Urführung und Patentierung 1895 ihren Cinematographen der Weltöffentlichkeit vor. In nur kurzer Zeit wird im Schlepptau des Kinos eine Unterhaltungs- und Informationsindustrie entstehen, die uns auch heute noch im Internetzeitalter prägt und durch die Corona-Pandemie mit boomenden Streaming-Diensten auf eine neue Stufe gehoben wurde. Gleichzeitig und parallel zur Weltausstellung fanden die 2. Olympischen Spiele der Neuzeit statt. Nach heutigen Maßstäben würde klar der besser zu vermarktende Sport im Vordergrund stehen und die Weltausstellung nebenbei mitlaufen. 1900 in Paris war das noch umgekehrt und die Sportveranstaltungen waren eher vergleichbar mit Schaukämpfen auf Jahrmärkten zur Unterhaltung.
Allerdings dürften nicht wenige der knapp 50 Millionen Besucher*innen gestaunt haben, als sie den russischen Pavillon betreten haben. Denn das, was sie dort sahen, entsprach so gar nicht dem Bild eines rückständigen Landes. Russland präsentierte dort seine Fortschritte im Bereich der Industrialisierung anhand eines Mammutprojekts – dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Die in nur drei bis vier Jahren Bauzeit (je nach Quelle) errichtete 940m lange Brücke von Krasnojarsk über den Jenissei erhielt schließlich auch eine Auszeichnung. Fast gleichzeitig mit dem Baustart 1897 wurde ein gewisser Vladimir Iljitsch Uljanow, später auch Lenin genannt, aufgrund aufrührerischer Tätigkeiten dorthin verbannt. Damals noch am Arsch der Welt wurde Krasnojarsk kurze Zeit später der sibirische Eisenbahnknotenpunkt.
Die wirkliche Attraktion aber war ein ausgestellter Eisenbahnwaggon, in dem die Reise von Moskau nach Peking “mitgefahren” werden konnte. Die Pläne gingen sogar soweit, über die Behringstraße zwischen Russland und Alaska eine Eisenbahnbrücke zu schlagen. Damit sollte der Transatlantik-Schifffahrt Konkurrenz gemacht und der Handel zwischen Europa und Amerika auf eine völlig neue Ebene gebracht werden, aber unter russischer Kontrolle. Projekte wie diese erinnern heute an die “Neue Seidenstraßen”-Politik Chinas.
Russland stellte aber auch seine neuesten Industrieprojekte vor, die in Umfang, Größe und Konzentration staunend machten. Die russische Industrie kam spät, dafür war sie modern, technisch auf hohem Stand und vergleichsweise riesig. Finanziert wurde das einerseits staatlich und anderseits über ausländisches Kapital, das gerade durch die Weltausstellung verstärkt angezogen werden sollte. An die 40% der russischen Industrie gehörte ausländischem Kapital. Zahlen aus dem Jahr 1902 zeigen, dass 38,5% der Arbeiter*innen Russlands in Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten arbeiten. Im Vergleich dazu lag der Wert in Deutschland, dem industriellen Flaggschiff Kontinentaleuropas zu diesem Zeitpunkt, bei knapp 10%. Diese Konzentration der Arbeiter*innen in Großbetrieben wird später bei den Revolutionen von 1905 und 1917 eine große Rolle spielen. Aber auch auf dem Parkett der internationalen Diplomatie trat Russland vermehrt auf. Sowohl bei der Haager Landkriegsordnung wie auch bei der Schaffung des internationalen Schiedsgerichtshof mischten russische Juristen tatkräftig mit.
Vom "Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung" zur "Theorie der Permanenten Revolution"
Diese Beispiele zeigen, dass Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ein homogenes Land war, sondern den Charakter und die Geschwindigkeit von mehreren Verschiedenen in sich trug. Einerseits das alte, zurückgebliebene noch im Feudalismus steckende Zarenreich. Andererseits das moderne, von Industriezentren und –projekte geprägte Russland. Wir haben die extreme Prunk- und Verschwendungssucht des Zaren mit seinem Hofstaat und bürgerlichen Vasall*innen. Wir haben aber auch eine Arbeiter*innen-Klasse, die obwohl sie nicht mehr als 5% der Gesamtbevölkerung ausmacht, genau wegen ihrer sehr hohen Konzentration in wenigen wirtschaftlichen und politischen Zentren eine weitaus bedeutendere Rolle spielen kann. Das macht den niedrigen Anteil, an der über die riesige Fläche des russischen Reichs verstreuten Bevölkerung wieder wett. Die Revolutionen von 1905 und 1917 werden das eindrücklich belegen.
