Mi 30.01.2013
Die Journalistin Laura Himmelreich wollte lieber nicht mit Brüderle das Tanzbein schwingen. Sie löst mit ihrer Kritik an den sexistischen Bemerkungen des FDP-Spitzenkandidaten Brüderle in einem Artikel für den Stern eine breite Debatte über Sexismus aus. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Während ein Teil der (vor allem männlichen) Journalisten und Politiker sich nun über die Journalistin des Stern beklagen („Warum hat sie das nicht vor einem Jahr gesagt!!!“) und andere wie Günther Jauch und Hellmuth Karasek in der Jauch-Talkrunde am 27. Januar versuchen, ein gesellschaftliches strukturelles Phänomen zu einem individuellem Problem von Frauen umzudeuten, treffen die Beschreibungen der Stern-Reporterin den Nerv von Zehntausenden Frauen. Seit Tagen twittern sie nun unter #Aufschrei ihre eigenen Erlebnisse mit Sexismus am Arbeitsplatz, in der Schule, im Freundeskreis.
Welche Frau kennt das nicht? Bemerkungen wie die Brüderles, die Frauen auf ihr Äußeres reduzieren und sexuell anzüglich sind? Wenn frau darauf reagiert und sich zur Wehr setzt, wird sie als unentspannt oder als rückwärtsgewandte Emanze dargestellt, die nun mal keinen Spaß verstehe. Wenn Frauen wie Laura Himmelreich ein Jahr später darüber schreiben, werden sie beschimpft, dass sie sich mal früher hätten ordentlich wehren sollen. Ja, was denn nun?
Wie oft ertragen Frauen täglich mehrfach solche Sprüche und verkneifen sich jeden Kommentar. Laura Himmelreich hat mit ihrem Artikel im Stern nun etlichen Frauen aus der Seele gesprochen und der täglichen Demütigung Öffentlichkeit verschafft. Dabei ist es zweitrangig, ob sie ihre Äußerungen hätte früher machen sollen und ob der Chef des Sterns versucht, sie zu instrumentalisieren. Entscheidend und richtig ist, dass sie es getan hat.
Ursachen von Sexismus
Der Versuch von Jauch und vielen anderen, den Spieß umzudrehen und die Frauen selbst verantwortlich zu machen, lenkt von den Ursachen von Sexismus ab. Sexismus bedeutet Benachteiligung aufgrund von Geschlecht und ist ein altes gesellschaftliches Phänomen, welches historisch während der Entwicklung der ersten Klassengesellschaften entstanden ist. Es ist kein Zufall, dass Frauen in Deutschland im Durchschnitt 24 Prozent weniger verdienen. Es ist kein Zufall, dass Frauen weiterhin doppelt so viel Stunden Hausarbeit verrichten als Männer, selbst wenn beide Vollzeit arbeiten. Es ist kein Zufall, dass Frauen die Hauptlast der Kindererziehung tragen.
Die soziale Schlechterstellung von Frauen im Arbeitsleben und die kostenlose Pflege von älteren Familienangehörigen und der Kindererziehung zu Hause durch Frauen ist im Interesse von Arbeitgebern und der Regierung. Sie profitieren davon. In vielen Ländern Südeuropas, die von der kapitalistischen Krise gebeutelt sind, trifft die Krise besonders Frauen. Sie verlieren ihre Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst. Sie leiden unter den Kürzungen der Öffentlichen Daseinsvorsorge, wenn vormals öffentliche Aufgaben zurück in die Familie verlagert werden.
Sexismus in neuem Gewand
Nichtsdestotrotz wurden in den letzten vierzig Jahren viele Errungenschaften von der Frauen- und Arbeiterbewegung erkämpft. Frauen sind in vielen Bereichen Männern rechtlich gleichgestellt. Das ist ein Grund, warum heute viele Männer und Frauen auf die Sexismusvorwürfe gegen Brüderle mit Unverständnis reagieren. Sie meinen, die Benachteiligung von Frauen gäbe es heute nicht mehr.
