Do 08.10.2020
Seit Anfang August und der Bekanntgabe des verfälschten Wahlergebnisses, das Alexandr Lukaschenko zum Sieger erklärt hat, haben Massenproteste Belarus erschüttert. Die Demonstranten sind auf Gewalt, Repression und Verhaftungen gestoßen. Es kam zu einem Wendepunkt, der das Polizeiregime gezwungen hat sein gewaltsames Vorgehen einzustellen, als Arbeiter in über hundert Fabriken Streikkomitees gründeten und Streiks ausriefen. Einer der stärksten Streiks fand in Belaruskali in der Stadt Soligorsk statt, wo die Bergarbeiter ein Fünftel des weltweiten Kalisalzes produzieren. Daraufhin wurden fünf Mitglieder des Streikkomitees verhaftet und ins Gefängnis geworfen: Anatoli Bokun, Jurij Korzun, Sergej Tscherkassow, Sergej Taras und Pawel Puchenja.
ISA sprach mit Petr Pechkurov vom Streikkomitee
Am 14. August trafen sich die Beschäftigten Mine 1 und stellten eine Liste mit Forderungen auf. Später am Abend versammelten sich dann Arbeiter aus dem gesamten Unternehmen zusammen mit Anwohnern vor dem Hauptsitz von Belaruskali, um dem Generaldirektor unsere Forderungen zu unterbreiten und ihn zu warnen, dass wir einen Streik ausrufen würden, falls sie bis zum 17. August nicht erfüllt würden. Zu diesem Zeitpunkt waren an allen Standorten des Unternehmens Streikkomitees gebildet worden, Anatoly Bokun wurde zum Präsidenten des Streikkomitees des Bergwerks Nr. 1 und zum gemeinsamen Präsidenten des gesamten Streikkomitees gewählt. Er wurde zum öffentlichen Gesicht des Streiks.
Die Forderungen des Streikkomitees lauten:
- sofortiges Ende der Polizeigewalt;
- den Rücktritt von Lukaschenko;
- die Bestrafung derjenigen, die die Wahlergebnisse gefälscht haben;
- die Freilassung aller politischen Gefangenen und ihre volle Rehabilitierung;
- Bestrafung derjenigen, die für den Angriff auf friedliche Demonstranten auf den Straßen und in den Gefängnissen verantwortlich sind, sowie der Richter, die abgekarteten Anklagen zugestimmt haben.
Unmittelbar nach Beginn des Streiks fiel die Produktion auf 10%. Sofort begann die Unternehmensleitung damit, den Streikenden mit Entlassungen, dem Verlust von Prämien, strafrechtlicher Verfolgung und einer Klage auf Schadensersatz zu drohen. Sie versuchten, andere davon zu überzeugen, sich dem Streik nicht anzuschließen, aber bis zum 18. hatten wir über 6.000 Unterschriften gesammelt. Am 20. begannen echte Repressionen.
Dmitrij Kudelewitsch, ein Mitglied des Streikkomitees, reagierte nicht mehr auf Aufrufe. Später erklärte er, er sei vom KGB - der wurde nie umbenannt - verhaftet worden, aber es sei ihm gelungen zu entkommen und in die Ukraine zu fliehen. In Oslo lebende belarussische Unterstützer demonstrierten vor dem Hauptquartier von YARA International, dem größten Kunden von Belaruskali. Zur gleichen Zeit bat die weltweite Gewerkschaftsföderation IndustriALL und die Belarussische Unabhängige Gewerkschaft ihre Mitglieder in Norwegen sich einzubringen und baten Yara, ihre Geschäftspartner in Belarus zu Verhandlungen einzuladen.
Am nächsten Tag verschwanden Alesya und Wladimir Loginow, Mitglieder des Streikkomitees. Sie waren von der Polizei in Soligorsk verhaftet worden. Die Polizei blockierte das Auto von Anatoliya Bokun, der grade durch die Stadt fuhr, und nahmen ihn unter falschen Anschuldigungen fest. Der Druck der Polizei auf ein anderes Streikkomiteemitglied, Pawel Setschko, zwang ihn, aus dem Komitee zurückzutreten. Am 23. wurde Roman Leonchika vor seinem Haus verhaftet.
Die meisten Beschäftigten, die an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten, stellten fest, dass die Versprechen der Unternehmensleitung gebrochen worden waren - ihre Jahresprämien wurden gestrichen und etliche wurden entlassen. Am 24. August rief das Streikkomitee diejenigen, die an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt waren, "Dienst nach Vorschrift" zu betreiben und alle Sicherheits- und Hygieneanweisungen zu befolgen. Wir erhielten die Information, dass 20 Streikende entlassen werden sollten. Darunter befanden sich viele Mitglieder des Streikkomitees.
Am 31. August wurde Anatoly Bokun erneut verhaftet und diesmal für 15 Tage ins Gefängnis gesteckt. Vor Gericht teilte er dem Richter mit, dass er an einer chronischen Lungenkrankheit litt, aber er wurde in ein Untersuchungsgefängnis geschickt, wo er ohne Schuhe auf einem kalten Betonboden zurückgelassen wurde. Er wurde entlassen, weil er der Arbeit fernblieb.