Eine rückständige Landwirtschaft neben einer hochentwickelten Industriekultur in wenigen Zentren wird als das Gesetz der “ungleichen und kombinierten Entwicklung” von Leo Trotzki als unmittelbare Lehre aus der Revolution von 1905 beschrieben werden. Demnach sind mit dem 20. Jahrhunderts in der Industrialisierung zu spät gekommene Länder trotz ihrer Rückständigkeit in das System des sich ausbreitenden Weltkapitalismus eingebunden. Eine gleichmäßige, die größten Bevölkerungs- und Wirtschaftsteile einbeziehende Entwicklung ist bis auf Ausnahmen (wie zum Beispiel Brückenköpfe des Kalten Kriegs in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts) nicht mehr möglich. Der Großteil des Landes bleibt in der rückständigen, bäuerlich feudal geprägten Gesellschaft, während ein kleiner Teil in wenigen Zentren den Sprung ins Industriezeitalter nimmt. Trotzki schreibt dazu in der “Geschichte der Russischen Revolution” von 1930:
„Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten (…) am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen. Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich das Gesetz (…) der kombinierten Entwicklung (…) im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen.“
Eine Situation, die nicht nur Russland 1905 und 1917 betraf, sondern auch heute bei Ländern der sogenannten Dritten und zunehmend Zweiten Welt hoch aktuell ist.
Das Gesetz der “ungleichen und kombinierten Entwicklung” bildet die Basis von Trotzkis 1906 erstmals so ausformulierten, aber bereits bei Marx, Engels, Luxemburg oder Mehring schon angelegten, "Theorie der Permanenten Revolution". Sie beschreibt den direkten Übergang einer noch stark von politischen Elementen der bürgerlichen Aufgaben (Landreform, Wahlrecht, Pressefreiheit etc.) angestoßenen Revolution in eine proletarische, sozialistische Revolution. Die Mehrheit des Bürgertums hat sich schon mit den alten Elementen wie Großgrundbesitz und Adel verwoben, wie es sich auch mit dem ausländischen Kapital bereits arrangiert hat. Es braucht keine Revolution mehr, um seine Interessen zum Durchbruch zu bringen und kann daher auch nicht Träger des Kampfes für "bürgerliche" Rechte sein. Ganz im Gegenteil. Es fürchtet die Revolution, weil dadurch das Kleinbürgertum, die Arbeiter*innen-Klasse, die bäuerliche Bevölkerung und Unterschichten gegen sie, ihre Interessen und ihre privilegierte Situation in Bewegung geraten.
Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie im Zeitraffer
Im Zug der verspäteten Industrialisierung, kam in Russland auch die organisierte Arbeiter*innenbewegung in Form der Sozialdemokratie spät. Erst 1898 gründete sich in Minsk, im heutigen Belarus, die russische Sozialdemokratie (SDAPR) aus unterschiedlichen Zirkeln und Zugängen. Die Sozialdemokratie stand damals noch auf dem Boden des Marxismus und nicht wie später als Speerspitze des Neoliberalismus mit ihren Schröders und Blairs. Allerdings ist die Partei von Beginn an der Verfolgung ausgesetzt und ein Großteil der Parteiführung wird rasch verhaftet. In Folge bestand die SDAPR vorwiegend aus isolierten Propagandazirkeln mit der oft einzigen Verbindung durch die illegalen Parteizeitungen.
Mit der Zunahme von Klassenkämpfen um 1900 reichten Propagandazirkel nicht mehr aus, es brauchte den Umbau in eine schlagkräftige Partei. Bereits auf dem 2. Parteitag 1903 begann die Spaltung anhand dieser organisatorischen bis 1912 immer stärker auch politischen Fragen in Bolschewiki und Menschewiki. Die Minderheit (Menschewiki) schlug einen politisch gemäßigteren Kurs ein. Die Mehrheit (Bolschewiki) unter Lenin begann mit dem Aufbau einer straffen Parteiorganisation in Form des “Demokratischen Zentralismus”. Dieses Organisationsprinzip bedeutet bis heute die volle Diskussion und gleichberechtigte Debatte aller Mitglieder nach innen. Die Bolschewiki aber hatten auch die Lehren aus den Kämpfen der Arbeiter*innen in den Betrieben gezogen: Sie sahen die Notwendigkeit, demokratisch gefällte Beschlüsse auch gemeinsamen nach außen umzusetzen um als Organisation handlungsfähig und schlagkräftig zu sein. Damit brachen die Bolschewiki scharf mit dem eher föderalistischen Aufbau der Menschewiki, wo jeder Zirkel tun konnte was er für richtig hielt, sofern er nur innerhalb der breiten politischen Klammer blieb. Bis heute ist die Frage nach dem Aufbau eine ganz Wesentliche in der Arbeiter*innen-Bewegung und radikalen Linken geblieben, die sich auf kurz oder lang auch politisch ausdrückt.
