Was sie dir über Verschwörungstheorien verschweigen!

Im Kapitalismus ist die Wahrheit noch irrer als jede Verschwörungstheorie.
Oliver Giel

Verschwörungstheorien gibt es schon lange. Zu den frühesten zählen die Theorien rund um Kaiser Nero und den Brand in Rom im Jahr 64. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Warenproduktion im 15. und 16. Jahrhundert nahmen sie jedoch bedeutend an Fahrt auf. Einerseits lag das an der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, andererseits an der Veränderung des politischen und ökonomischen Lebens. Waren vorher Wirtschaft, Recht usw. an persönliche Beziehungen geknüpft, wurden die Verhältnisse immer abstrakter: Der Austausch der Produkte wurde vermittelt über Geld, die Rechtsprechung über allgemeines verschriftlichtes Recht (was die meisten Menschen nicht lesen konnten). Produziert wurde mehr und mehr für den anonymen Markt.

Damit entstand eine vollkommen neue Art von Verschwörungstheorie: Die Verschwörungsideologie, die Vorstellung, nicht nur konkrete unerklärliche Ereignisse wären ein Ergebnis bewusster menschlicher Planung, sondern die gesamte Geschichte sei das Resultat der bewussten Planung kleiner, anonymer Gruppen.

Die erste und gleichzeitig am hartnäckigsten sich haltende Ideologie dieser Art ist der Antisemitismus. Mit dem Beginn des Kapitalismus wurden Jüd*innen nicht mehr nur aufgrund ihres „falschen“ Glaubens angefeindet, sondern ihnen wurden explizit politische, ökonomische und ethnische Eigenschaften zugeschrieben, darunter vor allem die unrechtmäßige Bereicherung durch die Geldwirtschaft. Auch andere bis heute beliebte Verschwörungsideologien wurzeln in der frühen Neuzeit, etwa die Mythen über Freimaurer und Jesuiten. Letztere hatten in katholischen Ländern ein faktisches Monopol auf Bildung, was mit dem sich entwickelten Nationalstaat in Widerspruch geraten musste, während die Freimaurerei eine Kaderschmiede für die damals noch revolutionäre Bourgeoisie bildete. Allen drei Gruppen ist eines gemeinsam: Sie sind international und an keine Staatsgrenzen gebunden. Verbunden mit für Außenstehende fremde Riten bilden sie ein ideales Objekt für eine Ideologie, die zur Welterklärung gleichzeitig anonyme und eindeutig bestimmbare Gruppen sucht.

Die Grundlage dafür liegt aber nicht in den Gruppen selbst, sondern in der Welt, die erklärt werden soll, genauer: In dem Widerspruch, der der kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegt. Zwar gibt es Herrschende und Beherrschte, aber die Herrschaft der Minderheit hat nicht, wie etwa die der Sklavenhalter*innen, den vorrangigen Zweck, die Bedürfnisse der Angehörigen dieser Minderheit zu befriedigen. Im Kapitalismus geht es vor allem darum, das Mittel der Herrschaft, das Kapital, zu vergrößern und zu diesem Zweck Arbeit und Natur auszubeuten. Die Kapitalist*innen selbst, gerade indem sie alle dieses gemeinsame Interesse verfolgen, treten einander in Konkurrenz gegenüber und versuchen, sich gegenseitig vom Markt zu verdrängen. Der Staat, der diese Gesellschaftsordnung aufrechterhält, setzt seine Machtmittel ein, um die Möglichkeiten für profitables Wirtschaften so gut wie möglich zu erhalten, und tritt dabei den anderen Staaten wiederum als Konkurrent gegenüber, gegen die er auch Machtmittel wie Geheimdienste und Militär, aber auch ökonomische Mittel einsetzt. Selbstverständlich werden dabei die übelsten Tricks angewandt – gegen die eigenen Konkurrent*innen und vor allem gegen jene, die dagegen aufstehen. Doch eine Weltregierung mit einem Masterplan ist in diesem Konkurrenzsystem unmöglich. Krankheiten, Krieg, Krise und anderes, was dem Plan einiger Verschwörer*innen zugeschrieben wird, sind gerade Ausdruck der ungeplanten Herrschaft und Wirtschaft.

Die Beliebtheit von Verschwörungstheorien ist Ausdruck des Wunsches, Sinn in diesem Unsinn zu finden – aber auch der Schwäche der Arbeiter*innenbewegung, die tatsächliche Antworten geben sollte. Gab es früher Massenorganisationen mit lebendigen Jugendstrukturen, in denen Unzufriedene schnell mit grundlegenden Aspekten marxistischer Theorie in Berührung kamen, so führen die Suchspalten von Google und Youtube heute eher zu wirren Verschwörungsideolog*innen.

Die Wahrheit über unsere Gesellschaft ist keine geheim gehaltene, die man nur auf YouTube-Kanälen oder von esoterischen Gurus zu hören bekommt. Sie offenbart sich in unserer konkreten und alltäglichen Erfahrung: Wir verkaufen unsere Arbeitskraft, um am von uns produzierten Reichtum teilhaben zu können. Denn in einer kapitalistischen Klassengesellschaft wird nicht nach Bedürfnissen produziert, sondern nach Profitinteressen, für Verwertung um der Verwertung willen. Und diese Wahrheit ist noch irrer als jede Verschwörungstheorie.

Doch es gibt auch eine gute Nachricht: In der von Verschwörungstheorien gezeichneten, von übermächtigen Freimaurern, Illuminaten oder Reptiloiden dominierten Welt bliebe uns wohl in der Tat nichts anderes übrig, als den Aluhut aufzusetzen. Tatsächlich bringt jedoch der Kapitalismus genau durch die Art, wie er über uns herrscht, auch die Voraussetzungen für seinen erfolgreichen Sturz hervor: Gegen Bosse können wir streiken. Regierungen können wir stürzen. Die Wirtschaft können wir dem Profitzwang entreißen und demokratisch planen.

 

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