Diese Vorgehensweisen sind typisch für das, was bis Mitte September passierte und sich dann verschlimmerte. Am 9. und 10. September wurden die Führer der Arbeiter zu einer "Diskussion" in die "Abteilung für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen und Korruption" eingeladen. Während ihres Besuchs wurden sie vor dem 'Gesetz gegen Terrorismus und dem gewaltsamen Sturz der Regierung' gewarnt. Die Behörden setzen nun einen friedlichen Streik mit "Terrorismus" gleich.
Trotz all dieser Drohungen protestieren die Arbeiter weiterhin. Am 10. September ging Juri Korzuna in das Bergwerk und fesselte sich bei 305 Metern Tiefe mit Handschellen an die Bergbauausrüstung. Er fügte den oben genannten Forderungen seine eigenen hinzu, darunter die Freilassung aller verhafteten Mitglieder des Streikkomitees und ein Ende der Repression gegen streikende Bergarbeiter. Er wurde bedroht und gewaltsam aus dem Bergwerk entfernt und in einen Krankenwagen gesteckt. Eine Kolonne von Fahrzeugen zur Unterstützung folgte ihm ins Krankenhaus.
Nun erhielten die Verhafteten längere Haftstrafen. Der Autor dieses Artikels erhielt sieben Tage für die Unterstützung von Juri Korzuna. Dann wurde der ehemalige Vorsitzende der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft Sergej Tscherkasow nach Teilnahme an einem friedlichen Protest für 15 Tage in den Knast geschickt. Roman Leontschik wurde ebenfalls verurteilt. Alekcandr Novik und Pavel Puchenya droht ein Monat Gefängnis, weil sie wegen Teilnahme an friedlichen Protesten zweimal angeklagt wurden. Ein weiterer Bergarbeiter, Oleg Kudyelka, beschloss sich selbst unter Tage Handschellen anzulegen. Er wurde entlassen und "zur Beobachtung" in eine psychiatrische Klinik gebracht. 22 Bergleute, die ihn unterstützten, wurden verhaftet. Diesmal wurde Anatoly Bokun zu 25 Tagen Haft verurteilt.
Am 3. Oktober kam es zur Massenverhaftung von Personen, die an einer "Teetrinker-Party" in einem der Stadtparks teilnahmen. Unter ihnen erhielten die Mitglieder des Streikkomitees Nina Tulaeva und Aleksey Kryzh hohe Geldstrafen, Yuri Korzun, Sergey Cherkasov und Pavel Puchenya wurden zu 7 bis 15 Tagen Gefängnis verurteilt.
Die Behörden haben keinen Ausweg aus dieser Krise. Ihre einzige Antwort ist grobe Repression. Nach den ersten Tagen, in denen es bösartige Angriffe der Bereitschaftspolizei gab, wurden sie durch unseren Streik zum Rückzug gezwungen. Dann fingen sie an, Menschen vor Gericht zu bringen und sie für die Teilnahme an Protesten zu bestrafen. Als sie merkten, dass die Leute die Geldstrafen nicht bezahlen würden, begannen sie damit, Leute ins Gefängnis zu stecken. Jedes Mal benutzten sie dieselben Methoden, dieselben Zeugen, in der Regel die Polizei und ohne Rücksicht darauf, ob die Fälle gerechtfertigt sind oder nicht.
Natürlich gibt es immer noch eine Schicht von Menschen, die sich nicht für die Politik interessieren. Und unterschiedliche Haltungen gegenüber Swetlana Tichanowskaja. Einige sind der Meinung, dass sie als Präsidentin anerkannt werden sollte. Aber die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen traut ihr nicht. Deshalb war der Streik notwendig, ein Streik, der sich spontan entwickelt hat. Infolge dieser Aktionen sind die Massen stärker politisiert worden, und viele verstehen jetzt, dass Tichanowskaja nur ein sprechender Kopf ist. Wenn es uns jetzt gelingt, unsere Botschaft zu vermitteln, den Arbeitnehmern zu erklären, warum und wofür wir kämpfen müssen, könnten wir meiner Meinung nach noch mehr Streiks erreichen.
Wir brauchen jetzt einen Streik in allen Fabriken und an allen Arbeitsplätzen, das würde den Arbeitern ein für alle Mal zeigen, dass wir die Macht haben, dass wir auf unsere Forderungen und Rechte bestehen können. Wir sind davon überzeugt, dass bei einem solchen landesweiten Streik auch die Polizei und die Armee auf die Seite des Volkes wechseln würden.
Und wir fordern die sofortige Freilassung aller Personen, die bei friedlichen Protesten verhaftet wurden, ein Ende der Repressionen - es ist uns nicht einmal erlaubt Treffen mit Arbeitern zu organisieren, um unsere Position zu erklären, ohne verhaftet zu werden. Wir fordern die sofortige Freilassung unserer Genossen Anatoly Bakun, Juri Korzun, Sergej Tscherkassow, Sergej Taras und Pawel Puchenja.