Die Grenzen der Fraktionen waren bis zum Vollzug der Spaltung 1912 und auch darüber hinaus nicht starr. Deswegen braucht es uns heute nicht verwundern, wenn es auch immer wieder zu Wechseln zwischen den Fraktionen kam. Georgi Plechanow, ein “Gründungsvater” der russischen Sozialdemokratie, unterstützte zuerst die Bolschewiki, um schließlich zu den Menschewiki zu wechseln. Trotzki unterstützte in organisatorischen Fragen zuerst die Menschewiki, schwankte immer wieder zwischen den Positionen der beiden Fraktionen, schloss sich schließlich 1917 endgültig den Bolschewiki an und war dann gemeinsam mit Lenin für die Oktoberrevolution verantwortlich.
Bis heute verweisen Sozialdemokraten und bürgerliche Historiker bereits auf den Keim des späteren Stalinismus der Bolschewiki in der Spaltungsfrage 1903. Auf der deutschen Ausgabe von Wikipedia lesen wir dazu:
„Die Entscheidung, Kaderpartei zu werden und entsprechend konspirative Strukturen aufzubauen, behinderte nach Einschätzung des Historikers Manfred Hildermeier die innerparteiliche Demokratie (…)“
(Quelle Wikipedia, abgerufen am 26. Jänner 2021)
Für sich alleine betrachtet mag das ja sogar vernünftig klingen, allerdings ist das Pferd so von der völlig falschen Seite her aufgezäumt. Isoliert betrachtet hat der erste Corona-Lockdown in Europa im Frühjahr 2020 zu deutlich weniger Toten im Straßenverkehr geführt. Gemäß den von Manfred Hildermeier angewendeten Kriterien müsste dann in COVID 19 oder den Lockdowns ein taugliches Instrument zur Bekämpfung der Verkehrstoten gesehen werden. Das ist natürlich absoluter Blödsinn und hoffentlich fordert das auch niemand. Diese Herangehensweise Äpfel mit Birnen zu vergleichen hilft uns weder im Kampf für eine Senkung der Verkehrstoten, noch bei der Analyse des Stalinismus und wie er verhindert werden kann.
Wenn schon, denn schon, dann müsste es korrekterweise heißen, dass die zaristische Geheimpolizei und Verfolgung im Zarismus gemeinsam mit der Intervention von 21 ausländischen Armeen im Bürger*innen-Krieg nach der Oktoberrevolution den Aufbau von innerparteilicher Demokratie “behindert” haben. So aber bleibt es eine leere “Hülse” ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn.
Am Anfang war die Krise, dann der Krieg und dann die Krise
Am Beginn des 20. Jahrhunderts rutschte Russland in eine schlimme Rezession. Ausgangspunkt dazu war eine Krise der Finanz- und Getreidemärkte. Russland war von seinen Getreideexporten abhängig und finanzierte damit seine Industrieprojekte und den Bau notwendiger Infrastruktur. Vom folgenden Einbruch der Getreidepreise waren die Bäuer*innen als erste betroffen und es folgten Unruhen in den Jahren 1902 und 03. Als Antwort darauf versuchte die Regierung die Kosten der Krise zunehmend auf die Industriearbeiter*innen abzuladen. Eine große Streikbewegung, die sich 1903 über die Industriezentren ausdehnte, war die Folge. Als letzten Ausweg befeuerte der russische Innenminister den Antisemitismus und somit Pogrome gegen die völlig schuldlose jüdische Bevölkerung und setzte auf Spaltung der Menschen. Es ist kein Zufall, dass just 1903 zum ersten Mal die sogenannten “Protokolle der Weisen von Zion” als gefakte “geheime Protokolle” einer jüdischen Weltverschwörung in Russland gedruckt und verbreitet wurden. Von da an befeuerte dieses plumpe Hetzwerk Verschwörungstheorien und Antisemitismus rund um den Globus. Der Autopionier, Antisemit, Mussolini-Bewunderer und Antidemokrat Henry Ford bezog sich genauso darauf, wie die Nazis oder heutige Impfgegner*innen, Corona-Leugner*innen oder Rechtsradikale aus dem Umfeld des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Kaum ein Beispiel entlarvt Antisemitismus sosehr als gezieltes Instrument zur Herrschaftsstabilisierung und Spaltung der Gesellschaft.