Richtig ist, dass sie in Deutschland rechtlich nur noch in einigen Bereichen existiert (Ehegattensplitting etc), aber die soziale Benachteiligung in alter Tradition weiter fortbesteht. Doch nicht nur das: Auch Gewalt gegen Frauen ist alles andere als ein indisches Phänomen, sondern findet tagtäglich in deutschen Schlafzimmern, Küchen, Bars, Clubs und Straßen statt. Zudem hat die Darstellung von Frauen als Sexobjekte in Werbung und Medien und die Pornographisierung weiblicher Sexualität massiv zugenommen. Das hat eine nicht zu unterschätzende Rückwirkung auf das Bewusstsein und die Einstellung von Männern gegenüber Frauen und selbst ihren Partnerinnen. So erscheint der Sexismus teilweise in neuem Gewand, der Mechanismus ist jedoch derselbe. Warum gibt es keinen Aufschrei, wenn Tele 5 eine Sendung namens „Who wants to fuck my girlfriend?“ schaltet?
Die Zuschreibung von weiblichen Rollen fängt immer früher an: Die Pinkisierung von Mädchen-Kinderzimmern ist besorgniserregend. In Berlin entsteht ein Barbie-Dreamhouse und es werden Mädchen-Überraschungseier auf den Markt gebracht.
Eine ganze Schicht, vor allem von jungen Frauen wurde in den letzten Jahren immer wieder suggeriert, sie hätten dieselben Chancen wie Männer im Beruf und an der Universität, Karriere zu machen. Sie realisieren nun, dass sie weiterhin eine Doppelbelastung tragen, wenn Kinder dazu kommen oder dass sie von ihrem Chef nicht gleich behandelt werden. Es sind diese jungen Frauen, die ein neues Bewusstsein für Ungleichheit entwickeln. Anne Wizorek, die mit ihrem hashtag #Aufschrei diesen Frauen ein Gesicht gab, wurde von Jauch, Karasek und Wibke Bruhns in der Jauch-Sendung erstmal ordentlich in die Mangel genommen.
„Hat Deutschland ein Sexismusproblem?“
… so war die Talkrunde von Günther Jauch betitelt. Am Ende wussten viele Frauen, dass „Deutschland“ nicht nur ein Sexismus- sondern auch ein Günther-Jauch-Problem hat. O-Ton Jauch: „Frau Schwarzer, Sie haben mich schon wieder enteiert.” Oder: „Soll man einer Frau noch auf den Busen gucken?“ Antwort Karasek: „Ja, das soll man sogar.“
Die ehemalige Nachrichtensprecherin Wibke Bruhns tat die 60.000 Einträge auf #Aufschrei einfach ab. Frauen seien keine Opfer und sollten sich mal richtig zur Wehr setzen. Für die Bemerkung, dass es bei Sexismus um ein gesellschaftliches Machtverhältnis gehe und die Frage wie sich eine Angestellte denn am besten gegen die sexistischen Sprüche ihres Chefs wehren sollte, hatte sie nur ein müdes Lächeln übrig. Bruhns, Karasek und Jauch negieren, dass Sexismus ein gesellschaftliches Problem ist und tragen zur Verharmlosung von Sexismus bei.
Aber gerade weil Sexismus gesellschaftliche Ursachen hat, reicht es nicht aus, Frauen individuell den Rücken zu stärken und beispielsweise in Gewerkschaftsseminaren schlagfertige Reaktionen gegenüber sexistischen Sprüchen von männlichen Kollegen und Vorgesetzten zu trainieren. Das ist gut. Es packt das Problem aber nicht an der Wurzel.
So lange die soziale Benachteiligung von Frauen fortexistiert und wir in einem System leben, in dem eine herrschende Klasse ein Interesse an der Spaltung in Alt und Jung, Mann und Frau, Nichtdeutsche und Deutsche hat, wird auch Sexismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung und Spaltung fortexistieren. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht heute gegen jede Form von Sexismus wehren sollten. Denn es wäre zu schön, wenn wir nur ein Günther-Jauch-Problem hätten.