ISA bittet alle Unterstützer die Streikenden zu unterstützen
1: Indem sie beim Generaldirektor Ivan Golovaty protestieren und fordern, dass Belaruskali alle entlassenen Beschäftigten wieder einstellt, Boni zahlt und alle diskriminierenden Maßnahmen gegen Beschäftigte einstellt, die gegen das autoritäre Regime protestieren.
Er kann unter I.Golovaty@kali.by und Belaruskali.office@kali.by kontaktiert werden.
oder telefonisch unter +375 17 426 01 11 oder +375 17 426 20 20 erreicht werden.
Kopien dieser Proteste können an Cira Holm, Chief Ethics Compliance Officer bei Yara International unter Cira.Holm@yara.com oder direkt an die Ethik-Hotline von Yara International am Ende der Seite https://www.yara.com/this-is-yara/ethics-and-compliance/contact-us/ geschickt werden.
2: Indem Sie bei der belarussischen Botschaft in Ihrem Land protestieren, um die sofortige Freilassung aller Verhafteten zu fordern, insbesondere der Mitglieder des belarussischen Streikkomitees Anatoli Bakun, Jurij Korzun, Sergej Tscherkasow, Sergej Taras und Pawel Puchenja. Die Kontaktdaten sind auf der Website des belarussischen Außenministeriums unter https://mfa.gov.by/en/ministry/ zu finden.
3: Durch das Senden von Fotos und Solidaritätsbotschaften an das Streikkomitee unter stackombelaruskalij@gmail.com mit Kopien an rodkille@gmail.com
Auszug Flugblatt
Auszüge aus einem vom Streikkomitee erstellten Faltblatt
"Gorbaty (Generaldirektor) und seine Mitläufer tun alles, um für sich und ihre Familien so viel Gewinn wie möglich aus uns herauszuquetschen. Alles womit sie euch zurücklassen, ist Geld für Medikamente.
Die Liste der Krankheiten, an denen Bergleute leiden, ist lang, und wenn sie früher als berufsbedingt galten, ist es doch unmöglich das zu beweisen. Lohnt es sich überhaupt zu kämpfen, da viele von euch nicht bis zu ihrer Rente leben werden, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung eines Bergarbeiters 46,5 Jahre beträgt?
Der Staat quetscht aus uns heraus, was er kann, und dann wirft er uns einfach weg. Sie werden nicht einmal die mickrige Rente zahlen müssen. Aber dann haben die Schreibtischtäter ihre Luxuswohnungen und -häuschen, und der Schnurrbärtige allein hat 18 Wohnungen!
Aber "was kann ich ändern", fragt ihr? Alles! Aber nur, wenn ihr aufhört still zu sein oder euch nur in der Zigarettenpause bei euren Kumpels beschwert. Nur wenn wir anfangen für unsere Rechte einzutreten, wie wir es am 17. und 18. August getan haben.
Erinnert euch, wie all die Bürokraten und Schmarotzer anfingen herumzulaufen. Erinnert euch, wie der König mit dem Schnurrbart Angst hatte!
Sie machen uns Angst indem sie sagen, wenn wir nicht an die Arbeit zurückkehren, wird es uns wie der Ukraine ergehen. Aber während Maidan im Jahr 2015 gab es keinen einzigen Streik. Das Ergebnis ist, dass im Jahr 2019 der Durchschnittslohn eines Bergarbeiters 15.000 Griwna (~ 450€) beträgt. Jetzt müssen die Bergleute streiken, weil sie nicht genug haben, um sich zu ernähren - fünf Monate lang wurden sie nicht bezahlt. Damals haben sie geschwiegen, jetzt müssen sie kämpfen.
Wenn ihr glaubt, dass das hier nicht passieren wird - ein neues Gesetz, das die verspätete Auszahlung der Löhne erlaubt, ist gerade verabschiedet worden. Besser jetzt handeln.
Sonst werden wir mit diesem Regime bis zum Ende des Wegs gehen müssen - wir werden nicht lange warten brauchen, bis wir mit der Russischen Föderation verbunden sind - der Schnurrbärtige hat keinen anderen Ausweg.
Glauben Sie, dass das gut sein wird? Im Jahr 2019 verdiente ein Arbeiter in einem dortigen Bergbauunternehmen 43-45.000 Rubel (~490 €).
Wenn wir uns jetzt nicht in die Politik einmischen, dann wird sich die Politik bei uns einmischen!
... Schließt euch dem Kampf an, Freunde. Lasst nicht zu, dass der Onkel (=Putin) unser Land verkauft! Niemand sagt, dass wir aufstehen und Tichanowskaja küssen sollen, wir wissen nicht einmal, was sie wirklich will. Aber wenn wir friedlich zusammenstehen, dann werden wir wissen, was zu tun ist, wenn diese Dame plötzlich beschließt, etwas anderes zu tun, als neue, freie und faire Wahlen zu organisieren!"