Aber zurück nach Russland um die Jahrhundertwende. Wie wir schon gezeigt haben, war der Bau der Transsibirischen Eisenbahn auch ein deutliches Signal in Richtung imperialistischer Ausdehnung Russlands nach Osten und vor allem China. Das kam nicht ungefähr. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann ein Wettlauf um noch zu verteilende politischen und wirtschaftlichen Einflusssphären in China. Und Russland ist mit der Transsibirischen Eisenbahn “gut” mit dabei. Um schneller einen Zugang zu einem eisfreien Tiefsee-Hafen zu haben, weitete Russland seine “Interessen” in der Mandschurei im Norden Chinas aus. Dazu gehört die Einbindung der Ostchinesischen-Eisenbahn als Abzweigung der Transsibirischen Eisenbahn nach Port Arthur, dem heutigen Dalian am Gelben Meer.
1894/95 hatte Japan China besiegt, und, heute würden wir sagen als „Hegemonialmacht“ endgültig abgelöst. Zunehmend gerieten japanische und russische Interessen in Konflikt. Als “alte” europäische Großmacht wähnte sich Russland gegenüber dem aufstrebenden japanischen Kaiserreich haushoch überlegen. Umso heftiger was das Erwachen der russischen Elite, als Japan ohne Kriegserklärung die gesamte russische Pazifikflotte Anfang Februar 1904 in Port Arthur versenkte. Es folgte der russisch-japanische Krieg mit vielen schmachvollen Niederlagen Russlands zu Land, Wasser und nur deswegen nicht zu Luft, weil es noch keinen Luftkrieg gab. Der letzte, katastrophale Höhepunkt war die Versenkung der zu Hilfe gerufenen, stolzen Ostseeflotte Russlands im Mai 1905 bei Tshushima vor der Küste Chinas. Für Russland wird es wenig Trost gewesen sein, dass es sich rückblickend dabei um die erste “moderne” Seeschlacht handelte.
Die Vermittlung des Friedensvertrages von Portsmouth, New Hampshire, war eine der ersten Handlungen der USA auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Russland verlor darin die Ostchinesische Eisenbahn und Südsachalin an Japan und somit den Zugang zum Gelben Meer. Vorbei der Traum vom eisfreien Tiefseehafen. Der Einfluss Japans auf die Mandschurei und Korea wurde gegenüber Russland festgeschrieben. Im Gegenzug für seine Rolle als Vermittler erhielt der US-Präsident Teddy Roosevelt 1906 den Friedensnobelpreis im Prinzip für nichts außer dafür, für die imperialistischen Interessen eines Landes einzustehen. Aber damit ist er sicherlich in der langen Liste der Träger*innen dieses Preises nicht alleine. Japan anerkannte darüber hinaus auch die Vorherrschaft der USA über die Philippinen. Es war erst die zweite Niederlage einer europäischen Macht gegen ein außereuropäisches Land nach Italien in Abessinien 1896. Außen-, wie Innenpolitisch war es für Russland ein Desaster, das jetzt auch noch auf seinen Kriegskosten sitzen geblieben war.
Die Revolution fällt (nicht) vom Himmel
Wir sehen trotz der Größe und der Festigkeit der absolutistischen Herrschaft des Zaren mit der Niederlage im Krieg und im Folgenden der hohen Kriegskosten eine sehr zerbrechliche Grundkonstellation in Russland. Der bekannte russische Autor Leo Tolstoi hat in seinem letzten Lebensviertel einen religiösen, Bäuer*innenanarchismus vertreten und entwickelt bevor er 1910 starb. Auch er hatte die zunehmend zerbrechliche Situation im Zarismus wahrgenommen und aus Angst vor einer Revolte sich 1902 an den Zaren gewandt:
“Lieber Bruder, diese Anrede hielt ich für die angemessenste, weil ich mich mit diesem Brief nicht so sehr an den Zaren wie an den Menschen – den Bruder wende (…) Ein Drittel Russlands befindet sich im Zustand verschärfter Überwachung (…) Die Armee der Polizisten – der öffentlichen und geheimen – vergrößert sich ständig. Die Gefängnisse, die Orte der Verbannung und der Sträflingsarbeit sind neben hunderttausenden Krimineller mit politischen Häftlingen überfüllt, zu denen jetzt auch die Arbeiter gerechnet werden. Die Zensur hat eine Unsinnigkeit der Verbote erreicht, wie es in der schlimmsten Zeit der vierziger nicht der Fall gewesen war (…) Überall in den Städten und Fabrikzentren sind Truppen konzentriert, und sie werden mit scharfer Munition gegen das Volk ausgeschickt (…) Mit Gewaltmaßnahmen kann man das Volk unterdrücken, aber nicht regieren (…) Ihr Ihnen aufrichtig wahres Glück wünschender Bruder - Lew Tolstoi”
Trotz aller Vor- und Anzeichen einer aufkommenden Krise, schrieb der russische Politiker Sergei Witte noch zum Jahreswechsel 1904/5 an den britischen Botschafter McCormick, dass die Situation zwar ernst wäre aber keine Gefahr für eine Revolution bestünde. Wie so oft in der Geschichte hat sich auch hier die etablierte Politik blind gegenüber der wirklichen Situation gezeigt.
Der Pfarrer der Ostkirche Georgi Apollonowitsch Gapon war in seinem Denken stark vom alten Tolstoi beeinflusst. In Moskau geriet Gapon in Kontakt mit religiösen Arbeitervereinen, die auch aktiv vom Regime gestützt wurden. Sie waren vom Geheimdienst unterwartet und spielten auch bewusst die Rolle den Unmut der Arbeiter*innen religiös verpuffen zu lassen. Mit heutigen Maßstäben würden wir sie dem weiten Feld der „Gelben Gewerkschaften“ zuordnen. Gapon übernahm dieses System der religiösen Arbeitervereine für sich in Petersburg und hatte damit nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Arbeiter*innen dort. Zunehmend gewann er durch seine „Stillhaltefunktion“ auch Eingang in Regierungskreise in Petersburg.
Trotzdem können wir Gapon nicht einfach, wie das teilweise passiert, als bewussten, reaktionären Spitzel sehen. In Moskau war er zuerst auf die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen gestoßen und das hatte ihn letztlich überzeugt, die religiösen Arbeitervereine nach Petersburg zu übertragen. Ende 1904 schwankte er zunehmend zwischen Loyalität zum Zarismus und der Wandlung seines Vereins hin zu einer Gewerkschaft. Gapon glaubte ähnlich wie Tolstoi einige Jahre vor ihm, dass Problem bestehe darin, dass der Zar über die Probleme nicht Bescheid wisse. So entsteht auch die Idee der Übergabe einer Petition mit Forderungen der Arbeiter*innen an den Zaren.
1904 war der russische Innenminister Pleve noch der Meinung, ein kleiner, siegreicher Krieg gegen Japan könne das Land im Inneren wieder festigen. In Wirklichkeit zeigte sich das Gegenteil. Die abzeichnende Niederlage im Krieg heizte den Unmut aufgrund der Krise von 1902/03 noch weiter an. Dazu kam, dass die immer größer werdenden Kosten des Kriegs – wenig überraschend – auf die Bäuer*innen und Arbeiter*innen abgeladen wurde. In dieser Situation kam es nun zum Jahreswechsel 04/05 zur Kündigung von vier(!) Arbeitern in den Putilow-Werken. Bereits wenige Tage danach streikten über 100.000 Arbeiter*innen in Petersburg. Das sind rund 2/3 der Arbeiter*innenschaft Petersburgs. Auch Gapon und sein Arbeiterverein gerieten unter Druck und riefen so eine Demonstration für Sonntag den 9. Jänner (alter Kalender, 22. Jänner nach dem Neuen) aus.
An diesem Morgen war ein Großteil der Arbeiter*innenschaft samt Familien Petersburgs auf den Beinen. Ganze Familien mit Kindern bereiteten sie sich auf die Demonstration zum Zarenpalast vor. Mit dabei hatten sie Spruchbänder und Portraits des Zaren, nichts deutete auf eine nicht kontrollierbare Radikalisierung hin. Überhaupt glich das Ganze mehr einer Prozession als einer Demonstration, an deren Spitze der Pope Gapon ging um dem Zaren die Bittschrift der Arbeiter*innen zu übergeben. Allerdings hatten die Forderungen der Arbeiter*innen an den Zaren sehr wohl ordentlich „Pfeffer“.
- Volksversammlung an der Seite des Zaren
- Wahlrecht
- Höhere Löhne
- bessere Arbeitsbedingungen
- Ende des Krieges mit Japan
Heute wissen wir, dass bereits zwei Tage vor der Prozession, die Entscheidung fiel, weder Gapon eine Audienz beim Zaren, noch der Demonstration Zugang ins Petersburger Zentrum zu gewähren. Wieweit Gapon davon selbst wusste, ist heute schwer zu sagen. Fest steht, dass ihm und seinem Verein die Kontrolle über die Demonstration bereits entglitten war und sie kurzfristig sehr wahrscheinlich auch ohne ihn stattgefunden hätte. Als sich die Menschenmasse singend und teilweise auch betend dem Zentrum näherte, erfolgte der Schießbefehl. Gapon konnte, beschützt durch seine Leibwächter, fliehen. Er wird später sagen, ab heute gibt es keinen Gott und Zaren mehr. Die Demonstrant*innen wurden von Polizei und Militär gejagt, mehrere Hunderte getötet oder verletzt: Der Petersburger Blutsonntag.
Und so liest sich der Tag im Tagebuch von Zar Nikolais II., einem 37-jährigen Mann, im Stil eines Grundschulaufsatzes:
„Ein schwerer Tag (…) Ach Gott, wie schmerzlich und schwer ist es! Mama kam von der Stadt zur Frühmesse. Wir lunchten mit allen. Ich ging mit Mischa spazieren. Mama blieb bei uns über Nacht.“
Das Revolutionsjahr 1905
Mit dem Petersburger „Blutsonntag“ war die Tür weit aufgeworfen und mehrere revolutionäre Wellen prägten das ganze Jahr 1905. Die Nachrichten verbreiteten sich rasch in alle Landesteile. Streiks und Bäuer*innenunruhen brachen unmittelbar im Jänner und Februar aus. Die Antwort des Zaren war eine Militärregierung, um wenig überraschend die Bewegung zu unterdrücken. Aber stattdessen dehnten sich die Streiks, Unruhen und Aufstände bis in den Sommer auf 122 auf kleinere Ortschaften aus. Das ganze Zarenreich war davon betroffen. Von Streiks in Polen (damals bei Russland) und einem Aufstand mit 90 Toten in Warschau zum Kaukasus mit der Ölmetropole Baku, an der Ostsee streikten die Arbeiter*innen und bei Bäuer*innenunruhen wurden über 500 Gutshöfe abgefackelt, in der Ukraine der Kornkammer des Reichs revoltierten die Bäuer*innen mit Unterstützung der dortigen großen jüdischen Bevölkerung. Teile der Armee und Flotte meuterten wie am Panzerkreuzer Potemkin, die islamischen Teile des Reichs erhoben sich gegen die religiöse Unterdrückung der Orthodoxen Kirche und im Osten zeichnete sich dazu immer mehr die Niederlage im russisch-japanischen Krieg ab. Schließlich bildete sich ca. 300 km östlich von Moskau in der Textilindustriehochburg Iwanowo ein Arbeiter*innen-Rat, der erste Sowjet.
Über den Spätsommer baute sich, angetrieben durch den für das offizielle Russland schmachvollen Frieden von Portsmouth, eine neue Welle der revolutionären Bewegung auf. Allerdings zeigte sich auch, dass die Hauptfragen der Bewegung, nämlich die Lösung der Landfrage, die Beendigung der nationalen Unterdrückung und demokratische Mitbestimmung bisher politisch noch weitgehend unbeantwortet geblieben waren. Die bürgerlich Liberalen waren wegen der Heftigkeit und steigenden Radikalisierung der Arbeiter*innen zunehmend verschreckt. Die Antwort der Menschewiki lautete darauf, die Arbeiter zu bremsen, um die liberale Bourgeoisie bei der Stange zu halten.
Statt sich wie die Menschewiki dem liberalen Bürgertum unterzuordnen, gab Lenin die Losung der “Demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern” aus. Das war zwar weit über die Menschewiki hinaus, sagte allerdings auch noch nichts über den Charakter der Revolution und wer darin die entscheidende Rolle spiele werde aus. Auch die Bolschewiki werden bis zu Lenins Aprilthesen 1917 brauchen, in denen dieser letztlich Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution übernahm, um eine programmatische Grundlage der Oktoberrevolution zu schaffen. Nichtsdestotrotz befeuerten die Bolschewiki die Streikbewegung und trieben die Revolution damit voran. Als Mitte September in Moskau bei den Druckereien ein Streik ausbrach, arbeiteten sie erfolgreich daran, den Streik auf alle Bereiche der Stadt auszubreiten.
Anfang Oktober streikte die Eisenbahn, es folgten immer mehr Teile bis zum Generalstreik in Petersburg. Am Höhepunkt streikten 1,5 Millionen Arbeiter*innen in 120 Städten. Dem Beispiel von Iwanowo folgend wurde jetzt auch in Petersburg ein Arbeiter*innen-Rat gegründet. Zur ersten Sitzung am 13. Oktober erschien nur eine Handvoll Delegierte, zwei Tage später waren es bereits einige Hundert. Und wieder einige Tage später kontrollierte der Sowjet Petersburg. Wer Ende Oktober/Anfang November ein Telegramm verschicken oder empfangen wollte, brauchte die Zustimmung des Sowjets. Die Machtfrage war gestellt.
Doppelherrschaft und Konterrevolution
Im Oktober/November 1905 sehen wir mit den Räten neben der zaristischen Regierung eine zweite Herrschaftsebene heranwachsen. In das durch die Revolution entstehende Machtvakuum waren die Sowjets getreten und hatten zunehmend mehr Bereiche auch der Verwaltung und des Zusammenlebens übernommen. Einerseits zeigte die Revolution von 1905 damit eine neue Möglichkeit für die demokratische Organisierung und Verwaltung einer künftigen Gesellschaft in Form der Räte. Anderseits zeigte sie auch, dass diese Situation nicht ewig anhält, die Macht auf der Straße lag und ergriffen werden muss, entweder von der einen oder anderen Seite.
1905 gab es noch keine Organisation oder Partei, die die Massen mit einer revolutionär-sozialistischen Perspektive hinter sich und ein dauerhaftes Bündnis mit den Bäuer*innen zum nächsten Schritt bringen konnte. Die Situation einer Doppelherrschaft, wo bereits Elemente einer neuer und einer alten gegeneinander um die Vorherrschaft kämpfen, haben wir später auch in vielen Revolutionen und revolutionären Situationen wie etwa nach dem 1. oder 2. Weltkrieg gesehen. Alle historischen Beispiele bis heute haben gezeigt, dass es dort, wo es Elemente einer Doppelmacht gab, kein langsames, friedliches „Hinüberwachsen“ und Durchsetzen der sozialistischen Räteherrschaft gegenüber der Alten möglich war und ist. Ganz im Gegenteil, die alte Herrschaft mobilisiert alle Kräfte, um die Räte niederzuringen. Insofern braucht es auch einen revolutionären Akt, um die Doppelherrschaft in Richtung der Räteherrschaft zu entscheiden. Und um diesen revolutionären Willen zu bündeln braucht es eine sich der Aufgabe bewusste, revolutionäre Organisation oder eben Partei.
Die alte Macht spielt zuerst auf Zeit und sobald sich die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verschiebt, wird eine rasche, harte und in der Regel blutige Entscheidung gesucht. 1905 ist das noch das historische Moment der liberalen Bourgeoisie. Allerdings verinnerlichten die Menschewiki diese Politik und ordneten sich mit Haut & Haaren den Liberalen unter. Gemeinsam warfen sie den Sowjets vor, mit ihrer radikalen Politik die Bündnispartner zu verschrecken und deswegen den offenen Kampf zu vermeiden. Später in den Revolutionszyklen ab 1917 übernimmt diese Rolle der Liberalen bereits in Russland die Menschewiki und in Europa die Sozialdemokratie. Die Massen werden vertröstet, nach Hause geschickt, ins Leere laufen gelassen und die Räte zunehmend entmachtet oder wie teilweise z. B. in Deutschland oder Österreich später auch untergeordnet in den Staat integriert. Wie lange die Periode dieses “Krisenmanagements” dauert, hängt in erster Linie davon ab, wie lange es braucht, bis sich die alte Herrschaft wieder etabliert hat. In Russland 1905 war das nur eine sehr kurze Periode, weil sich das Bürgertum sehr schnell mit dem Adel und Zarismus geeinigt hatte. In der deutschen Revolution nach dem 1. Weltkrieg wird diese Phase fünf Jahre bis 1923 dauern.
Nachdem die staatliche Ordnung in Russland im Spätherbst 1905 weitgehend zusammengebrochen war, verkündete der Zar zur Rettung seiner Herrschaft Zugeständnisse im „Oktobermanifest“. Ein Teil der Liberalen gründete in Anlehnung dazu daraufhin die bürgerliche Partei der „Oktobristen“ und unterstütze den Zaren. Der andere Teil, der noch ein paar Zugeständnisse mehr wollte, sammelte sich in den Konstitutionellen Demokraten; abkürzt KD – also Kadetten. Beide Strömungen werden wieder eine Rolle in der Februarrevolution 1917 spielen und auch dort werden ihnen die Menschewiki den Steigbügel halten. Trotzki bezeichnete die Revolution von 1905 deswegen auch als eine Revolution ohne revolutionäres Bürgertum.
Nach der Verkündung des Oktobermanifests und dem Abflauen der Bewegung ging es Schlag auf Schlag. Die zaristische Herrschaft setze auf das Prinzip „Teile und Herrsche“. Im Oktobermanifest waren einige demokratische Zugeständnisse an die liberale Bourgeoisie enthalten und sie damit ruhiggestellt. Fast zeitgleich mit der Verkündung des Manifests überzogen wieder vom Regime gestartete antisemitischen Pogrome die Bereiche der jüdischen Bevölkerung. Nationale Aufstände in Polen, dem Baltikum und Kaukasusgebieten wurden mit militärischer Härte niedergeschlagen. Ende November wurde der Vorsitzende des Petrograder Sowjet verhaftet, dessen Sitz nun Trotzki für die letzte Zeit übernahm. Anfang Dezember wurden dem Sowjet nahestehende Zeitungen verboten. In Moskau hatte der Sowjet eigene Milizen gebildet, die noch bis Mitte des Monats Widerstand leisten konnten. Durch die ungelöste Landfrage gab es nochmals im November und Dezember eine kurze Welle von Bäuer*innenaufständen, die letztlich aber ebenfalls niedergeschlagen werden konnten. Ende des Jahres war die Initiative wieder auf die Seite der alten Herrschaft übergegangen.
Was bleibt von 1905?
Sehr viel, nicht umsonst wird die Revolution auch als Generalprobe für 1917 bezeichnet. Wir können das aber ohne Probleme auf alle sozialen und kolonialen Revolutionen bis heute ausdehnen. Trotzki formulierte aufgrund seiner Erfahrung die Theorie der Permanenten Revolution mit dem Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung, auf das wir schon eingegangen sind. Lenin drängte die Bolschewiki zu Änderungen und scharfen Anpassungen in Ihrer Revolutionstheorie und ermöglichte damit einen Weg zu den April-Thesen 1917. Lenin schrieb dazu selbst im April 1917:
(…) die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im Allgemeinen durch die Geschichte vollkommen bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet, als ich (oder sonst jemand) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter (…) Diese Tatsache nicht beachten, sie vergessen, hieße, es jenen „alten Bolschewiki" gleichtun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie gedankenlos die auswendig gelernte Formel wiederholen, anstatt die Eigenart der neuen, lebendigen Wirklichkeit zu analysieren. (…)
Jetzt gilt es, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, dass der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muss, und sich nicht an die Theorie von gestern klammern darf, die wie jede Theorie bestenfalls lediglich das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt, die ganze Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfasst.
(Quelle: Lenin Briefe zur Taktik im April 1917)
Rosa Luxemburg verfolgte das ganze Jahr über gespannt die Entwicklungen in Russland und speziell im von Russland besetzten Polen. Ende 1905 ging sie nach Polen, wo die revolutionäre Bewegung und Aufstände noch bis 1907 anhielten. Im Gegensatz zur Führung der 2. Internationale und der SPD erkannte sie das Potential von Massenbewegungen für das sprunghafte Ansteigen des Bewusstseins. Schulung und Aufklärung ist gut und wichtig, aber nicht das stetige Weiterorganisieren in Partei und Gewerkschaft schafft ein revolutionäres Bewusstsein, sondern die Teilnahme an Massenbewegungen. Der Massenstreik – wie die Generalstreiks in Russland und Polen – erweckt also die Arbeiter*innen als Klasse zum Leben und lähmt gleichzeitig die Staatsgewalt. Die Regierung wird so zunehmend handlungsunfähig und neue geschaffene Institutionen wie die Sowjets können diese Machtvakuum hin zur einer Doppelherrschaft ausfüllen. Wie aber 1905 gezeigt hat, besteht hier die Gefahr, dass die Revolution in der Doppelherrschaft stecken bleibt und letztlich gegenüber der Reaktion zurückfällt. Das Verhältnis von revolutionärer Situation und revolutionärer Partei wurde oft treffend als “Geburtshelferin” der Revolution beschrieben. Es braucht keine revolutionäre Partei für revolutionäre Situationen, aber es braucht sie, um aus einer solchen den nächsten Schritt in Richtung Sozialismus und Überwindung der Doppelherrschaft zu Gunsten der Revolution zu gehen. Das ist eine der unmittelbarsten Lehren aus der Revolution von 1905. Leo Trotzki hat sie 1906 in seiner Theorie der Permanenten Revolution gezogen, Lenin letztlich in den Aprilthesen 1917 und Rosa Luxemburg mit der Massenstreikdebatte in der 2. Internationale und deutschen Sozialdemokratie, die sie zum Bruch mit dem sogenannten “Marxistischen Zentrum” um Karl Kautsky führte.
Sie waren einige der Wenigen, die die Flexibilität besaßen, Theorien rasch anhand von Bewegungen und Ereignissen zu überprüfen, anzupassen und notfalls auch durch Geeignetere zu ersetzen. Sie waren damit nicht, wie viele spätere Stalinist*innen oder Sozialdemokrat*innen dazu verurteilt, wie die von Lenin zitierten "alten Bolschewiki“ auswendig gelernten Phrasen an neue Gegebenheiten anzuwenden statt sie daran anzupassen.
Das tun zu können, ist eine der wesentlichsten Bedingungen für Revolutionär*innen und eine unmittelbare Lehre aus der Revolution von 1905. Es wäre ein weiterer Artikel, um auf die internationale Bedeutung der Revolution von 1905 vor allem in Europa einzugehen. Die ganze marxistische Revolutionstheorie des 20., und es gibt für uns keinen Grund zu zweifeln, auch des 21. Jahrhunderts, fußt mit mindestens einem Bein in den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905.